Gedächtnis, Reproduktion und Association.

[31] 1. Auf einem Spaziergang durch die Straßen von Innsbruck begegnet mir ein Herr, dessen Gesicht, Gestalt, Gang und Redeweise mir die lebhafte Vorstellung eines solchen Gesichtes, Ganges u.s.w. in einer andern Umgebung, in Riva am Gardasee, erregt. Ich erkenne den Herrn A, der in der Umgebung I als sinnliches Erlebnis vor mir steht, als denselben, der auch einen Bestandteil meiner Erinnerungsvorstellung mit der Umgebung R ausmacht. Das Wiedererkennen, Identifizieren hätte keinen Sinn, wenn A nicht zweimal gegeben wäre. Alsbald fallen mir auch mit A in R geführte Gespräche ein, ich erinnere mich der Ausflüge in seiner Gesellschaft u.s.w. Ähnliche Tatsachen, die wir bei den mannigfaltigsten Anlässen beobachten, lassen sich in eine Regel zusammenfassen: Ein sinnliches Erlebnis aus den Bestandteilen ABCD... bringt ein früheres sinnliches Erlebnis mit den Bestandteilen AKLM... in Erinnerung, d.h. letzteres tritt als Vorstellung auf, wird reproduziert. Da nun die Reproduktion von KLM... durch BCD... im allgemeinen nicht erfolgt, so ergibt sich die natürliche Ansicht, daß dieselbe durch den gemeinsamen Bestandteil A eingeleitet wird und von diesem ausgeht. An die Reproduktion von A schließt sich jene von KLM..., die mit A unmittelbar oder mit andern bereits reproduzierten Gliedern gleichzeitig (in zeitlicher Berührung) sinnlich gegeben waren. Auf dieses einzige Associationsgesetz lassen sich alle hierher gehörigen Vorgänge zurückführen.

2. Die Association ist von großer biologischer Wichtigkeit. Auf derselben beruht jede psychische Anpassung an die Umgebung, jede vulgäre und auch jede wissenschaftliche Erfahrung. Wenn die Umgebung der Lebewesen nicht wenigstens aus annähernd konstant bleibenden Teilen bestünde, oder in periodisch[31] sich wiederholende Ereignisse sich zerlegen ließe, wäre die Erfahrung unmöglich, die Association wertlos. Nur bei unveränderter Umgebung kann der Vogel an den sichtbaren Teil der Umgebung die Vorstellung der Lage seines Nestes anschließen. Nur wenn immer dasselbe Geräusch den nahenden Feind oder die fliehende Beute voraus ankündigt, kann die associierte Vorstellung dazu dienen, die entsprechende Flucht- oder Angriffsbereitschaft auszulösen. Eine annähernde Stabilität macht die Erfahrung möglich, und die tatsächliche Möglichkeit der Erfahrung läßt umgekehrt auf die Stabilität der Umgebung schließen. Der Erfolg rechtfertigt unsere wissenschaftlich-methodische Voraussetzung der Beständigkeit.18

