Neunzehntes Kapitel.
Ueber die Schwärmerei

[326] § 1. (Die Liebe zur Wahrheit ist nothwendig.) Wer die Aufsuchung der Wahrheit sich ernstlich vorsetzt, muss vor Allem seine Seele mit der Liebe zu ihr erfüllen; denn wer sie nicht liebt, wird sich nicht viel um sie bemühen und ihren Mangel wenig empfinden. Jedermann in dem Gelehrten-Staat bekennt sich als ein Liebhaber der Wahrheit, und jedes vernünftige Wesen würde sich verletzt fühlen, wenn man anders von ihm dächte. Dennoch dürfte es wenig Liebhaber der Wahrheit um ihrer selbst willen gehen; selbst unter Denen, die sich selbst dafür halten. Ob Jemand es im Ernste sei, ist schon der Untersuchung werth, und es dürfte ein unfehlbares Zeichen dafür geben, nämlich das, dass man keinen Satz mit grösserer Zuversicht festhält, als die Gründe, auf die er sich stützt, rechtfertigen. Wer darüber hinausgeht, sucht die Wahrheit offenbar nicht aus Liebe zu ihr, und liebt sie nicht um ihretwillen, sondern eines andern Zweckes wegen. Da die Gewissheit eines Satzes (mit Ausnahme der selbstgewissen) nur auf seinen Gründen beruht, so ist jeder Ueberschuss an Zustimmung über diesen Grad der Gewissheit hinaus aus einer andern Neigung entsprungen und nicht aus der Liebe zur Wahrheit; denn diese kann die Zustimmung nicht über die Gewissheit ihrer Wahrheit hinaus führen und auch nicht einem Satze aus einer Gewissheit beitreten lassen, die ihm abgeht. Darin besteht gerade die Liebe zur Wahrheit; denn es bleibt immer möglich oder wahrscheinlich, dass der Satz nicht wahr ist. Wenn eine Wahrheit den Geist nicht durch das unwiderstehliche Licht der Selbstgewissheit oder durch die Kraft ihres Beweises erfasst, so sind die Gründe für die Zustimmung zu ihr nur die Zeugen und das Unterpfand ihrer Wahrscheinlichkeit, und man darf sie nur in dem Maasse aufnehmen, als diese sie dem Verstände zuführen. Jedes Vertrauen und jedes Fürwahrhalten, das man einem solchen Satze mehr zuwendet, als die Grundsätze und Gründe für ihn rechtfertigen,[326] kommen aus besondern Neigungen, und sind insoweit eine Minderung der Liebe zur Wahrheit. So wenig sie auf die Leidenschaften und Interessen sich stützen darf, so wenig sollte sie auch nur eine Färbung von denselben bekommen.

§ 2. (Woher die Neigung zu Befehlen kommt.) Mit dieser Neigung und mit diesem Verderb des Urtheilens verbindet sich stets die Neigung, gegen Andere sich ein Ansehn zu geben, ihnen zu gebieten und vorzuschreiben, was sie vor wahr halten sollen. Wie sollte auch Jemand nicht Andern in ihren Meinungen Gewalt anthun, der sie sich selbst schon angethan hat? Wie kann man Gründe und Ueberführung von Jemand in seinem Verkehr mit Andern erwarten, der seinen Verstand nicht einmal in dem Verkehr mit sich selbst daran gewöhnt hat, und seinen Fähigkeiten Gewalt anthut, seinen Geist tyrannisirt, und das Vorrecht beansprucht, was nur der Wahrheit gebührt, nämlich die Zustimmung blos auf ihr alleiniges Ansehn hin zu verlangen, d.h. durch die Gewissheit, welche sie mit sich führt.

§ 3. (Die Kraft der Schwärmerei.) Ich betrachte hier noch eine dritte Ursache der Zustimmung, welche für Manche das gleiche Ansehn und dieselbe Zuverlässigkeit hat, wie der Glaube und die Vernunft; ich meine die Schwärmerei. Sie möchte die Vernunft bei Seite schieben und die Offenbarung ohne sie gelten lassen; allein in Wirklichkeit hebt sie beide auf und stellt an deren Stelle die grundlosen Einfälle des eignen Gehirns, die dann als Grundlage der Wahrheit und des Lebenswandels gelten.

