Allgemeine Anmerkung

[865] Was Gutes der Mensch nach Freiheitsgesetzen für sich selbst tun kann, in Vergleichung mit dem Vermögen, welches ihm nur durch übernatürliche Beihülfe möglich ist, kann man Natur, zum Unterschied von der Gnade, nennen. Nicht als ob wir durch den ersteren Ausdruck eine physische, von der Freiheit unterschiedene Beschaffenheit verständen, sondern bloß, weil wir für dieses Vermögen wenigstens die Gesetze (der Tugend) erkennen, und die Vernunft[865] also davon, als einem Analogon der Natur, einen für sie sichtbaren und faßlichen Leitfaden hat; dagegen, ob, wenn und was, oder wie viel die Gnade in uns wirken werde, uns gänzlich verborgen bleibt, und die Vernunft hierüber, so wie beim Übernatürlichen überhaupt (dazu die Moralität, als Heiligkeit, gehört), von aller Kenntnis der Gesetze, wornach es geschehen mag, verlassen ist.

Der Begriff eines übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen, obzwar mangelhaften. Vermögen und selbst zu unserer nicht völlig gereinigten, wenigstens schwachen Gesinnung, aller unserer Pflicht ein Genüge zu tun, ist transzendent und eine bloße Idee, von deren Realität uns keine Erfahrung versichern kann. – Aber selbst als Idee in bloß praktischer Absicht sie anzunehmen, ist sie sehr gewagt und mit der Vernunft schwerlich vereinbar; weil, was uns, als sittliches gutes Verhalten, zugerechnet werden soll, nicht durch fremden Einfluß, sondern nur durch den bestmöglichen Gebrauch unserer eigenen Kräfte geschehen müßte. Allein die Unmöglichkeit davon (daß beides neben einander statt finde) läßt sich doch eben auch nicht beweisen, weil die Freiheit selbst, obgleich sie nichts Übernatürliches in ihrem Begriffe enthält, gleichwohl ihrer Möglichkeit nach uns eben so unbegreiflich bleibt, als das Übernatürliche, welches man zum Ersatz der selbsttätigen, aber mangelhaften Bestimmung derselben annehmen möchte.

Da wir aber von der Freiheit doch wenigstens die Gesetze, nach welchen sie bestimmt werden soll (die moralischen), kennen, von einem übernatürlichen Beistande aber, ob eine gewisse in uns wahrgenommene moralische Stärke wirklich daher rühre, oder auch, in welchen Fällen und unter welchen Bedingungen sie zu erwarten sei, nicht das mindeste erkennen können, so werden wir außer der allgemeinen Voraussetzung, daß, was die Natur in uns nicht vermag, die Gnade bewirken werde, wenn wir jene (d.i. unsere eigenen Kräfte) nur nach Möglichkeit benutzt haben, von dieser Idee weiter gar keinen Gebrauch machen können: weder wie wir (noch außer der stetigen Bestrebung zum[866] guten Lebenswandel) ihre Mitwirkung auf uns ziehen, noch wie wir bestimmen könnten, in welchen Fällen wir uns ihrer zu gewärtigen haben. – Diese Idee ist gänzlich überschwenglich, und es ist überdem heilsam, sich von ihr, als einem Heiligtum, in ehrerbietiger Entfernung zu halten, damit wir nicht in dem Wahne, selbst Wunder zu tun, oder Wunder in uns wahrzunehmen, uns für allen Vernunftgebrauch untauglich machen, oder auch zur Trägheit einladen lassen, das, was wir in uns selbst suchen sollten, von oben herab in passiver Muße zu erwarten.

Nun sind Mittel alle Zwischenursachen, die der Mensch in seiner Gewalt hat, um dadurch eine gewisse Absicht zu bewirken, und da gibt's, um des himmlischen Beistandes würdig zu werden, nichts anders (und kann auch kein anderes geben), als ernstliche Bestrebung, seine sittliche Beschaffenheit nach aller Möglichkeit zu bessern, und sich dadurch der Vollendung ihrer Angemessenheit zum göttlichen Wohlgefallen, die nicht in seiner Gewalt ist, empfänglich zu machen, weil jener göttliche Beistand, den er erwartet, selbst eigentlich doch nur seine Sittlichkeit zur Absicht hat. Daß aber der unlautere Mensch ihn da nicht suchen werde, sondern lieber in gewissen sinnlichen Veranstaltungen (die er freilich in seiner Gewalt hat, die aber auch für sich keinen bessern Menschen machen können und nun doch übernatürlicher Weise dieses bewirken sollen), war wohl schon a priori zu erwarten, und so findet es sich auch in der Tat. Der Begriff eines sogenannten Gnadenmittels, ob er zwar (nach dem, was eben gesagt worden) in sich selbst widersprechend ist, dient hier doch zum Mittel einer Selbsttäuschung, welche eben so gemein, als der wahren Religion nachteilig ist.