3. Das neugeborene Kind ist, wie ein Tier von niederer Organisation, auf seine Reflexbewegungen angewiesen. Es hat den angeborenen Trieb zu saugen, zu schreien, wenn es der Hilfe bedarf u.s.w. Heranwachsend erwirbt es, wie die höheren Tiere, durch Association die ersten primitiven Erfahrungen. Es lernt die Berührung der Flamme, das Anstoßen an harte Körper als schmerzhaft vermeiden, lernt mit dem Anblick des Apfels die Vorstellung von dessen Geschmack verbinden u.s.w. Bald aber läßt es alle Tiere an Reichtum und Feinheit der Erfahrung weit hinter sich. Es ist sehr lehrreich, die Bildung der Associationen an jungen Tieren zu beobachten, wie dies C. L. Morgan19 an jungen Hühnchen und Enten systematisch getan hat, die in einem Brutofen ausgeschlüpft waren. Die Hühnchen sind wenige Stunden nach dem Ausschlüpfen schon mit zweckmäßigen Reflexbewegungen ausgestattet. Sie laufen, picken nach auffallenden Objekten und treffen dieselben mit Sicherheit. Rebhühner sieht man sogar, noch zum Teil mit der Eierschale bedeckt, davonlaufen. Die jungen Hühnchen pickten[32] anfänglich nach allem, nach den Lettern eines bedruckten Blattes, nach den eigenen Zehen, nach den eigenen Exkrementen. Im letzteren Falle warf aber das Hühnchen das schlecht schmeckende Objekt sofort wieder weg, schüttelte den Kopf und reinigte den Schnabel wetzend am Boden. Ähnlich verfuhr das Tier, nachdem es eine Biene oder Raupe von schlechtem Geschmack aufgefaßt hatte. Das Picken nach unpassenden, nicht zweckdienlichen Objekten hört aber bald auf. Eine Schale mit Wasser lassen die Hühnchen unbeachtet, trinken aber sofort, sobald sie beim Laufen mit den Füßen zufällig ins Wasser geratene.20 Junge Entchen hingegen stürzen gleich in die dargebotene Wasserschale, waschen sich in derselben, tauchen unter u.s.w. Als ihnen am nächsten Tage dieselbe Schale leer dargeboten wurde, stürzten sie wieder in dieselbe hinein und führten auch da dieselben Bewegungen aus wie im Wasser. Sie lernten aber bald die leere Schale von der gefüllten unterscheiden. Ich selbst deckte einmal ein Trinkglas über ein vor mehreren Stunden ausgeschlüpftes Hühnchen und brachte eine Fliege in seine Gesellschaft. Sofort begann eine höchst ergötzliche, aber resultatlose Jagd. Das Hühnchen war doch noch zu wenig geschickt.

4. Die Manieren der Hühner und Enten sind den jungen Tieren angeboren; sie üben dieselben ohne jeden Unterricht. Dieselben sind durch den Bewegungsmechanismus vorbereitet, ebenso wie die Lautäußerungen. Man unterscheidet bei Hühnchen die Lautäußerung der Behaglichkeit, wenn sie sich in die dargebotene warme Hand verkriechen, den Gefahrschrei beim Anblick etwa eines großen schwarzen Käfers, das Geschrei der Einsamkeit u.s.w. Soviel auch bei diesen Tieren mechanisch vorbereitet und angeboren ist, so sehr auch das Zustandekommen gewisser Associationen anatomisch begünstigt und erleichtert sein mag, die Associationen selbst sind nicht angeboren, sondern müssen durch individuelle Erfahrung erworben werden.

Dies wird wohl richtig sein, wenn wir die Bezeichnung »Association« nur auf (bewußte) Vorstellungen anwenden. Nehmen wir dieselbe in dem weiteren Sinne einer Auslösung gleichzeitig[33] stattgehabter organischer Vorgänge durcheinander, so möchte die Grenze zwischen Angeborenem (Ererbtem) und individuell Erworbenem recht schwer zu ziehen sein. Und so muß es sich wohl verhalten, sollen die Erwerbungen der Art vom Individuum vermehrt oder modifiziert werden. Mein zahmer Sperling kennt keine Furcht, setzt sich den Familiengliedern auf die Schulter, zupft sie an Haaren und Bart, wehrt sich tapfer und mit Zorngeschnatter gegen die Hand, die ihn von der Schulter einer bevorzugten Person vertreiben will. Doch zucken seine Flügel nervös bei jedem Geräusch, bei jeder Bewegung in seiner Umgebung. Wenn er beim Mittagstisch kleine Bissen auffaßt, so fliegt er mit jedem, wenn auch nur einen Fuß weit, fort, ganz wie seine Kollegen auf der Straße, obgleich er von keinem Genossen gestört wird.

Junge Hühnchen, die im Brutofen gezogen wurden, beachten das Glucken der Henne nicht, fürchten weder die Katze noch den Falken. Wenn junge, noch blinde Kätzchen, mit einer Hand angefaßt, die eben einen Hund gestreichelt hat, wirklich fauchen sollten, so müßte man diese Äußerung für einen Geruchsreflex halten.21 Durch ungewöhnliche Erscheinungen werden junge Tiere allerdings leicht in Furcht gesetzt. So schlucken junge Hühner, die mit kleinen Würmern gefüttert werden, gelegentlich auch gedrehte Wolle, bleiben aber vor einem großen Stück derselben bedenklich stehen. Ein junger zahmer Sperling getraute sich lange nicht an seinen Futterbehälter, als versuchsweise ein großer Mehlwurm in denselben getan wurde.22 Die Furcht vor dem Ungewöhnlichen, Auffallenden scheint eben für viele Tiere eines der wichtigsten Schutzmittel zu sein.

