Fünfte Rede

Viel der Artungen

[869] Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Sāvatthī, im Siegerwalde, im Garten Anāthapiṇḍikos. Dort nun wandte sich der Erhabene an die Mönche: »Ihr Mönche!« – »Erlauchter!« antworteten da jene Mönche dem Erhabenen aufmerksam. Der Erhabene sprach also:

»Jede Furcht, ihr Mönche, die da irgend ausbricht, bricht einzig vom Toren aus und nicht vom Weisen, jede Angst, die da irgend ausbricht, bricht einzig vom Toren aus und nicht vom Weisen, jeder Schreck, der da irgend ausbricht, bricht einzig vom Toren aus und nicht vom Weisen. Gleichwie etwa, ihr Mönche, vom Rohrdach oder vom Strohdach eines Hauses Feuer entflackert und schon den Giebel ergreift und Wand und Mauer und Türbalken und Fenstersparren: ebenso nun auch, ihr Mönche, bricht jede Furcht, die da irgend ausbricht, einzig vom Toren aus und nicht vom Weisen, bricht jede Angst, die da irgend ausbricht, einzig vom Toren aus und nicht vom Weisen, bricht jeder Schreck, der da irgend ausbricht, einzig vom Toren aus und nicht vom Weisen. So ist denn, ihr Mönche, furchtsam der Tor, furchtlos der Weise, ängstlich der Tor, angstlos der Weise, schreckhaft der Tor, schrecklos der Weise. Nicht kann, ihr Mönche, vom Weisen Furcht ausgehn, nicht kann vom Weisen Angst ausgehn, nicht kann vom Weisen Schreck ausgehn. Darum also, ihr Mönche: ›Weise wollen wir sein und Forscher‹: so habt ihr, Mönche, euch wohl zu üben387

Nach diesen Worten wandte sich der ehrwürdige Ānando also an den Erhabenen:

»Inwiefern aber kann man, o Herr, als Weisen einen Mönch und Forscher bezeichnen?«

»Sobald sich, Ānando, ein Mönch der Artungen kundig erweist, der Gebiete kundig erweist, der bedingten Entstehung kundig erweist, des Möglichen und Unmöglichen kundig erweist, kann man insofern, Ānando, als Weisen einen Mönch und Forscher bezeichnen.«

»Und inwiefern kann man, o Herr, als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen?«

»Achtzehn sind es, Ānando, der Artungen: Art des Auges, Art der Form, Art des Sehbewußtseins; Art des Ohres, Art des Tones, Art des Hörbewußtseins;[870] Art der Nase, Art des Duftes, Art des Riechbewußtseins; Art der Zunge, Art des Saftes, Art des Schmeckbewußtseins; Art des Leibes, Art der Tastung, Art des Tastbewußtseins; Art des Denkens, Art des Dinges, Art des Denkbewußtseins. Das sind, Ānando, achtzehn Artungen. Um deren Kenntnis und Verständnis kann man wohl insofern, Ānando, als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen.«

»Gibt es aber, o Herr, noch eine andere Weise, wie man als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen kann?«

»Freilich, Ānando. Sechs sind es, Ānando, der Artungen: Art der Erde, Art des Wassers, Art des Feuers, Art der Luft, Art des Raumes, Art des Bewußtseins. Das sind, Ānando, sechs Artungen. Um deren Kenntnis und Verständnis kann man auch insofern, Ānando, als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen.«

»Gibt es aber, o Herr, noch eine andere Weise, wie man als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen kann?«

»Freilich, Ānando. Sechs sind es, Ānando, der Artungen: Art der Freude, Art des Leides, Art des Frohsinns, Art des Trübsinns, Art des Gleichmuts, Art des Unwissens. Das sind, Ānando, sechs Artungen. Um deren Kenntnis und Verständnis kann man auch insofern, Ānando, als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen.«

»Gibt es aber, o Herr, noch eine andere Weise, wie man als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen kann?«

»Freilich, Ānando. Sechs sind es, Ānando, der Artungen: Art der Begehrung, Art der Entsagung, Art des Verabscheuens, Art des Geduldens, Art des Ingrimms, Art der Milde. Das sind, Ānando, sechs Artungen. Um deren Kenntnis und Verständnis kann man auch insofern, Ānando, als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen.«

