LXIV

Die Tragödie erregt eine bestimmte Empfindung und ist daher lyrisch

[271] Der Zustand einer bestimmten Empfindung ist also derjenige, auf welchen der tragische Dichter hinarbeitet, und[271] die Tragödie ist in so fern nur eine besondre, aber zugleich die höchste Gattung der lyrischen Poesie2: eine besondre, weil sie eine gewisse einzelne Empfindung zu erregen strebt; die höchste, weil sie diese Wirkung durch einen äusseren Gegenstand, durch die Darstellung einer Handlung erreicht.[272]

Da die Empfindung überhaupt in jeder dichterischen Stimmung so stark und so allgemein als möglich wirksam seyn muss; so hält man den Unterschied der beiden Gemüthszustände, welche den epischen und tragischen Dichter bilden, am besten daran fest, dass in jenem mehr das Object, in diesem zugleich stärker das Subject herrscht. In jenem suchen wir Gegenstände und verknüpfen sie zu einem Ganzen; obgleich diess Ganze nothwendig Eindrücke in uns zurücklässt, so heften wir uns weniger an ihnen, als an ihrer Ursache fest. In diesem beziehen wir, was wir sehen, unmittelbar auf unsre Empfindung, eine Neigung, eine Leidenschaft wird rege und sie bestimmt nun allein den Antheil, den wir an der Begebenheit nehmen, die sich vor unsern Augen abrollt. Daher geht in der Tragödie alles auf einen einzigen entscheidenden Punkt, gleichsam auf eine Spitze hin: der Gang ist nicht bloss ununterbrochen, sondern rasch, die Entscheidung ist plötzlich und abgebrochen, da hingegen in der Epopee alles gleichsam in sich zurückkehrt, immer einen geschlossenen Kreis durchläuft.

In der Tragödie herrscht immer Eine Art des Charakters, der Gesinnung, der Handlungsweise; wenn mehrere auftreten, so erscheinen sie im Kampf, jede will ihr Recht in dem Gemüthe des Zuschauers allein behaupten und alle lassen es am Ende auf Sieg oder Niederlage ankommen. In der Epopee erhebt ihr mannigfaltiges Entgegenwirken den Zuhörer über sie alle, statt ihn zum Theilnehmer an einer einzelnen Parthei zu machen und ihn selbst in den Kampf mit herabzuziehen. In der Epopee werden ferner nach einander alle Arten der Empfindung erregt: das Lächerliche und das Tragische, das Sanfte und das Erhabene, das Furchtbare und das Liebliche, alles steht harmonisch neben einander und wir umfassen und bewahren alles zugleich, d.h. unser Gemüth befindet sich in einer Lage, in welcher es keinem dieser Eindrücke ganz angehört, sondern eigentlich nur für alle Sinn hat, allen offen steht. Die Tragödie hat, wenn sie vollkommen ist, denselben Umfang der Töne, aber jeder füllt unsre Seele in[273] dem Augenblick, wo er erschallt, ganz und ungetheilt; sie wirken nicht neben, sie wirken nach einander, das Resultat ist kein Ganzes, worin alle diese Elemente zugleich vorhanden sind, es ist etwas Neues, bewirkt durch eine Reihe durch sie successiv hervorgebrachter Modificationen.

Die Epopee beschäftigt zwar zugleich unsre Sinne und unsre Empfindung; aber da sie uns überhaupt nur zur Beschauung und Betrachtung einladet, so lässt sie uns in verweilender und ruhiger Müsse. Die Tragödie reisst uns in ihren Gegenstand mit fort, zwingt uns zur Theilnahme an ihrer Handlung selbst. Die erstere nährt und bereichert daher unser Vermögen, unser Wesen im Ganzen; die letztere stählt vorzüglich die Fähigkeit, diess Vermögen auf einen einzelnen Punkt zu richten, unsre Kraft zum Entschluss und zur That. Die Epopee führt uns in die Welt hinaus, in eine freie, heitre und sonnichte Natur; die Tragödie drängt uns in uns selbst zurück und mit demselben Schwert, mit dem sie ihren Knoten zerhaut, trennt sie auch uns auf einen Augenblick von der Wirklichkeit und dem Leben, das sie uns überhaupt weniger zu lieben, als mit Muth zu entbehren lehrt.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 271-274.
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