5. Bei höher entwickelten Tieren kann man die Bildung von Associationen noch auffallender wahrnehmen und zugleich deren Dauerhaftigkeit konstatieren. In dem Dorfe, in welchem ich einen Teil meiner Jugend zugebracht habe, hatten viele Hunde, von den Dorfjungen schikaniert, die Gewohnheit angenommen, winselnd auf drei Beinen davonzulaufen, sobald jemand einen Stein vom Boden aufhob. Natürlich war man geneigt, dies nach[34] menschlichem Maß für einen schlauen Kunstgriff zur Erregung des Mitleids zu halten. Selbstverständlich war es aber nur eine lebhafte, associierte Erinnerung an die Qual, welche zuweilen dem aufgehobenen Stein gefolgt war. Einen jungen Jagdhund meines Vaters sah ich einmal ungestüm einen Ameisenhaufen durchwühlen, darauf aber sofort sein empfindliches Geruchsorgan in verzweifelter Weise mit den Pfoten putzen. Von da an respektierte er sorgfältig das Domizil der Ameisen. Als einmal dieser Hund durch seine unerwünschte übertriebene Anhänglichkeit mich in der Arbeit beharrlich störte, klappte ich ihm ein Buch mit lautem Schall vor der Nase zu. Erschrocken zog er sich zurück. Das Ergreifen eines Buches genügte von da an, um jede Störung fernzuhalten. Dieser Hund muß, nach seinem Muskelspiel im Schlaf zu urteilen, auch eine lebhafte Traumphantasie gehabt haben. Als er einmal ruhig schlafend dalag, brachte ich ein kleines Stückchen Fleisch in die Nähe seiner Nase. Nach einiger Zeit begann ein lebhaftes Muskelspiel, insbesondere der Nasenflügel. Nach einer halben Minute etwa erwachte der Hund, schnappte den Bissen und schlief dann ruhig weiter. Von der Dauerhaftigkeit der Associationen dieses Hundes konnte ich mich ebenfalls überzeugen. Als ich nach neunjähriger Abwesenheit im Dunkel des Abends und zu Fuß unerwartet ins Vaterhaus kam, empfing mich der Hund mit wütendem Gebell; ein einziger Anruf genügte aber, um sofort das freundlichste Benehmen desselben auszulösen. Ich halte daher die homerische Erzählung von dem Hunde des Odysseus für keine poetische Übertreibung.23