§ 4. (Vernunft und Offenbarung.) Die Vernunft ist die natürliche Offenbarung, durch welche der ewige Vater des Lichts und die Quelle alles Wissens der Menschheit den Antheil an der Wahrheit gewährt, welchen er in den Bereich ihrer natürlichen Vermögen gelegt hat; die Offenbarung ist die natürliche Vernunft, erweitert durch eine Zugabe neuer Wahrheiten, die Gott unmittelbar gewährt und deren Wahrheit die Vernunft bestätigt durch das Zeugniss und die Gründe, die sie dafür beibringt, dass sie von Gott kommen. Wer deshalb die Vernunft beseitigt, um der Offenbarung den Weg zu bahnen, der löscht das Licht von beiden aus und verlangt[327] gleichsam, man solle seine Augen zumachen, um durch das Fernrohr das entfernte Licht eines unsichtbaren Sternes desto besser empfangen zu können.

§ 5. (Die Entstehung der Schwärmerei.) Da die unmittelbare Offenbarung ein viel leichterer Weg ist, um seine Meinung zu begründen und sein Verhalten zu rechtfertigen, als die ermüdende und nicht immer glückliche Arbeit einer strengen Begründung, so kann es nicht auffallen, dass Manche gern eine Offenbarung behaupten, und meinen, sie ständen in ihrem Handeln und Glauben unter einer besondern Führung des Himmels, namentlich wenn sie mit den gewöhnlichen Regeln des Wissens und der Vernunft dabei nicht auskommen können. Deshalb finden sich in jedem Zeitalter Menschen, in denen Schwermuth mit Andacht gemischt ist, oder die in Selbsttäuschung meinen, Gott näher als Andere zu stehen, der ihnen gewogener sei und mit dem sie in unmittelbarem Verkehr zu stehen sich schmeicheln, weshalb der heilige Geist ihnen Mittheilungen mache. Gott kann gewiss den Verstand durch einen Strahl erleuchten, der aus der Quelle des Lichts unmittelbar in die Seele dringt, und so meinen Jene, dass Gott ihnen dies zugesagt habe. Wer sollte auch mehr zu dieser Erwartung berechtigt sein, als Die, welche sein besonderes Volk bilden, das er auserwählt hat, und das von ihm abhängt?

§ 6. (Schwärmerei.) Wenn die Seele so vorbereitet ist, so gilt jede grundlose Meinung, die sich in der Phantasie festsetzt, als eine Erleuchtung durch den Geist Gottes und von göttlicher Autorität. Wenn eine Handlung auch noch so verkehrt ist, so gilt doch die in ihnen vorhandene Neigung dazu für ein Gebot oder eine Leitung des Himmels, der zu gehorchen ist; es ist ein Auftrag von Oben, und sie können in dieser Ausführung nicht irren.

§ 7. Dies ist die Schwärmerei. Sie stützt sich weder auf die Vernunft noch auf die Offenbarung, sondern entspringt aus den Täuschungen eines erhitzten und übermüthigen Gehirns, und wirkt, wenn sie erst Fuss gefasst hat, mächtiger auf die Ueberzeugungen und Handlungen der Menschen, als jene beiden einzeln oder vereint; denn der Mensch gehorcht gern seinen eigenen Antrieben, und der ganze Mensch vermag sicher kräftiger[328] zu handeln, wo der ganze Mensch durch eine natürliche Erregung erfasst ist. Eine starke Einbildung reisst gleich einem neuen Grundsatz leicht alles Andere mit sich fort, wenn sie einmal den gesunden Sinn überwunden und sich aus den Schranken der Vernunft und den Hemmnissen der Ueberlegung befreit hat; dann erhebt sie im Verein mit Temperament und Neigung sich zu göttlicher Autorität.

