III. Der Mensch ist von Natur böse

[680] Vitiis nemo sine nascitur. Horat.


Der Satz: der Mensch ist böse, kann nach dem Obigen nichts anders sagen wollen, als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewußt, und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen. Er ist von Natur böse, heißt so viel, als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet; nicht als ob solche Qualität aus seinem Gattungsbegriffe (dem eines Menschen überhaupt) könne gefolgert werden (denn alsdann wäre sie notwendig), sondern er kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurteilt werden, oder man kann es, als subjektiv notwendig, in jedem, auch dem besten, Menschen voraussetzen. Da dieser Hang nun selbst als moralisch böse, mithin nicht als Naturanlage, sondern als etwas, was dem Menschen zugerechnet werden kann, betrachtet werden, folglich in gesetzwidrigen Maximen der Willkür bestehen muß; diese aber, der Freiheit wegen, für sich als zufällig angesehen werden müssen, welches mit der Allgemeinheit dieses Bösen sich wiederum nicht zusammen reimen will, wenn nicht der subjektive oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit selbst, es sei, wo durch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt ist: so werden wir diesen einen natürlichen Hang zum Bösen, und, da er doch immer selbstverschuldet sein muß, ihn selbst ein radikales, angebornes (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen können.

Daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns, bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis[680] ersparen. Will man sie aus demjenigen Zustande haben, in welchem manche Philosophen die natürliche Gutartigkeit der menschlichen Natur vorzüglich anzutreffen hofften, nämlich aus dem sogenannten Naturstande: so darf man nur die Auftritte von ungereizter Grausamkeit in den Mordszenen auf Tofoa, Neuseeland, den Navigatorsinseln, und die nie aufhörende in den weiten Wüsten des nordwestlichen Amerika (die Kapt. Hearne anführt), wo sogar kein Mensch den mindesten Vorteil davon hat,10 mit jener Hypothese vergleichen, und man hat Laster der Rohigkeit, mehr als nötig ist, um von dieser Meinung abzugehen. Ist man aber für die Meinung gestimmt, daß sich die menschliche Natur im gesitteten Zustand (worin sich ihre Anlagen vollständiger entwickeln können) besser erkennen lasse: so wird man eine lange melancholische Litanei von Anklagen der Menschheit anhören müssen: von geheimer Falschheit, selbst bei der innigsten Freundschaft, so daß die Mäßigung des Vertrauens in wechselseitiger Eröffnung auch der besten Freunde zur allgemeinen Maxime der Klugheit im Umgange gezählt wird; von einem Hange, denjenigen zu hassen, dem man verbindlich ist, worauf ein Wohltäter jederzeit gefaßt sein müsse; von einem herzlichen Wohlwollen, welches doch die Bemerkung zuläßt, »es sei in dem Unglück unsrer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz mißfällt«; und von vielen andern unter dem Tugendscheine[681] noch verborgenen, geschweige derjenigen Laster, die ihrer gar nicht hehl haben, weil uns der schon gut heißt, der ein böser Mensch von der allgemeinen Klasse ist: und er wird an den Lastern der Kultur und Zivilisierung (den kränkendsten unter allen) genug haben, um sein Auge lieber vom Betragen der Menschen abzuwenden, damit er sich nicht selbst ein anderes Laster, nämlich den Menschenhaß, zuziehe. Ist er aber damit noch nicht zufrieden, so darf er nur den aus beiden auf wunderliche Weise zusammengesetzten, nämlich den äußern Völkerzustand in Betrachtung ziehen, da zivilisierte Völkerschaften gegen einander im Verhältnisse des rohen Naturstandes (eines Standes der beständigen Kriegsverfassung) stehen, und sich auch fest in den Kopf gesetzt haben, nie daraus zu gehen; und er wird dem öffentlichen Vorgeben gerade widersprechende und doch nie abzulegende Grundsätze der großen Gesellschaften, Staaten genannt,11 gewahr werden, die noch kein Philosoph mit der Moral hat in Einstimmung bringen, und doch auch (welches arg ist) keine bessern, die sich mit der menschlichen Natur vereinigen ließen, vorschlagen können: so daß der philosophische Chiliasm,[682] der auf den Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten, Friedens hofft, eben so wie der theologische, der auf des ganzen Menschengeschlechts vollendete moralische Besserung harret, als Schwärmerei allgemein verlacht wird.

