LXXIV

Beweis des Gesagten durch ein Beispiel aus der Iliade

[292] Es kann schwerlich je eine grössere und mehr epische Situation gedacht werden, als die ist, mit welcher der dreizehnte Gesang der Ilias anhebt.

Zeus sitzt auf dem Gipfel des Ida. Er hat eben dem Waffenglück im Kampf bei dem Lager der Griechen eine andre Richtung gegeben, Hektorn und den Troern Ruhe verliehen. Jetzt wendet er sein Angesicht von diesen blutigen Scenen hinweg und blickt auf die friedlichen Völkerschaften der Thrakier und Hippemolgen, die, schuldlos und gerecht, nur von Milch leben und jede Gewaltthätigkeit scheuen. Wie ist es möglich, so grosse und erhabene Gegenstände in dasselbe Bild zusammenzufassen,[292] ohne schon seinen Stoff so glücklich gewählt zu haben, dass man zugleich Völkerschaften, die um das Schicksal der Welt kämpfen, Nationen, die ein friedliches und schuldloses Hirtenleben führen, und einen Gott der Götter darin antrift, der von dem Gipfel eines Berges beide überschaut, beide richtet und beherrscht, aber lieber und williger bei dem Anblick des Friedens, als auf dem Schauplatz der Ehrsucht und des Mordes verweilt.

Derselbe Gedanke, die beiden Extreme der menschlichen Natur, die heftige und unruhige Thätigkeit, mit welcher der Mensch immer nach etwas Neuem und Höherem strebt, und die stille Genügsamkeit, mit der er sich immer nur in demselben Kreise herumdreht und nur diesen mit Segen und Gedeihen zu erfüllen strebt, unmittelbar neben einander aufzustellen und sich selbst und den Leser zugleich zu der Höhe zu erheben, beide in ihren Verbindungen und mit ihnen, da die eine oder die andre alles enthalten muss, was Menschen zu denken und zu empfinden im Stande sind, die ganze Welt zu überschauen – liess sich gewiss auf sehr verschiedene Weise ausführen und muss sogar gewissermassen in dem Plan jedes epischen Dichters liegen; aber nie war es möglich, ihn auf eine mehr sinnliche, prächtige, erhabene und in jedem Verstande epische Weise darzustellen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 292-293.
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