»Gibt es aber, o Herr, noch eine andere Weise, wie man als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen kann?«

»Freilich, Ānando. Drei sind es, Ānando, der Artungen: geschlechtliche Art, formhafte Art, formlose Art. Das sind, Ānando, drei Artungen. Um deren Kenntnis und Verständnis kann man auch insofern, Ānando, als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen388

»Gibt es aber, o Herr, noch eine andere Weise, wie man als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen kann?«

»Freilich, Ānando. Zwei sind es, Ānando, der Artungen: zusammengesetzte Art und nicht zusammengesetzte Art. Das sind, Ānando, zwei Artungen. Um deren Kenntnis und Verständnis kann man auch insofern, Ānando, als der Artungen kundig einen Mönch bezeichnen.«

»Inwiefern aber kann man, o Herr, als der Gebiete kundig einen Mönch bezeichnen?«

[871] »Sechs sind es wieder, Ānando, der Innen- und Außengebiete: das Auge und die Formen, das Ohr und die Töne, die Nase und die Düfte, die Zunge und die Säfte, der Leib und die Tastungen, das Denken und die Dinge. Das sind, Ānando, die sechs Innen- und Außengebiete. Um deren Kenntnis und Verständnis kann man wieder insofern, Ānando, als der Gebiete kundig einen Mönch bezeichnen389

»Und inwiefern kann man, o Herr, als der Bedingten Entstehung kundig einen Mönch bezeichnen?«

»Da hat, Ānando, ein Mönch diese Kenntnis: ›Wenn Jenes ist wird Dieses, durch die Entstehung von Jenem entsteht Dieses; wenn Jenes nicht ist wird Dieses nicht, durch die Auflösung von Jenem wird Dieses aufgelöst. Und zwar: aus Unwissen entstehn Unterscheidungen, aus Unterscheidungen entsteht Bewußtsein, aus Bewußtsein entsteht Bild und Begriff390, aus Bild und Begriff entsteht sechsfaches Gebiet, aus sechsfachem Gebiet entsteht Berührung, aus Berührung entsteht Gefühl, aus Gefühl entsteht Durst, aus Durst entsteht Anhangen, aus Anhangen entsteht Werden, aus Werden entsteht Geburt, aus Geburt gehn Altern und Sterben, Schmerz und Jammer, Leiden, Trübsal, Verzweiflung hervor: also kommt dieses gesamten Leidensstückes Entwicklung zustande. Ist aber eben Unwissen ohne Reiz, ohne Überrest aufgelöst lösen sich Unterscheidungen auf, sind Unterscheidungen aufgelöst löst sich Bewußtsein auf, ist Bewußtsein aufgelöst löst sich Bild und Begriff auf, ist Bild und Begriff aufgelöst löst sich sechsfaches Gebiet auf, ist sechsfaches Gebiet aufgelöst löst sich Berührung auf, ist Berührung aufgelöst löst sich Gefühl auf, ist Gefühl aufgelöst löst sich Durst auf, ist Durst aufgelöst löst sich Anhangen auf, ist Anhangen aufgelöst löst sich Werden auf, ist Werden aufgelöst löst sich Geburt auf, ist Geburt aufgelöst lösen sich Altern und Sterben, Schmerz und Jammer, Leiden, Trübsal, Verzweiflung auf: also kommt dieses gesamten Leidensstückes Auflösung zustande.‹ Insofern kann man, Ānando, als der Bedingten Entstehung kundig einen Mönch bezeichnen.«

»Und inwiefern kann man, o Herr, als des Möglichen und Unmöglichen kundig einen Mönch bezeichnen?«