Der Grund dieses Bösen kann nun 1) nicht, wie man ihn gemeiniglich anzugeben pflegt, in der Sinnlichkeit des Menschen, und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen gesetzt werden. Denn nicht allein, daß diese keine gerade Beziehung aufs Böse haben (vielmehr zu dem, was die moralische Gesinnung in ihrer Kraft beweisen kann, zur Tugend die Gelegenheit geben): so dürfen wir ihr Dasein nicht verantworten (wir können es auch nicht; weil sie als anerschaffen uns nicht zu Urhebern haben), wohl aber den Hang zum Bösen, der, indem er die Moralität des Subjekts betrifft, mithin in ihm, als einem frei handelnden Wesen angetroffen wird, als selbst verschuldet ihm muß zugerechnet werden können: ungeachtet der tiefen Einwurzelung desselben in die Willkür, wegen welcher man sagen muß, er sei in dem Menschen von Natur anzutreffen. – Der Grund dieses Bösen kann auch 2) nicht in einer Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft gesetzt werden: gleich als ob diese das Ansehen des Gesetzes selbst in sich vertilgen, und die Verbindlichkeit aus demselben ableugnen könne; denn das ist schlechterdings unmöglich. Sich als ein frei handelndes Wesen, und doch von dem, einem solchen angemessenen, Gesetze (dem moralischen) entbunden denken, wäre so viel als eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache denken (denn die Bestimmung nach Naturgesetzen fällt der Freiheit halber weg): welches sich widerspricht. – Um also einen Grund des Moralisch-Bösen im Menschen anzugeben, enthält die Sinnlichkeit zu wenig; denn sie macht den Menschen, indem sie die Triebfedern, die aus der Freiheit entspringen können, wegnimmt, zu einem bloß tierischen; eine vom moralischen Gesetze aber freisprechende, gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille) enthält dagegen zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder (denn ohne[683] alle Triebfeder kann die Willkür nicht bestimmt werden) erhoben, und so das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht werden würde. – Keines von beiden aber ist auf den Menschen anwendbar.

Wenn nun aber gleich das Dasein dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur, durch Erfahrungsbeweise des in der Zeit wirklichen Widerstreits der menschlichen Willkür gegen das Gesetz, dargetan werden kann, so lehren uns diese doch nicht die eigentliche Beschaffenheit desselben, und den Grund dieses Widerstreits; sondern diese, weil sie eine Beziehung der freien Willkür (also einer solchen, deren Begriff nicht empirisch ist) auf das moralische Gesetz als Triebfeder (worin der Begriff gleichfalls rein intellektuell ist) betrifft, muß aus dem Begriffe des Bösen, sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist, a priori erkannt werden. Folgendes ist die Entwickelung des Begriffs.

Der Mensch (selbst der ärgste) tut, in welchen Maximen es auch sei, auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht. Dieses dringt sich ihm vielmehr, kraft seiner moralischen Anlage, unwiderstehlich auf; und wenn keine andere Triebfeder dagegen wirkte, so würde er es auch als hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen, d.i. er würde moralisch gut sein. Er hängt aber doch auch, vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage, an den Triebfedern der Sinnlichkeit, und nimmt sie (nach dem subjektiven Prinzip der Selbstliebe) auch in seine Maxime auf. Wenn er diese aber, als für sich allein hinreichend zur Bestimmung der Willkür, in seine Maxime aufnähme, ohne sich ans moralische Gesetz (welches er doch in sich hat) zu kehren: so würde er moralisch böse sein. Da er nun natürlicherweise beide in dieselbe aufnimmt; da er auch jede für sich, wenn sie allein wäre, zur Willensbestimmung hinreichend finden würde: so würde er, wenn der Unterschied der Maximen bloß auf den Unterschied der Triebfedern (der Materie der Maximen), nämlich, ob das[684] Gesetz, oder der Sinnenantrieb eine solche abgeben, ankäme, moralisch gut und böse zugleich sein; welches sich (nach der Einleitung) widerspricht. Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der andern macht. Folglich ist der Mensch (auch der beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eins neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eins dem andern, als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzesmacht, da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte.

Bei dieser Umkehrung der Triebfedern durch seine Maxime, wider die sittliche Ordnung, können die Handlungen dennoch wohl so gesetzmäßig ausfallen, als ob sie aus echten Grundsätzen entsprungen wären: wenn die Vernunft die Einheit der Maximen überhaupt, welche dem moralischen Gesetze eigen ist, bloß dazu braucht, um in die Triebfedern der Neigung, unter dem Namen Glückseligkeit, Einheit der Maximen, die ihnen sonst nicht zukommen kann, hinein zu bringen (z.B. daß die Wahrhaftigkeit, wenn man sie zum Grundsatze annähme, uns der Ängstlichkeit überhebt, unseren Lügen die Übereinstimmung zu erhalten, und uns nicht in den Schlangenwindungen derselben selbst zu verwickeln); da dann der empirische Charakter gut, der intelligibele aber immer noch böse ist.