§ 8. (Die Schwärmerei gilt fälschlich für ein Sehen und Fühlen.) Obgleich die sonderbaren Meinungen und die verkehrten Handlungen, zu denen die Schwärmerei geführt hat, gegen diese falsche Macht hätten warnen sollen, die so leicht die Meinung und das Handeln irre leitet, so schmeichelt doch die Liebe zu etwas Ausserordentlichem, die Bequemlichkeit und der Ruhm göttlicher Eingebungen und einer Erhabenheit über die natürlichen Wege der Erkenntniss die Trägheit, Unwissenheit und Eitelkeit der Menschen so, dass, wenn sie einmal auf diese Wege der unmittelbaren Offenbarung, der Erleuchtung ohne eignes Thun, der Gewissheit ohne Gründe und ohne Prüfung gekommen sind, sie schwer wieder davon abzubringen sind. Die Vernunft ist bei ihnen verloren; sie stehen über ihr; sie sehen das in ihren Verstand gegossene Licht und können nicht irren; es ist dort so klar und sichtbar wie das Licht der Sonne; es zeigt sich selbst und bedarf für seine Gewissheit keines andern Grundes; sie fühlen, wie die Hand Gottes sie innerlich führt; sie empfinden die Antriebe des heiligen Geistes und können sich in dem, was sie fühlen, nicht irren. So rechtfertigen sie sich und sind überzeugt, dass die Vernunft mit dem nichts zu thun habe, was sie in sich sehen und fühlen; dessen sichtbare Wahrnehmung gestattet keinen Zweifel und braucht keinen Beweis. Wäre es nicht lächerlich, wenn Jemand den Beweis verlangte, dass die Sonne scheine und dass er sie sehe? Sie ist ihr eigner Beweis, und sie kann keinen andern haben. Wenn der heilige Geist Licht in unser Seele bringt, so verjagt er die Finsterniss. Sie sehen es, wie die Sonne am Mittag, und brauchen nicht des Zwielichts der Vernunft, um es zu sehen. Dieses Himmelslicht ist stark, klar und rein, hat seinen Beweis an sich selbst, und man kann ebenso gut ein Johanniswürmchen[329] nehmen, damit es uns helfe, die Sonne zu sehen, wie dass man den himmlischen Strahl mit der trüben Kerze der Vernunft untersuchen will.

§ 9. (Wie man die Schwärmerei erkennt.) So sprechen diese Leute; sie sind ihrer Meinung gewiss, weil sie es sind; und ihre Ueberzeugungen sind wahr, weil sie stark in ihnen sind. Nimmt man von ihren Reden die bildlichen Ausdrücke vom Sehen und Fühlen hinweg, so bleibt nur dieser Rest; allein diese Gleichnisse machen auf sie einen solchen Eindruck, dass sie als Gewissheit bei ihnen selbst und als Beweise für Andere gelten.

§ 10. Prüft man mit Besonnenheit dieses innere Licht und dieses Gefühl, auf das jene Personen so Vieles stützen, so kann man ihnen, wenn sie sagen, dass sie klares Licht haben und sehen, und dass sie wachen Sinnes seien und fühlen, dies nicht bestreiten. Denn wenn Jemand behauptet, er sehe oder fühle, so kann man nicht leugnen, dass es der Fall sei. Allein ich frage: Ist das Sehen die Erfassung der Wahrheit des Satzes selbst oder nur dessen, dass er eine Offenbarung Gottes sei? Ist dies Gefühl nur die Wahrnehmung der eignen Neigung oder Einbildung, Etwas zu thun, oder die Wahrnehmung des Geistes Gottes, der diese Neigung bestimmt? Dies sind zwei sehr verschiedene Wahrnehmungen, die man nicht vermengen darf, wenn man sich nicht selbst täuschen will. Ich kann die Wahrheit eines Satzes erfassen, ohne wahrzunehmen, dass es eine unmittelbare, von Gott kommende Offenbarung ist. Ich kann die Wahrheit eines Lehrsatzes im Euklid erkennen, ohne ihn als eine Offenbarung aufzufassen; ja, ich kann bemerken, dass ich nicht auf natürlichem Wege zu diesem Wissen gekommen bin und es deshalb für geoffenbart erachten, ohne doch wahrzunehmen, dass es eine von Gott kommende Offenbarung ist; denn es können ja Geister ohne göttlichen Auftrag diese Gedanken in mir erwecken und sie so ordnen, dass ich ihren Zusammenhang einsehe. Deshalb genügt der Umstand, dass ich nicht weiss, wie ein Satz in mein Wissen gekommen ist, nicht, um ihn als von Gott offenbart zu nehmen. Noch weniger ist die feste Ueberzeugung von seiner Wahrheit ein Beweis, dass er von Gott komme. Mag er immerhin[330] Licht und Sehen genannt werden, so bleibt es doch nur Glaube und Zuversicht, und der für eine Offenbarung genommene Satz wird nicht als wahr gewusst, sondern nur für wahr gehalten. Denn wo ein Wissen ist, da ist die Offenbarung überflüssig, und es ist schwer, eine Offenbarung dessen zu begreifen, was man schon weiss. Sind Jene daher von einem Satze nur überzeugt, dass er wahr sei, aber wissen sie dies nicht, so ist dies, was sie auch sagen mögen, kein Sehen, sondern ein Glauben; da diese beiden Wege zum Wissen ganz verschieden sind und einer nicht der andere sein kann. Was ich sehe, weiss ich vermittelst des Zeugnisses des Gegenstandes selbst; was ich glaube, nehme ich auf das Zeugniss eines Andern an; allein ich muss wissen, dass dieses Zeugniss abgelegt ist; sonst fehlt der Grund für den Glauben. Ich muss sehen, dass Gott es ist, der mir es offenbart, oder ich sehe überhaupt Nichts. Es fragt sich deshalb hier: Wie kann ich wissen, dass Gott es ist, der mir es offenbart; dass dieser Eindruck auf meine Seele durch seinen heiligen Geist geschehen ist, und das ich deshalb ihm zu gehorchen habe? Wenn ich dies nicht weiss, so bleibt selbst die grösste Zuversicht in mir ohne Grund, und das Licht, was ich behaupte, ist nur Schwärmerei, Denn mag der angeblich offenbarte Satz selbstverständlich wahr sein, oder nur augenscheinlich wahrscheinlich, oder auf den natürlichen Wegen des Wissens ungewiss, so muss doch immer der Satz wohl begründet und offenbar wahr sein, dass Gott ihn offenbart habe, und dass das, was ich für eine Offenbarung nehme, auch wirklich von ihm mir eingegeben und keine Einbildung ist, die mir ein anderer Geist oder meine Phantasie eingeflösst hat. Denn offenbar halten diese Leute ihre Sätze nur deshalb für wahr, weil Gott sie offenbart habe. Müssen sie daher nicht prüfen, weshalb sie dies annehmen? Ohnedem wäre ja all ihre Zuversicht nur eine Vermuthung, und das Licht, was sie so blendet, wäre nur ein Irrlicht, was sie im Kreise herumführte. Der Satz ist dann eine Offenbarung, weil sie ihn fest glauben, und sie glauben ihn fest, weil er eine Offenbarung ist.

§ 11. (Die Schwärmerei entbehrt der Gewissheit, dass der Satz von Gott komme.) Bei aller göttlichen Offenbarung bedarf es nur der Gewissheit,[331] dass sie von Gott komme; denn Gott kann weder betrügen noch betrogen werden. Wie will man aber wissen, dass ein in der Seele enthaltener Satz eine von Gott ihr eingeflösste Wahrheit sei? eine Wahrheit, die Gott ihr offenbart habe, die Gott ausgesprochen und die deshalb geglaubt werden müsse? Hier fehlt der Schwärmerei die Gewissheit, die sie in Anspruch nimmt. Die ihr ergebenen Personen rühmen sich eines Lichtes, was sie erleuchtet habe, und was ihnen die Erkenntniss dieser oder jener Wahrheit gewährt habe; allein wenn sie wissen, dass es die Wahrheit ist, so müssen sie das entweder vermöge deren vernünftiger Selbstgewissheit wissen oder durch vernünftige Gründe, die sie zur Wahrheit erheben. Sehen und erkennen Jene diese Wahrheit auf einem dieser beiden Wege, so nehmen sie ohne Noth an, dass sie offenbart sei. Denn sie wissen dies dann in derselben Weise, wie auch Andere auf natürlichem Wege, ohne Hülfe der Offenbarung, es wissen können. Alle Wahrheiten der nicht inspirirten Menschen kommen so in deren Seele und befestigen sich auf diese Weise. Stützen sie dagegen die Wahrheit darauf, dass Gott den Satz offenbart habe, so ist dieser Grund an sich gut; allein dann entsteht die Frage, woher sie wissen, dass es eine Offenbarung Gottes sei? Sagen sie, vermöge des Lichts, was der Satz mit sich führt, das in ihre Seele scheint, und dem sie nicht widerstehen können, so dürfte dies nur das sein, was wir schon betrachtet haben, nämlich, dass der Satz eine Offenbarung sei, weil sie fest an seine Wahrheit glauben. Denn alles Licht, von dem sie sprechen, ist nur eine starke, aber unbegründete Ueberzeugung, dass es eine Wahrheit sei; da sie anerkennen müssen, dass sie vernünftige Gründe für dessen Wahrheit nicht haben. Dann ist also der Satz nicht als Offenbarung angenommen, sondern aus den für jede Wahrheit geltenden Gründen, und wenn sie glauben, er sei wahr, weil er offenbart sei, sie aber für diesen Umstand nichts anführen können, als ihre persönliche Ueberzeugung, so glauben sie nur, er sei offenbart, blos weil sie fest glauben, dass er offenbart sei; ein Grund, der sowohl für Lehrsätze wie für Handlungen sehr gefährlich ist. Wie kann man wohl leichter sich selbst zu den verkehrtesten Irrthümern und Handlungen verirren, als[332] wenn man in dieser Weise die Einbildung zu dem höchsten und alleinigen Führer nimmt, und man jeden Satz für wahr, jede Handlung für recht hält, blos weil man es glaubt? Die Stärke der Ueberzeugung ist durchaus kein Beweis für die Wahrheit des Inhalts; krumme Dinge können so steif und unbiegsam sein wie gerade, und der Mensch kann in seinem Irrthume ebenso bestimmt und zweifellos auftreten wie bei der Wahrheit. Wo sollten sonst die unverbesserlichen Eiferer in den verschiedenen und entgegengesetzten Parteien herkommen? Wenn das Licht, was Jeder in seiner Seele zu haben meint, und was nur in der Stärke seiner Ueberzeugung besteht, ein Zeugniss sein soll, dass der Satz von Gott komme, so haben die entgegengesetzten Meinungen gleichen Anspruch darauf, und Gott ist dann nicht blos der Vater des Lichts, sondern auch eines gegensätzlichen und widersprechenden Lichts, was die Menschen auf entgegengesetzte Wege führt, und Sätze, die sich widersprechen, sind dann göttliche Wahrheiten, wenn eine unbegründete Ueberzeugung genügt, irgend einen Satz zu einer göttlichen Offenbarung zu machen.

§ 12. (Die Festigkeit der Ueberzeugung ist kein Beweis, dass ein Satz von Gott komme.) Dies kann nicht anders sein, wenn die Festigkeit der Ueberzeugung zu einem Grand für den Glauben erhoben und die Zuversicht, im Rechten zu sein, als ein Beweis der Wahrheit gilt. Der heilige Paulus selbst glaubte recht zu handeln, und dass er dazu berufen sei, als er die Christen verfolgte, weil er von deren Irrthümern überzeugt war; dennoch war er es, und nicht sie, die im Irrthum waren. Auch die guten Menschen bleiben Menschen und dem Irrthume unterworfen; oft sind sie warm für einen Irrthum eingenommen, den sie für göttliche Wahrheit halten, weil er mit dem klarsten Licht in ihre Seele scheint.

§ 13. (Was das Licht in der Seele ist.) Das Licht oder das wahre Licht in der Seele ist und kann nur die Gewissheit von der Wahrheit eines Satzes sein; ist es kein Selbstgewisser Satz, so kommt alles Licht, was er hat oder haben kann, von der Klarheit und Beweiskraft der Gründe, aus denen er angenommen wird. Spricht man von einem andern Licht in der Seele, so[333] bringt man sich selbst nur in die Finsterniss oder in die Gewalt des Fürsten, der Finsterniss, und man giebt sich freiwillig der Täuschung hin und glaubt die Lüge. Denn soll die Stärke der Ueberzeugung uns fuhren, wie kann man da die Täuschungen des Satan von den Eingebungen des heiligen Geistes unterscheiden? Jener kann sich in einen Engel des Lichts verwandeln; und wer von einem solchen Engel geleitet wird, ist seiner Erleuchtung ebenso sicher, d.h. er ist ebenso überzeugt, dass der Geist Gottes ihn erleuchte, als wenn es ein wirklicher Engel wäre. Er beruhigt sich dabei und erfreut sich daran, und wird dadurch in seinem Handeln bestimmt; Niemand kann mehr als er in dem Rechte sein, wenn der eigne feste Glaube allein entscheiden kann.

§ 14. (Die Offenbarung muss mit der Vernunft geprüft werden.) Wer sich daher nicht ganz den Aasgeburten der Täuschung und des Irrthums überliefern will, muss dieses Licht, was ihn führt, auf die Probe stellen. Wenn Gott einen Propheten schafft, so zerstört er nicht den Menschen; er lässt vielmehr all seine natürlichen Fähigkeiten in dem natürlichen Stande, damit er über die empfangenen Eingebungen urtheile, ob sie göttlichen Ursprunges seien oder nicht. Wenn Gott die Seele mit einem übernatürlichen Licht erleuchtet, so löscht er deshalb nicht sein natürliches Licht aus. Wenn wir nach ihm der Wahrheit eines Satzes zustimmen sollen, so begründet er entweder diese Wahrheit durch das gewöhnliche Verfahren der natürlichen Vernunft, oder er giebt es sonst zu erkennen, dass es eine Wahrheit sei, der wir auf Grund seines Ansehens beizustimmen haben, und zeigt dies uns durch gewisse Zeichen, welche die Vernunft nicht missverstehen kann. Die Vernunft muss zuletzt in allen Dingen unser Richter und Führer sein. Wir brauchen unsre Vernunft nicht zu Rathe zu ziehen, und nicht zu ermitteln, ob ein von Gott offenbarter Satz durch die natürlichen Mittel aufgefunden werden kann, und ich will nicht, dass, wenn dies nicht möglich, er dann verworfen werden solle; allein man muss die Vernunft zu Rathe ziehen und die Frage, ob es eine Offenbarung Gottes ist oder nicht, prüfen. Findet dies die Vernunft, so erklärt sich dann dieselbe für den Satz, wie für jede andere Wahrheit, und macht ihn zu einem ihrer Gebote.[334] Jede Täuschung, die unsre Einbildungskraft erhitzt, müsste für eine göttliche Eingebung gelten, wenn die Stärke der Ueberzeugung genügte, und wenn die Vernunft ihre Wahrheit nicht nach Etwas dieser Ueberzeugung Aeusserlichem zu prüfen hätte; göttliche Eingebungen und blosser Wahn, die Wahrheit und die Unwahrheit hätten dann dasselbe Maass und könnten nicht unterschieden werden.

§ 15. (Der Glaube ist kein Beweis für die Offenbarung.) Wenn dies innere Licht oder ein Satz, den man danach für göttlich eingegeben ansieht, sich mit den Grundsätzen der Vernunft oder mit dem Worte Gottes verträgt, was wirklich offenbart ist, so verbürgt ihn die Vernunft; man kann ihn dann getrost für wahr halten und das eigne Benehmen und Handeln danach einrichten, Wenn aber keine dieser Regeln ein Zeugniss dafür abgiebt, so kann man ihn nicht für eine Offenbarung halten, und auf diese Gründe seine Wahrheit nicht stützen, so lange man nicht ein anderes Zeichen, neben dem eigenen Glauben, für seine Offenbarung hat. So hatten die heiligen Männer der alten Zeit, die von Gott Offenbarungen empfingen, noch Etwas neben diesem innern Licht der Ueberzeugung, was ihnen bezeugte, dass die Offenbarung von Gott komme. Sie stützten sich hierbei nicht blos auf ihre Ueberzeugung, dass diese Ueberzeugung von Gott komme, sondern sie hatten äussere Zeichen, die ihnen über den Urheber dieser Offenbarungen Gewissheit gaben. Und wenn sie Andere davon überführen sollten, war ihnen eine Macht zur Rechtfertigung ihres vom Himmel erhaltenen Auftrags gegeben, und sie konnten durch sichtbare Zeichen das göttliche Ansehn der Botschaft bekräftigen, mit der sie beauftragt waren. Moses sah den brennenden Busch, der sich nicht verzehrte, und hörte eine Stimme aus demselben; dies war etwas Besonderes neben dem in seiner Seele befindlichen Trieb, zu Pharao zu gehen, um seine Brüder aus Egypten zu führen, und doch genügte ihm dies noch nicht, um mit dieser Botschaft vor Pharao zu treten, bis Gott durch ein zweites Wunder, welches seinen Stab in eine Schlange verwandelte, ihn der Macht versichert hatte, die seine Sendung bezeugen sollte, indem er dasselbe Wunder nochmals vor Denen verrichtete, zu Denen er gesandt war. Gideon ward durch einen Engel abgesandt,[335] um Israel von den Midianitem zu befreien, und dennoch verlangte er ein Zeichen, das ihn vergewissere, dass der Auftrag von Gott komme. Diese und andere Beispiele bei den alten Propheten zeigen, dass ihnen das innere Schauen oder die Ueberzeugung in ihrer Seele ohne andere Beweise nicht als das genügende Zeugniss dafür galten, dass Etwas von Gott komme, wenn auch die heilige Schrift nicht immer erwähnt, dass sie solche Beweise gefordert oder empfangen haben.

§ 16. Mit dem hier Gesagten will ich durchaus nicht bestreiten, dass Gott mitunter durch seinen unmittelbaren Einfluss die Seele eines Menschen zur Annahme einer Wahrheit erleuchte oder ihn zu guten Handlungen antreibe; der heilige Geist unterstützt ihn, ohne dass dabei ausserordentliche Zeichen hinzukommen. Aber auch in solchen Fällen hat man die Bibel und die Vernunft als untrügliche Regeln, um zu erkennen, ob es von Gott komme oder nicht. Ist die aufgenommene Wahrheit mit den Offenbarungen in Gottes geschriebenem Wort übereinstimmend, oder entspricht die Handlung dem Gebote der rechten Vernunft und der heiligen Schrift, so kann man ohne Gefahr sie als eine Offenbarung nehmen; denn wenn es auch keine solche unmittelbare, in ausserordentlicher Weise auf die Seele wirkende sein sollte, so kann man doch sicher sein, dass sie durch die Offenbarung verbürgt ist, welche uns Gott als die Wahrheit gegeben hat. Allein man darf sich hierbei nicht auf die Stärke der persönlichen Ueberzeugung verlassen und darauf fassend es als ein Licht oder eine Erregung nehmen, die vom Himmel gekommen sei. Dies vermag nur das geschriebene Wort Gottes ausser uns und das allen Menschen gemeinsame Maass der Vernunft. Wo die Vernunft und die Schrift für eine Meinung oder Handlung sind, da kann man sie als von Gott kommend annehmen; dagegen kann die Stärke der eignen Ueberzeugung allein sie nicht dazu stempeln. Die Neigungen unsers Gemüths können sie begünstigen; dies zeigt, dass sie uns lieb ist; aber dies beweist in keinem Falle, dass sie dem Himmel entsprungen und göttlichen Ursprunges ist.[336]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 326-337.
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
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