Der wahre (moralische) Dienst Gottes, den Gläubige, als zu seinem Reich gehörige Untertanen, nicht minder aber auch (unter Freiheitsgesetzen) als Bürger desselben zu leisten haben, ist zwar, so wie dieses selbst, unsichtbar, d.i. ein Dienst der Herzen (im Geist und in der Wahrheit), und kann nur in der Gesinnung, der Beobachtung aller wahren Pflichten, als göttlicher Gebote, nicht in ausschließlich[867] für Gott bestimmten Handlungen bestehen. Allein das Unsichtbare bedarf doch beim Menschen durch etwas Sichtbares (Sinnliches) repräsentiert, ja, was noch mehr ist, durch dieses zum Behuf des Praktischen begleitet, und, ob zwar es intellektuell ist, gleichsam (nach einer gewissen Analogie) anschaulich gemacht zu werden; welches, obzwar ein nicht wohl entbehrliches, doch zugleich der Gefahr der Mißdeutung gar sehr unterworfenes Mittel ist, uns unsere Pflicht im Dienste Gottes nur vorstellig zu machen, durch einen uns überschleichenden Wahn doch leichtlich für den Gottesdienst selbst gehalten, und auch gemeiniglich so benannt wird.

Dieser angebliche Dienst Gottes, auf seinen Geist und seine wahre Bedeutung, nämlich eine dem Reich Gottes in uns und außer uns sich weihende Gesinnung, zurückgeführt, kann selbst durch die Vernunft in vier Pflichtbeobachtungen eingeteilt werden, denen aber gewisse Förmlichkeiten, die mit jenen nicht in notwendiger Verbindung stehen, korrespondierend beigeordnet worden sind; weil sie jenen zum Schema zu dienen, und so unsere Aufmerksamkeit auf den wahren Dienst Gottes zu erwecken und zu unterhalten, von alters her für gute sinnliche Mittel befunden sind. Sie gründen sich insgesamt auf die Absicht, das Sittlichgute zu befördern. 1) Es in uns selbst fest zu gründen, und die Gesinnung desselben wiederholentlich im Gemüt zu erwecken (das Privatgebet). 2) Die äußere Ausbreitung desselben, durch öffentliche Zusammenkunft an dazu gesetzlich geweiheten Tagen, um daselbst religiöse Lehren und Wünsche (und hiemit dergleichen Gesinnungen) laut werden zu lassen, und sie so durchgängig mitzuteilen (das Kirchengehen). 3) Die Fortpflanzung desselben auf die Nachkommenschaft; durch Aufnahme der neueintretenden Glieder in die Gemeinschaft des Glaubens, als Pflicht, sie darin auch zu belehren (in der christlichen Religion die Taufe). 4) Die Erhaltung dieser Gemeinschaft durch eine wiederholte öffentliche Förmlichkeit, welche die Vereinigung dieser Glieder zu einem ethischen Körper, und zwar nach[868] dem Prinzip der Gleichheit ihrer Rechte unter sich und des Anteils an allen Früchten des Moralischguten fortdaurend macht (die Kommunion).

Alles Beginnen in Religionssachen, wenn man es nicht bloß moralisch nimmt, und doch für ein an sich Gott wohlgefällig machendes, mithin durch ihn alle unsere Wünsche befriedigendes Mittel ergreift, ist ein Fetischglaube, welcher eine Überredung ist: daß, was weder nach Natur– noch nach moralischen Vernunftgesetzen irgend etwas wirken kann, doch dadurch allein schon das Gewünschte wirken werde, wenn man nur festiglich glaubt, es werde dergleichen wirken, und dann mit diesem Glauben gewisse Förmlichkeiten verbindet. Selbst, wo die Überzeugung: daß alles hier auf das Sittlichgute, welches nur aus dem Tun entspringen kann, ankomme, schon durchgedrungen ist, sucht sich der sinnliche Mensch doch noch einen Schleichweg, jene beschwerliche Bedingung zu umgehen, nämlich, daß, wenn er nur die Weise (die Förmlichkeit) begeht, Gott das wohl für die Tat selbst annehmen würde; welches denn freilich eine überschwengliche Gnade desselben genannt werden müßte, wenn es nicht vielmehr eine im faulen Vertrauen erträumte Gnade, oder wohl gar ein erheucheltes Vertrauen selbst wäre. Und so hat sich der Mensch in allen öffentlichen Glaubensarten gewisse Gebräuche als Gnadenmittel ausgedacht, ob sie gleich sich nicht in allen, so wie in der christlichen, auf praktische Vernunftbegriffe und ihnen gemäße Gesinnungen beziehen (als z.B. in der mohammedanischen von den fünf großen Geboten, das Waschen, das Beten, das Fasten, das Almosengeben die Wallfahrt nach Mekka; wovon das Almosengeben allein ausgenommen zu werden verdienen würde, wenn es aus wahrer tugendhafter und zugleich religiöser Gesinnung für Menschenpflicht geschähe, und so auch wohl wirklich für ein Gnadenmittel gehalten zu werden verdienen würde: da es hingegen, weil es nach diesem Glauben gar wohl mit der Erpressung dessen, was man in der Person der Armen Gott zum Opfer darbietet, von andern,[869] zusammen bestehen kann, nicht ausgenommen zu werden verdient).

Es kann nämlich dreierlei Art von Wahnglauben, der uns möglichen Überschreitung der Grenzen unserer Vernunft in Ansehung des Übernatürlichen (das nicht nach Vernunftgesetzen ein Gegenstand weder des theoretischen noch praktischen Gebrauchs ist), geben. Erstlich der Glaube, etwas durch Erfahrung zu erkennen, was wir doch selbst, als nach objektiven Erfahrungsgesetzen geschehend, unmöglich annehmen können (der Glaube an Wunder). Zweitens der Wahn, das, wovon wir selbst durch die Vernunft uns keinen Begriff machen können, doch unter unsere Vernunftbegriffe, als zu unserm moralischen Besten nötig, aufnehmen zu müssen (der Glaube an Geheimnisse). Drittens der Wahn, durch den Gebrauch bloßer Naturmittel eine Wirkung, die für uns Geheimnis ist, nämlich den Einfluß Gottes auf unsere Sittlichkeit, hervorbringen zu können (der Glaube an Gnadenmittel). – Von den zwei ersten erkünstelten Glaubensarten haben wir in den allgemeinen Anmerkungen zu den beiden nächst vorhergehenden Stücken dieser Schrift gehandelt. Es ist uns also jetzt noch übrig, von den Gnadenmitteln zu handeln (die von Gnadenwirkungen,73 d.i. übernatürlichen moralischen Einflüssen, noch unterschieden sind, bei denen wir uns bloß leidend verhalten, deren vermeinte Erfahrung aber ein schwärmerischer Wahn ist, der bloß zum Gefühl gehört).

1. Das Beten, als ein innerer förmlicher Gottesdienst und darum als Gnadenmittel gedacht, ist ein abergläubischer Wahn (ein Fetischmachen); denn es ist ein bloß erklärtes Wünschen, gegen ein Wesen, das keiner Erklärung der inneren Gesinnung des Wünschenden bedarf, wodurch also nichts getan, und also keine von den Pflichten, die uns als Gebote Gottes obliegen, ausgeübt, mithin Gott wirklich nicht gedient wird. Ein herzlicher Wunsch, Gott in allem unserm Tun und Lassen wohlgefällig zu sein, d.i.[870] die alle unsere Handlungen begleitende Gesinnung, sie, als ob sie im Dienste Gottes geschehen, zu betreiben, ist der Geist des Gebets, der »ohne Unterlaß« in uns statt finden kann und soll. Diesen Wunsch aber (es sei auch nur innerlich) in Worte und Formeln einzukleiden,74 kann höchstens nur den Wert eines Mittels zu wiederholter Belebung jener Gesinnung in uns selbst bei sich führen, unmittelbar aber keine Beziehung aufs göttliche Wohlgefallen haben, eben darum auch nicht für jedermann Pflicht sein; weil ein Mittel nur dem vorgeschrieben werden kann, der es zu gewissen Zwecken bedarf, aber bei weitem nicht jedermann dieses[871] Mittel (in und eigentlich mit sich selbst, vorgeblich aber desto verständlicher mit Gott zu reden) nötig hat, vielmehr durch fortgesetzte Läuterung und Erhebung der moralischen Gesinnung dahin gearbeitet werden muß, daß dieser Geist des Gebets allein in uns hinreichend belebt[872] werde, und der Buchstabe desselben (wenigstens zu unserm eigenen Behuf) endlich wegfallen könne. Denn dieser schwächt vielmehr, wie alles, was indirekt auf einen gewissen Zweck gerichtet ist, die Wirkung der moralischen Idee (die, subjektiv betrachtet, Andacht heißt). So hat die Betrachtung[873] der tiefen Weisheit der göttlichen Schöpfung an den kleinsten Dingen und ihrer Majestät im großen, so wie sie zwar schon von jeher von Menschen hat erkannt werden können, in neueren Zeiten aber zum höchsten Bewundern erweitert worden ist, eine solche Kraft, das Gemüt nicht allein in diejenige dahin sinkende, den Menschen gleichsam in seinen eigenen Augen vernichtende Stimmung, die man Anbetung nennt, zu versetzen, sondern es ist auch, in Rücksicht auf seine eigene moralische Bestimmung, darin eine seelenerhebende Kraft, daß dagegen Worte, wenn sie auch die des königlichen Beters David (der von allen jenen Wundern wenig wußte) wären, wie leerer Schall verschwinden müssen, weil das Gefühl aus einer solchen Anschauung der Hand Gottes unaussprechlich ist. – Da überdem Menschen alles, was eigentlich nur auf ihre eigene moralische Besserung Beziehung hat, bei der Stimmung ihres Gemüts zur Religion, gern in Hofdienst verwandeln, wo die Demütigung und Lobpreisungen gemeiniglich desto weniger moralisch empfunden werden, jemehr sie wortreich sind: so ist vielmehr nötig, selbst bei der frühesten mit Kindern, die des Buchstabens noch bedürfen, angestellten Gebetsübung, sorgfältig einzuschärfen, daß die Rede (selbst innerlich ausgesprochen, ja sogar die Versuche, das Gemüt zur Fassung der Idee von Gott, die sich einer Anschauung nähern soll, zu stimmen) hier nicht an sich etwas gelte, sondern es nur um die Belebung der Gesinnung zu einem Gott wohlgefälligen Lebenswandel zu tun sei, wozu jene Rede nur ein Mittel für die Einbildungskraft ist; weil sonst alle jene devote Ehrfurchtsbezeugungen Gefahr bringen, nichts als erheuchelte Gottesverehrung statt eines praktischen Dienstes desselben, der nicht in bloßen Gefühlen besteht, zu bewirken.

2. Das Kirchengehen, als feierlicher äußerer Gottesdienst überhaupt in einer Kirche gedacht, ist, in Betracht, daß es eine sinnliche Darstellung der Gemeinschaft der Gläubigen ist, nicht allein ein für jeden einzelnen zu[874] seiner Erbauung75 anzupreisendes Mittel, sondern auch ihnen, als Bürgern eines hier auf Erden vorzustellenden göttlichen Staats, für das Ganze unmittelbar obliegende Pflicht; vorausgesetzt, daß diese Kirche nicht Förmlichkeiten enthalte, die auf Idololatrie führen, und so das Gewissen belästigen können, z.B. gewisse Anbetungen Gottes in der Persönlichkeit seiner unendlichen Güte unter dem Namen eines Menschen, da die sinnliche Darstellung desselben dem Vernunftverbote: »Du sollst dir kein Bildnis machen, u.s.w.« zuwider ist. Aber es an sich als Gnadenmittel brauchen zu wollen, gleich als ob dadurch Gott unmittelbar gedient, und mit der Zelebrierung dieser Feierlichkeit (einer bloßen sinnlichen Vorstellung der Allgemeinheit der Religion) Gott besondere Gnaden verbunden habe, ist ein Wahn, der zwar mit der Denkungsart eines guten Bürgers in einem politischen gemeinen Wesen und der äußern Anständigkeit gar wohl zusammen stimmt, zur Qualität desselben aber, als Bürger im Reiche Gottes, nicht allein nichts beiträgt, sondern diese vielmehr verfälscht, und den schlechten moralischen Gehalt seiner Gesinnung den Augen anderer, und selbst seinen[875] eigenen, durch einen betrüglichen Anstrich zu verdecken dient.

3. Die einmal geschehende feierliche Einweihung zur Kirchengemeinschaft, d.i. die erste Aufnahme zum Gliede einer Kirche (in der christlichen durch die Taufe) ist eine vielbedeutende Feierlichkeit, die entweder dem Einzuweihenden, wenn er seinen Glauben selbst zu bekennen imstande ist, oder den Zeugen, die seine Erziehung in demselben zu besorgen sich anheischig machen, große Verbindlichkeit auferlegt, und auf etwas Heiliges (die Bildung eines Menschen zum Bürger in einem göttlichen Staate) abzweckt, an sich selbst aber keine heilige oder Heiligkeit und Empfänglichkeit für die göttliche Gnade in diesem Subjekt wirkende Handlung anderer, mithin kein Gnadenmittel; in so übergroßem Ansehen es auch in der ersten griechischen Kirche war, alle Sünden auf einmal abwaschen zu können, wodurch dieser Wahn auch seine Verwandtschaft mit einem fast mehr als heidnischen Aberglauben öffentlich an den Tag legte.

4. Die mehrmals wiederholte Feierlichkeit einer Erneuerung, Fortdauer und Fortpflanzung dieser Kirchengemeinschaft nach Gesetzen der Gleichheit (die Kommunion), welche, allenfalls auch nach dem Beispiele des Stifters einer solchen Kirche (zugleich auch zu seinem Gedächtnisse), durch die Förmlichkeit eines gemeinschaftlichen Genusses an derselben Tafel geschehen kann, enthält etwas Großes, die enge, eigenliebige und unvertragsame Denkungsart der Menschen, vornehmlich in Religionssachen, zur Idee einer weltbürgerlichen moralischen Gemeinschaft Erweiterndes in sich, und ist ein gutes Mittel, eine Gemeinde zu der darunter vorgestellten sittlichen Gesinnung der brüderlichen Liebe zu beleben. Daß aber Gott mit der Zelebrierung dieser Feierlichkeit besondere Gnaden verbunden habe, zu rühmen, und den Satz, daß sie, die doch bloß eine kirchliche Handlung ist, doch noch dazu ein Gnadenmittel sei, unter die Glaubensartikel aufzunehmen, ist ein Wahn der Religion, der nicht anders, als dem Geiste derselben[876] gerade entgegen wirken kann. – Pfaffentum also würde überhaupt die usurpierte Herrschaft der Geistlichkeit über die Gemüter sein, dadurch, daß sie, im ausschließlichen Besitz der Gnadenmittel zu sein, sich das Ansehn gäbe.


* * *


Alle dergleichen erkünstelte Selbsttäuschungen in Religionssachen haben einen gemeinschaftlichen Grund. Der Mensch wendet sich gewöhnlicher Weise unter allen göttlichen moralischen Eigenschaften, der Heiligkeit, der Gnade und der Gerechtigkeit, unmittelbar an die zweite, um so die abschreckende Bedingung, den Forderungen der ersteren gemäß zu sein, zu umgehen. Es ist mühsam, ein guter Diener zu sein (man hört da immer von Pflichten sprechen); er möchte daher lieber ein Favorit sein, wo ihm vieles nachgesehen, oder, wenn ja zu gröblich gegen Pflicht verstoßen worden, alles durch Vermittelung irgend eines im höchsten Grade Begünstigten wiederum gut gemacht wird, indessen, daß er immer der lose Knecht bleibt, der er war. Um sich aber auch wegen der Tunlichkeit dieser seiner Absicht mit einigem Scheine zu befriedigen, trägt er seinen Begriff von einem Menschen (zusamt seinen Fehlern), wie gewöhnlich, auf die Gottheit über, und, so wie auch an den besten Oberen von unserer Gattung die gesetzgebende Strenge, die wohltätige Gnade und die pünktliche Gerechtigkeit nicht (wie es sein sollte), jede abgesondert und für sich zum moralischen Effekt der Handlungen des Untertans hinwirken, sondern sich in der Denkungsart des menschlichen Oberherrn bei Fassung seiner Ratschlüsse vermischen, man also nur der einen dieser Eigenschaften, der gebrechlichen Weisheit des menschlichen Willens, beizukommen suchen darf, um die beiden andern zur Nachgiebigkeit zu bestimmen: so hofft er dieses auch dadurch bei Gott auszurichten, indem er sich bloß an seine Gnade wendet. (Daher war es auch eine für die Religion wichtige Absonderung der gedachten Eigenschaften, oder vielmehr Verhältnisse Gottes zum Menschen, durch die Idee einer dreifachen[877] Persönlichkeit, welcher analogisch jene gedacht werden soll, jede besonders kenntlich zu machen.) Zu diesem Ende befleißigt er sich aller erdenklichen Förmlichkeiten, wodurch angezeigt werden soll, wie sehr er die göttlichen Gebote verehre, um nicht nötig zu haben, sie zu beobachten; und damit seine tatlosen Wünsche auch zur Vergütung der Übertretung derselben dienen mögen, ruft er: »Herr! Herr!«, um nur nicht nötig zu haben, »den Willen des himmlischen Vaters zu tun«, und so macht er sich von den Feierlichkeiten, im Gebrauch gewisser Mittel zur Belebung wahrhaft praktischer Gesinnungen, den Begriff als von Gnadenmitteln an sich selbst; gibt sogar den Glauben, daß sie es sind, selbst für ein wesentliches Stück der Religion (der gemeine Mann gar für das Ganze derselben) aus, und überläßt es der allgütigen Vorsorge, aus ihm einen bessern Menschen zu machen, indem er sich der Frömmigkeit (einer passiven Verehrung des göttlichen Gesetzes) statt der Tugend (der Anwendung eigener Kräfte der von ihm verehrten Pflicht) befleißigt, welche letztere doch, mit der ersteren verbunden, allein die Idee ausmachen kann, die man unter dem Worte Gottseligkeit (wahre Religionsgesinnung) versteht. – Wenn der Wahn dieses vermeinten Himmelsgünstlings bis zur schwärmerischen Einbildung gefühlter besonderer Gnadenwirkungen in ihm steigt (bis sogar zur Anmaßung der Vertraulichkeit eines vermeinten verborgenen Umgangs mit Gott), so ekelt ihm gar endlich die Tugend an, und wird ihm ein Gegenstand der Verachtung; daher es denn kein Wunder ist, wenn öffentlich geklagt wird: daß Religion noch immer so wenig zur Besserung der Menschen beiträgt, und das innere Licht (»unter dem Scheffel«) dieser Begnadigten nicht auch äußerlich, durch gute Werke, leuchten will, und zwar (wie man nach diesem ihrem Vorgeben wohl fodern könnte) vorzüglich vor anderen natürlich-ehrlichen Menschen, welche die Religion nicht zur Ersetzung, sondern zur Beförderung der Tugendgesinnung, die in einem guten Lebenswandel tätig erscheint, kurz und gut in sich aufnehmen. Der Lehrer des Evangeliums hat[878] gleichwohl diese äußere Beweistümer äußerer Erfahrung selbst zum Probierstein an die Hand gegeben, woran, als an ihren Früchten, man sie und ein jeder sich selbst erkennen kann. Noch aber hat man nicht gesehen: daß jene, ihrer Meinung nach, außerordentlich Begünstigten (Auserwählten) es dem natürlichen ehrlichen Manne, auf den man im Umgange, in Geschäften und in Nöten vertrauen kann, im mindesten zuvortäten, daß sie vielmehr, im ganzen genommen, die Vergleichung mit diesem kaum aushalten dürften; zum Beweise, daß es nicht der rechte Weg sei, von der Begnadigung zur Tugend, sondern vielmehr von der Tugend zur Begnadigung fortzuschreiten.[879]


73

S. Allgemeine Anmerkung zum Ersten Stück.

74

In jenem Wunsch, als dem Geiste des Gebets, sucht der Mensch nur auf sich selbst (zu Belebung seiner Gesinnungen vermittelst der Idee von Gott), in diesem aber, da er sich durch Worte, mithin äußerlich erklärt, auf Gott zu wirken. Im ersteren Sinn kann ein Gebet mit voller Aufrichtigkeit statt finden, wenn gleich der Mensch sich nicht anmaßt, selbst das Dasein Gottes als völlig gewiß beteuren zu können; in der zweiten Form als Anrede nimmt er diesen höchsten Gegenstand als persönlich gegenwärtig an, oder stellt sich wenigstens (selbst innerlich) so, als ob er von seiner Gegenwart überführt sei, in der Meinung, daß, wenn es auch nicht so wäre, es wenigstens nicht schaden, vielmehr ihm Gunst verschaffen könne; mithin kann in dem letzteren (buchstäblichen) Gebet die Aufrichtigkeit nicht so vollkommen angetroffen werden, wie im ersteren (dem bloßen Geiste desselben). – Die Wahrheit der letzteren Anmerkung wird ein jeder bestätigt finden, wenn er sich einen frommen und gutmeinenden, übrigens aber in Ansehung solcher gereinigten Religionsbegriffe eingeschränkten Menschen denkt, den ein anderer, ich will nicht sagen, im lauten Beten, sondern auch nur in der dieses anzeigenden Gebärdung überraschte. Man wird, ohne daß ich es sage, von selbst erwarten, daß jener darüber in Verwirrung oder Verlegenheit, gleich als über einen Zustand, dessen er sich zu schämen habe, geraten werde. Warum das aber? Daß ein Mensch mit sich selbst laut redend betroffen wird, bringt ihn vor der Hand in den Verdacht, daß er eine kleine Anwandlung von Wahnsinn habe; und eben so beurteilt man ihn (nicht ganz mit Unrecht), wenn man ihn, da er allein ist, auf einer Beschäftigung oder Gebärdung betrifft, die der nur haben kann, welcher jemand außer sich vor Augen hat, was doch in dem angenommenen Beispiele der Fall nicht ist. – Der Lehrer des Evangeliums hat aber den Geist des Gebets ganz vortrefflich in einer Formel ausgedrückt, welche dieses und hiemit auch sich selbst (als Buchstaben) zugleich entbehrlich macht. In ihr findet man nichts, als den Vorsatz zum guten Lebenswandel, der, mit dem Bewußtsein unserer Gebrechlichkeit verbunden, einen beständigen Wunsch enthält, ein würdiges Glied im Reiche Gottes zu sein; also keine eigentliche Bitte um etwas, was uns Gott nach seiner Weisheit auch wohl verweigern könnte, sondern einen Wunsch, der, wenn er ernstlich (tätig) ist, seinen Gegenstand (ein Gott wohlgefälliger Mensch zu werden) selbst hervorbringt. Selbst der Wunsch des Erhaltungsmittels unterer Existenz (des Brots) für einen Tag, da es ausdrücklich nicht auf die Fortdauer derselben gerichtet ist, sondern die Wirkung eines bloß tierischen gefühlten Bedürfnisses ist, ist mehr ein Bekenntnis dessen, was die Natur in uns will, als eine besondere überlegte Bitte dessen, was der Mensch will: dergleichen die um das Brot auf den andern Tag sein würde; welche hier deutlich genug ausgeschlossen wird. – Ein Gebet dieser Art, das in moralischer (nur durch die Idee von Gott belebter) Gesinnung geschieht, weil es als der moralische Geist des Gebets seinen Gegenstand (Gott wohlgefällig zu sein) selbst hervorbringt, kann allein im Glauben geschehen; welches letztere so viel heißt, als sich der Erhörlichkeit desselben versichert zu halten; von dieser Art aber kann nichts, als die Moralität in uns sein. Denn, wenn die Bitte auch nur auf das Brot für den heutigen Tag ginge, so kann niemand sich von der Erhörlichkeit desselben versichert halten, d.i. daß es mit der Weisheit Gottes notwendig verbunden sei, sie ihm zu gewähren; es kann vielleicht mit derselben besser zusammenstimmen, ihn an diesem Mangel heute sterben zu lassen. Auch ist es ein ungereimter und zugleich vermessener Wahn, durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens zu versuchen, ob Gott nicht von dem Plane seiner Weisheit (zum gegenwärtigen Vorteil für uns) abgebracht werden könne. Also können wir kein Gebet, was einen nicht moralischen Gegenstand hat, mit Gewißheit für erhörlich halten, d.i. um so etwas nicht im Glauben beten. Ja sogar: ob der Gegenstand gleich moralisch, aber doch nur durch übernatürlichen Einfluß möglich wäre (oder wir wenigstens ihn bloß daher erwarteten, weil wir uns nicht selbst darum bemühen wollen, wie z.B. die Sinnesänderung, das Anziehen des neuen Menschen, die Wiedergeburt genannt), so ist es doch so gar sehr ungewiß, ob Gott es seiner Weisheit gemäß finden werde, unsern (selbstverschuldeten) Mangel übernatürlicher Weise zu ergänzen, daß man eher Ursache hat, das Gegenteil zu erwarten. Der Mensch kann also selbst hierum nicht im Glauben beten. – Hieraus läßt sich aufklären, was es mit einem wundertuenden Glauben (der immer zugleich mit einem inneren Gebet verbunden sein würde) für eine Bewandtnis haben könne. Da Gott dem Menschen keine Kraft verleihen kann, übernatürlich zu wirken (weil das ein Widerspruch ist); da der Mensch seinerseits, nach den Begriffen, die er sich von guten in der Welt möglichen Zwecken macht, was hierüber die göttliche Weisheit urteilt, nicht bestimmen, und also vermittelst des in und von ihm selbst erzeugten Wunsches die göttliche Macht zu seinen Absichten nicht brauchen kann: so läßt sich eine Wundergabe, eine solche nämlich, da es am Menschen selbst liegt, ob er sie hat, oder nicht hat (»wenn ihr Glauben hättet, wie ein Senfkorn, u.s.w.«), nach dem Buchstaben genommen, gar nicht denken. Ein solcher Glaube ist also, wenn er überall etwas bedeuten soll, eine bloße Idee von der überwiegenden Wichtigkeit der moralischen Beschaffenheit des Menschen, wenn er sie in ihrer ganzen Gott gefälligen Vollkommenheit (die er doch nie erreicht) besäße, über alle andre Bewegursachen, die Gott in seiner höchsten Weisheit haben mag, mithin ein Grund, vertrauen zu können, daß, wenn wir das ganz wären, oder einmal würden, was wir sein sollen, und (in der beständigen Annäherung) sein könnten, die Natur unseren Wünschen, die aber selbst alsdenn nie unweise sein würden, gehorchen müßte.

Was aber die Erbauung betrifft, die durchs Kirchengehen beabsichtigt wird, so ist das öffentliche Gebet darin zwar auch kein Gnadenmittel, aber doch eine ethische Feierlichkeit, es sei durch vereinigte Anstimmung des Glaubens-Hymnus, oder auch durch die förmlich durch den Mund des Geistlichen im Namen der ganzen Gemeinde an Gott gerichtete, alle moralische Angelegenheit der Menschen in sich fassende Anrede, welche, da sie diese als öffentliche Angelegenheit vorstellig macht, wo der Wunsch eines jeden sich mit den Wünschen aller zu einerlei Zwecke (der Herbeiführung des Reichs Gottes) als vereinigt vorgestellt werden soll, nicht allein die Rührung bis zur sittlichen Begeisterung erhöhen kann (anstatt daß die Privatgebete, da sie ohne diese erhabene Idee abgelegt werden, durch Gewohnheit den Einfluß aufs Gemüt nach und nach ganz verlieren), sondern auch mehr Vernunftgrund für sich hat, als die erstere, den moralischen Wunsch, der den Geist des Gebets ausmacht, in förmliche Anrede zu kleiden, ohne doch hiebei an Vergegenwärtigung des höchsten Wesens, oder eigene besondere Kraft dieser rednerischen Figur, als eines Gnadenmittels, zu denken. Denn es ist hier eine besondere Absicht, nämlich, durch eine äußere die Vereinigung aller Menschen im gemeinschaftlichen Wunsche des Reichs Gottes vorstellende Feierlichkeit, jedes einzelnen moralische Triebfeder desto mehr in Bewegung zu setzen; welches nicht schicklicher geschehen kann, als dadurch, daß man das Oberhaupt desselben, gleich als ob es an diesem Orte besonders gegenwärtig wäre, anredet.

75

Wenn man eine diesem Ausdrucke angemessene Bedeutung sucht, so ist sie wohl nicht anders anzugeben, als daß darunter die moralische Folge aus der Andacht auf das Subjekt verstanden werde. Diese besteht nun nicht in der Rührung (als welche schon im Begriffe der Andacht liegt), obzwar die meisten vermeintlich Andächtigen (die darum auch Andächtler heißen) sie gänzlich darin setzen; mithin muß das Wort Erbauung die Folge aus der Andacht auf die wirkliche Besserung des Menschen bedeuten. Diese aber gelingt nicht anders, als daß man systematisch zu Werke geht, feste Grundsätze nach wohlverstandenen Begriffen tief ins Herz legt, darauf Gesinnungen, der verschiedenen Wichtigkeit der sie angehenden Pflichten angemessen, errichtet, sie gegen Anfechtung der Neigungen verwahrt und sichert, und so gleichsam einen neuen Menschen, als einen Tempel Gottes erbaut. Man sieht leicht, daß dieser Bau nur langsam fortrücken könne; aber es muß wenigstens doch zu sehen sein, daß etwas verrichtet worden. So aber glauben sich Menschen (durch Anhören oder Lesen und Singen) recht sehr erbaut, indessen, daß schlechterdings nichts gebauet, ja nicht einmal Hand ans Werk gelegt worden; vermutlich weil sie hoffen, daß jenes moralische Gebäude, wie die Mauern von Theben, durch die Musik der Seufzer und sehnsüchtiger Wünsche von selbst emporsteigen werde.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977.
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