Wenn nun ein Hang dazu in der menschlichen Natur liegt, so ist im Menschen ein natürlicher Hang zum Bösen; und dieser Hang selber, weil er am Ende doch in einer freien[685] Willkür gesucht werden muß, mithin zugerechnet werden kann, ist moralisch böse. Dieses Böse ist radikal, weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch, als natürlicher Hang, durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen, weil dieses nur durch gute Maximen geschehen könnte, welches, wenn der oberste subjektive Grund aller Maximen als verderbt vorausgesetzt wird, nicht statt finden kann; gleichwohl aber muß er zu überwiegen möglich sein, weil er in dem Menschen als frei handelndem Wesen angetroffen wird.

Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist also nicht sowohl Bosheit, wenn man dieses Wort in strenger Bedeutung nimmt, nämlich als eine Gesinnung (subjektives Prinzip der Maximen), das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen (denn die ist teuflisch); sondern vielmehr Verkehrtheit des Herzens, welches nun, der Folge wegen, auch ein böses Herz heißt, zu nennen. Dieses kann mit einem, im allgemeinen guten Willen zusammen bestehen; und entspringt aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, zu Befolgung seiner genommenen Grundsätze nicht stark genug zu sein, mit der Unlauterkeit verbunden, die Triebfedern (selbst gut beabsichtigter Handlungen) nicht nach moralischer Richtschnur von einander abzusondern, und daher zuletzt, wenn es hoch kömmt, nur auf die Gemäßheit derselben mit dem Gesetz, und nicht auf die Ableitung von demselben, d.i. auf dieses, als die alleinige Triebfeder zu sehen. Wenn hieraus nun gleich nicht eben immer eine gesetzwidrige Handlung und ein Hang dazu, d.i. das Laster, entspringt: so ist die Denkungsart, sich die Abwesenheit desselben schon für Angemessenheit der Gesinnung zum Gesetze der Pflicht (für Tugend) auszulegen (da hiebei auf die Triebfeder in der Maxime gar nicht, sondern nur auf die Befolgung des Gesetzes dem Buchstaben nach, gesehen wird), selbst schon eine radikale Verkehrtheit im menschlichen Herzen zu nennen.

Diese angeborne Schuld (reatus), welche so genannt wird, weil sie sich so früh, als sich nur immer der Gebrauch der Freiheit im Menschen äußert, wahrnehmen läßt, und[686] nichts destoweniger doch aus der Freiheit entsprungen sein muß, und daher zugerechnet werden kann, kann in ihren zwei ersteren Stufen (der Gebrechlichkeit, und der Unlauterkeit) als unvorsätzlich (culpa), in der dritten aber als vorsätzliche Schuld (dolus), beurteilt werden; und hat zu ihrem Charakter eine gewisse Tücke des menschlichen Herzens (dolus malus), sich wegen seiner eigenen guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen, und, wenn nur die Handlungen das Böse nicht zur Folge haben, was sie nach ihren Maximen wohl haben könnten, sich seiner Gesinnung wegen nicht zu beunruhigen, sondern vielmehr vor dem Gesetze gerechtfertigt zu halten. Daher rührt die Gewissensruhe so vieler (ihrer Meinung nach gewissenhaften) Menschen, wenn sie mitten unter Handlungen, bei denen das Gesetz nicht zu Rate gezogen ward, wenigstens nicht das Meiste galt, nur den bösen Folgen glücklich entwischten, und wohl gar die Einbildung von Verdienst, keiner solcher Vergehungen sich schuldig zu fühlen, mit denen sie andere behaftet sehen: ohne doch nachzuforschen, ob es nicht bloß etwa Verdienst des Glücks sei, und ob nach der Denkungsart, die sie in ihrem Innern wohl aufdecken könnten, wenn sie nur wollten, nicht gleiche Laster von ihnen verübt worden wären, wenn nicht Unvermögen, Temperament, Erziehung, Umstände der Zeit und des Orts, die in Versuchung führen (lauter Dinge, die uns nicht zugerechnet werden können), davon entfernt gehalten hätten. Diese Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen, welche die Gründung echter moralischer Gesinnung in uns abhält, erweitert sich denn auch äußerlich zur Falschheit und Täuschung anderer; welche, wenn sie nicht Bosheit genannt werden soll, doch wenigstens Nichtswürdigkeit zu heißen verdient, und liegt in dem radikalen Bösen der menschlichen Natur, welches (indem es die moralische Urteilskraft in Ansehung dessen, wofür man einen Menschen halten solle, verstimmt, und die Zurechnung innerlich und äußerlich ganz ungewiß macht) den faulen Fleck unserer Gattung ausmacht, der, so lange wir ihn nicht herausbringen, den Keim des Guten hindert, sich, wie er sonst wohl tun würde, zu entwickeln.[687]