»Da weiß, Ānando, ein Mönch: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß ein erkenntnisbegabter Mensch irgendeine Unterscheidung als unvergänglich angehn mag: ein solcher Fall kommt nicht vor391‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß der gemeine Mensch irgendeine Unterscheidung als unvergänglich angehn mag: ein solcher Fall kommt vor.‹ Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß ein erkenntnisbegabter Mensch irgendeine Unterscheidung als erfreulich angehn mag: ein solcher Fall kommt nicht vor392‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß der gemeine Mensch irgendeine [872] Unterscheidung als erfreulich angehn mag: ein solcher Fall kommt vor.‹ Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß ein erkenntnisbegabter Mensch irgendein Ding als eigen angehn mag: ein solcher Fall kommt nicht vor393‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß der gemeine Mensch irgendein Ding als eigen angehn mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß ein erkenntnisbegabter Mensch die Mutter oder den Vater des Lebens berauben mag: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß der gemeine Mensch die Mutter oder den Vater des Lebens berauben mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß ein erkenntnisbegabter Mensch einen Heiligen des Lebens berauben oder in übler Absicht das Blut eines Vollendeten vergießen mag: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß der gemeine Mensch einen Heiligen des Lebens berauben oder in übler Absicht das Blut eines Vollendeten vergießen mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß ein erkenntnisbegabter Mensch unter den Brüdern Zwietracht anstiften oder einen anderen Meister erwählen mag: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß der gemeine Mensch unter den Brüdern Zwietracht anstiften oder einen anderen Meister erwählen mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß in ein und derselben Weltordnung zwei Heilige, vollkommen Erwachte zugleich auftreten mögen: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß in ein und derselben Weltordnung ein Heiliger, vollkommen Erwachter auftreten mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß in ein und derselben Weltordnung zwei Könige als Erderoberer zugleich auftreten mögen394: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß in ein und derselben Weltordnung ein König als Erderoberer auftreten mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß das Weib einen Heiligen, vollkommen Erwachten oder einen König Erderoberer darstellen mag: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß der Mann einen Heiligen, vollkommen Erwachten oder einen König Erderoberer darstellen mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß das Weib Herrschaft über den Himmel, Herrschaft über die Natur, Herrschaft über die Geister erlangen mag395: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber [873] ist es wohl, daß der Mann Herrschaft über den Himmel, Herrschaft über die Natur, Herrschaft über die Geister erlangen mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß aus schlechtem Wandel in Werken, Worten oder Gedanken eine ersehnte, erwünschte, erfreuliche Ernte hervorgehen mag: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß aus schlechtem Wandel in Werken, Worten oder Gedanken eine unersehnte, unerwünschte, unerfreuliche Ernte hervorgehen mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß aus gutem Wandel in Werken, Worten oder Gedanken eine unersehnte, unerwünschte, unerfreuliche Ernte hervorgehen mag: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß aus gutem Wandel in Werken, Worten oder Gedanken eine ersehnte, erwünschte, erfreuliche Ernte hervorgehen mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß wer schlechten Wandel in Werken, Worten oder Gedanken angenommen eben daher, eben darum bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, auf gute Fährte, in himmlische Welt geraten mag: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß wer schlechten Wandel in Werken, Worten oder Gedanken angenommen eben daher, eben darum bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, auf den Abweg, auf schlechte Fährte, zur Tiefe hinab, in höllische Welt geraten mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Er weiß: ›Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß wer guten Wandel in Werken, Worten oder Gedanken angenommen eben daher, eben darum bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, auf den Abweg, auf schlechte Fährte, zur Verderbnis, in höllische Welt geraten mag: ein solcher Fall kommt nicht vor‹; er weiß: ›Möglich aber ist es wohl, daß wer guten Wandel in Werken, Worten oder Gedanken angenommen eben daher, eben darum bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, auf gute Fährte, in himmlische Welt geraten mag: ein solcher Fall kommt vor.‹

Insofern kann man, Ānando, als des Möglichen und Unmöglichen kundig einen Mönch bezeichnen.«


Nach dieser Rede wandte sich der ehrwürdige Ānando also an den Erhabenen:

»Erstaunlich, o Herr, außerordentlich, o Herr! Welchen Namen, o Herr, soll diese Darstellung führen?«

»Wohlan denn, Ānando, so bewahre diese Darstellung unter dem Namen Viel der Artungen, oder bewahre sie als die Vierfache Reihe, oder bewahre sie [874] als den Spiegel der Lehre, oder bewahre sie als die Trommel der Ewigkeit, oder bewahre sie als den Unvergleichlichen Siegeskampf396


Also sprach der Erhabene. Zufrieden freute sich der ehrwürdige Ānando über das Wort des Erhabenen.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 1, Zürich/Wien 41956, S. 869-875.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Chamisso, Adelbert von

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon