Einleitung
§1. Der Begriff einer Pflicht gegen sich selbst enthält (dem ersten Anscheine nach) einen Widerspruch

Wenn das verpflichtende Ich mit dem verpflichteten in einerlei Sinn genommen wird, so ist Pflicht gegen sich selbst ein sich widersprechender Begriff. Denn in dem Begriffe der Pflicht ist der einer passiven Nötigung enthalten (ich werde verbunden). Darin aber, daß es eine Pflicht gegen mich selbst ist, stelle ich mich als verbindend, mithin in einer aktiven Nötigung vor (Ich, eben dasselbe Subjekt, bin der Verbindende); und der Satz, der eine Pflicht gegen sich selbst ausspricht (ich soll mich selbst verbinden), würde eine Verbindlichkeit verbunden zu sein (passive Obligation, die doch zugleich, in demselben Sinne des Verhältnisses, eine aktive wäre), mithin einen Widerspruch enthalten. – Man kann diesen Widerspruch auch dadurch ins Licht stellen: daß man zeigt, der Verbindende (auctor obligationis) könne den Verbundenen (subiectum obligationis) jederzeit von der Verbindlichkeit (terminus obligationis) lossprechen; mithin (wenn beide ein und dasselbe Subjekt sind), er sei an eine Pflicht, die er sich auferlegt, gar nicht gebunden: welches einen Widerspruch enthält.


§ 2. Es gibt doch Pflichten des Menschen gegen sich selbst

Denn setzet: es gebe keine solche Pflichten, so würde es überall gar keine, auch keine äußere Pflichten geben. – Denn ich kann mich gegen andere nicht für verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde; weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen[549] Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehung meiner selbst bin.18




§ 3. Aufschluß dieser scheinbaren Antinomie

Der Mensch betrachtet sich, in dem Bewußtsein einer Pflicht gegen sich selbst, als Subjekt derselben, in zwiefacher Qualität: erstlich als Sinnenwesen, d.i. als Mensch (zu einer der Tierarten gehörig); dann aber auch als Vernunftwesen (nicht bloß vernünftiges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte), welches kein Sinn erreicht und das sich nur in moralisch-praktischen Verhältnissen, wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich durch den Einfluß der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht, erkennen läßt.

Der Mensch nun, als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon), ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d.i. als mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet, so: daß der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu geraten (weil der Begriff von Menschen nicht in einem und demselben Sinn gedacht wird), eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann.


§ 4. Vom Prinzip der Einteilung der Pflichten gegen sich selbst

[550] Die Einteilung kann nur in Ansehung des Objekts der Pflicht, nicht in Ansehung des sich verpflichtenden Subjekts, gemacht werden. Das verpflichtete so wohl als das verpflichtende Subjekt ist immer nur der Mensch, und wenn es uns, in theoretischer Rücksicht, gleich erlaubt ist, im Menschen Seele und Körper als Naturbeschaffenheiten des Menschen von einander zu unterscheiden, so ist es doch nicht erlaubt, sie als verschiedene den Menschen verpflichtende Substanzen zu denken, um zur Einteilung in Pflichten gegen den Körper und gegen die Seele berechtigt zu sein. – Wir sind, weder durch Erfahrung, noch durch Schlüsse der Vernunft, hinreichend darüber belehrt, ob der Mensch eine Seele (als in ihm wohnende, vom Körper unterschiedene und von diesem unabhängig zu denken vermögende, d.i. geistige Substanz) enthalte, oder ob nicht vielmehr das Leben eine Eigenschaft der Materie sein möge, und wenn es sich auch auf die erstere Art verhielte, so würde doch keine Pflicht des Menschen gegen einen Körper (als verpflichtendes Subjekt), ob er gleich der menschliche ist, denkbar sein.

1) Es wird daher nur eine objektive Einteilung der Pflichten gegen sich selbst in das Formale und Materiale derselben statt finden; wovon die eine einschränkend (negative Pflichten), die andere erweiternd (positive Pflichten gegen sich selbst) sind: jene, welche dem Menschen in Ansehung des Zwecks seiner Natur verbieten, demselben zuwider zu handeln, mithin bloß auf die moralische Selbsterhaltung, diese, welche gebieten, sich einen gewissen Gegenstand der Willkür zum Zweck zu machen, und auf die Vervollkommnung seiner selbst gehen: von welchen beide zur Tugend entweder als Unterlassungspflichten (sustine et abstine) oder als Begehungspflichten (viribus concessis utere), beide aber als Tugendpflichten gehören. Die erstere gehört zur moralischen Gesundheit (ad esse) des Menschen, so wohl als Gegenstandes seiner äußeren, als seines inneren Sinnes zu Erhaltung seiner Natur in ihrer[551] Vollkommenheit (als Rezeptivität). Die andere zur moralischen Wohlhabenheit (ad melius esse; opulentia moralis), welche in dem Besitz eines zu allen Zwecken hinreichenden Vermögens besteht, so fern dieses erwerblich ist, und zur Kultur (als tätiger Vollkommenheit) seiner selbst gehört. – Der erstere Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst liegt in dem Spruch: lebe der Natur gemäß (naturae convenienter vive), d.i. erhalte dich in der Vollkommenheit deiner Natur, der zweite in dem Satz: mache dich vollkommner, als die bloße Natur dich schuf (perfice te ut finem; perfice te ut medium).

2) Es wird eine subjektive Einteilung der Pflichten des Menschen gegen sich selbst, d.i. eine solche, nach der das Subjekt der Pflicht (der Mensch) sich selbst, entweder als animalisches (physisches) und zugleich moralisches, oder bloß als moralisches Wesen betrachtet.

Da sind nun die Antriebe der Natur, was die Tierheit des Menschen betrifft, a) der, durch welchen die Natur die Erhaltung seiner selbst, b) die Erhaltung der Art, c) die Erhaltung seines Vermögens zum angenehmen aber doch nur tierischen Lebensgenuß beabsichtigt. – Die Laster, welche hier der Pflicht des Menschen gegen sich selbst widerstreiten, sind: der Selbstmord, der unnatürliche Gebrauch, den jemand von der Geschlechtsneigung macht, und der, das Vermögen zum zweckmäßigen Gebrauch seiner Kräfte schwächende, unmäßige Genuß der Nahrungsmittel.

Was aber die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen (ohne auf seine Tierheit zu sehen) betrifft, so besteht sie im Formalen, der Übereinstimmung der Maximen seines Willens mit der Würde der Menschheit in seiner Person; also im Verbot, daß er sich selbst des Vorzugs eines moralischen Wesens, nämlich nach Prinzipien zu handeln, d.i. der inneren Freiheit nicht beraube und dadurch zum Spiel bloßer Neigungen, also zur Sache, mache. – Die Laster, welche dieser Pflicht entgegen stehen, sind: die Lüge, der Geiz, und die falsche Demut (Kriecherei). Diese nehmen sich Grundsätze, welche ihrem[552] Charakter, als moralischer Wesen, d.i. der inneren Freiheit, der angebornen Würde des Menschen geradezu (schon der Form nach) widersprechen, welches so viel sagt: sie machen sich es zum Grundsatz, keinen Grundsatz, und so auch keinen Charakter, zu haben, d.i. sich wegzuwerfen und sich zum Gegenstande der Verachtung zu machen. – Die Tugend, welche allen diesen Lastern entgegen steht, könnte die Ehrliebe (honestas interna, iustum sui aestimium), eine von der Ehrbegierde (ambitio) (welche auch sehr niederträchtig sein kann) himmelweit unterschiedene Denkungsart, genannt werden, wird aber unter dieser Betitelung in der Folge besonders vorkommen.

18

So sagt man, wenn es z.B. einen Punkt meiner Ehrenrettung oder der Selbsterhaltung betrifft: »ich bin mir das selbst schuldig«. Selbst wenn es Pflichten von minderer Bedeutung, die nämlich nicht das Notwendige, sondern nur das Verdienstliche meiner Pflichtbefolgung betreffen, spreche ich so, z.B.: »ich bin es mir selbst schuldig, meine Geschicklichkeit für den Umgang mit Menschen u.s.w. zu erweitern (mich zu kultivieren)«.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 547,553.
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