Ein Mitglied des englischen Parlaments stieß in der Hitze die Behauptung aus: »Ein jeder Mensch hat seinen Preis, für den er sich weggibt«. Wenn dieses wahr ist (welches dann ein jeder bei sich ausmachen mag); wenn es überall keine Tugend gibt, für die nicht ein Grad der Versuchung gefunden werden kann, der vermögend ist, sie zu stürzen; wenn, ob der böse oder der gute Geist uns für seine Partei gewinne, es nur darauf ankömmt, wer das Meiste bietet, und die prompteste Zahlung leistet: so möchte wohl vom Menschen allgemein wahr sein, was der Apostel sagt: »Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder – es ist Keiner, der Gutes tue (nach dem Geiste des Gesetzes), auch nicht einer«.12

10

Wie der immerwährende Krieg zwischen den Arathavescau- und den Hundsrippen-Indianern keine andere Absicht, als bloß das Totschlagen hat. Kriegstapferkeit ist die höchste Tugend der Wilden, in ihrer Meinung. Auch im gesitteten Zustande ist sie ein Gegenstand der Bewunderung und ein Grund der vorzüglichen Achtung, die derjenige Stand fordert, bei dem diese das einzige Verdienst ist; und dieses nicht ohne allen Grund in der Vernunft. Denn daß der Mensch etwas haben und sich zum Zweck machen kenne, was er noch höher schätzt als sein Leben (die Ehre), wobei er allem Eigennutze entsagt, beweist doch eine gewisse Erhabenheit in seiner Anlage. Aber man sieht doch an der Behaglichkeit, womit die Sieger ihre Großtaten (des Zusammenhauens, Niederstoßens ohne Verschonen, u.d.gl.) preisen, daß bloß ihre Überlegenheit und die Zerstörung, welche sie bewirken konnten, ohne einen andern Zweck, das sei, worauf sie sich eigentlich etwas zu gute tun.

11

Wenn man dieser ihre Geschichte bloß als das Phänomen der uns großenteils verborgenen inneren Anlagen der Menschheit ansieht, so kann man einen gewissen maschinenmäßigen Gang der Natur, nach Zwecken, die nicht ihre (der Völker) Zwecke, sondern Zwecke der Natur sind, gewahr werden. Ein jeder Staat strebt, so lange er einen andern neben sich hat, den er zu bezwingen hoffen darf, sich durch dieses Unterwerfung zu vergrößern und also zur Universalmonarchie, einer Verfassung, darin alle Freiheit, und mit ihr (was die Folge derselben ist) Tugend, Geschmack und Wissenschaft erlöschen müßte. Allein dieses Ungeheuer (in welchem die Gesetze allmählich ihre Kraft verlieren), nachdem es alte benachbarte verschlungen hat, löset sich endlich von selbst auf und teilt sich, durch Aufruhr und Zwiespalt, in viele kleinere Staaten, die, anstatt zu einem Staatenverein (Republik freier verbündeter Völker) zu streben, wiederum ihrerseits jeder dasselbe Spiel von neuem anfangen, um den Krieg (diese Geißel des menschlichen Geschlechts) ja nicht aufhören zu lassen, der, ob er gleich nicht so unheilbar böse ist, als das Grab der allgemeinen Alleinherrschaft (oder auch ein Völkerbund, um die Despotie in keinem Staate abkommen zu lassen), doch, wie ein Alter sagte, mehr böse Menschen macht, als er deren wegnimmt.

12

Von diesem Verdammungsurteile der moralisch richtenden Vernunft ist der eigentliche Beweis nicht in diesem, sondern im vorigen Abschnitte enthalten; dieser enthält nur die Bestätigung desselben durch Erfahrung, welche aber nie die Wurzel des Bösen, in der obersten Maxime der freien Willkür in Beziehung aufs Gesetz, aufdecken kann, die, als intelligibele Tat vor aller Erfahrung vorhergeht. – Hieraus, d.i. aus der Einheit der obersten Maxime, bei der Einheit des Gesetzes, worauf sie sich bezieht, läßt sich auch einsehen: warum der reinen intellektuellen Beurteilung des Menschen der Grundsatz der Ausschließung des Mittleren zwischen Gut und Böse zum Grunde liegen müsse; indessen daß der empirischen Beurteilung aus sensibler Tat (dem wirklichen Tun und Lassen) der Grundsatz untergelegt werden kann: daß es ein Mittleres zwischen diesen Extremen gebe, einerseits ein Negatives der Indifferenz, vor aller Ausbildung, andererseits ein Positives der Mischung, teils gut, teils böse zu sein. Aber die letztere ist nur Beurteilung der Moralität des Menschen in der Erscheinung, und ist der ersteren im Endurteile unterworfen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 680-688.
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