6. Die Wichtigkeit der Vergleichung eines sinnlichen Erlebnisses ABCD... mit einem in der Vorstellung reproduzierten sinnlichen Erlebnis AKLM... kann für die psychische Entwicklung gar nicht hoch genug angeschlagen werden. Die einzelnen[35] Buchstaben mögen zunächst ganze Komplexe von Elementen bedeuten. A sei z.B. ein Körper, den wir einmal in der Umgebung BCD... angetroffen haben, jetzt aber in der Umgebung KLM... treffen, ein Körper etwa, der sich vor seinem Grunde bewegt und der eben dadurch als ein besonderes Gebilde von relativer Selbständigkeit erkannt wird. Geben wir nun den einzelnen Buchstaben die Bedeutung von einzelnen Elementen (Empfindungen), so lernen wir diese als selbständige Bestandteile unserer Erlebnisse kennen, indem z.B. das Rotgelb A nicht nur an der Orange, sondern auch an einem Stück Tuch, einer Blume oder einem Mineral, also in verschiedenen Komplexen auftritt. Aber nicht nur die Analyse, sondern auch die Kombination beruht auf der Association. A sei z.B. das Gesichtsbild einer Orange, bezw. einer Rose, während K in dem reproduzierten Komplex den Geschmack der Orange, bezw. den Geruch der Rose bedeute. Sofort associieren wir dem neuerlich auftretenden Gesichtsbild die vorher erprobten Eigenschaften. Die Vorstellungen, welche uns durch die uns umgebenden Dinge auftauchen, entsprechen darum nicht genau den aktuellen Empfindungen, sondern sind in der Regel weit reicher. Es sind ganze Bündel von associierten Vorstellungen, welche, von vorausgehenden Erlebnissen herrührend, mit den aktuellen Empfindungen sich verweben, die unser Verhalten viel weiter bestimmen, als die letzteren allein es vermöchten. Wir sehen nicht nur eine rotgelbe Kugel, sondern meinen ein weiches, wohlriechendes und erfrischend säuerlich schmeckendes körperliches Ding wahrzunehmen. Wir sehen nicht eine braune vertikale glänzende Fläche, sondern etwa den Kleiderschrank. Dafür können wir aber auch gelegentlich durch eine gelbe Holzkugel, ein Gemälde oder ein Spiegelbild irregeführt werden. Mit der Dauer unseres Lebens wächst die Mannigfaltigkeit und der Reichtum unserer sinnlichen Erlebnisse, sowie die Zahl und Mannigfaltigkeit der associativen Verbindungen zwischen denselben. Dadurch kommt es, wie wir gesehen haben, sowohl zu einer fortschreitenden Zerlegung in die Bestandteile dieser Erlebnisse, als auch zu einer fortgesetzten Bildung neuer Synthesen aus denselben. Nach Erstarkung des Vorstellungslebens können auch Vorstellungskomplexe gegeneinander ebenso sich reproduzierend und associativ[36] verhalten, wie sinnliche Erlebnisse. Auch in den Vorstellungskomplexen treten neue Analysen und Synthesen auf, wie jeder Roman und jede wissenschaftliche Arbeit lehrt und wie dies jeder Denker an sich selbst beobachten kann.

7. Obgleich nun nur ein Prinzip der Reproduktion und Association, nämlich das der Gleichzeitigkeit, aufgefunden werden kann, so nimmt doch der Vorstellungsverlauf in verschiedenen Fällen einen sehr differenten Charakter an. Dies wird durch folgende Überlegung aufgeklärt. Die meisten Vorstellungen haben sich im Laufe des Lebens mit sehr vielen andern associiert, und diese nach verschiedenen Richtungen auseinander gehenden Associationen widerstreben sich zum Teil und schwächen sich gegenseitig. Wenn nun nicht gerade einige davon, welche nach demselben Punkt konvergieren, das Übergewicht erhalten oder ein zufälliger Anlaß die eine besonders begünstigt, so werden diese Associationen nicht wirksam werden. Weiß etwa jemand anzugeben, wo und wann er einen bestimmten Buchstaben, ein Wort, einen Begriff, eine Rechnungsweise gebraucht, in Anwendung gesehen oder kennen gelernt hat? Je häufiger er die betreffenden Mittel verwendet, je vertrauter er mit denselben ist, desto weniger wird er hierzu im stände sein. Der Name Schmidt ist selbst in dieser bestimmten Orthographie so mannigfaltig mit den verschiedensten Fächern und Beschäftigungen verbunden, daß er für sich allein eben gar keine Association auslöst. Je nach meiner augenblicklichen Gedankenrichtung oder Beschäftigung kann mir derselbe einen Philosophen, Zoologen, Literaturhistoriker, Archäologen, Maschinenbauer u.s.w. in Erinnerung bringen. Auch bei selteneren Namen kann man dies beobachten. Oft fuhr ich bei einem Plakat von Maggis Fleischextrakt vorbei und erinnerte mich doch nur einmal des gleichnamigen Verfassers einer für mich interessanten Mechanik, als ich eben an Physikalisches dachte. So wird auch die blaue Farbe eines Tuches dem Erwachsenen für sich allein nichts suggerieren, während sich das Kind vielleicht der Kornblume erinnert, die es gestern gepflückt hat. Bei dem Namen Paris fallen mir vielleicht die Sammlungen des Louvre, oder dessen berühmte Physiker und Mathematiker, oder dessen feine Restaurants ein, je nachdem ich gerade für Kunstgenuß, für wissenschaftliche[37] Beschäftigung oder für kulinarische Genüsse gestimmt bin. Auch Umstände, welche in keiner sachlichen Beziehung zu der eingeschlagenen Gedankenrichtung stehen, können entscheidend werden. So soll sich Grillparzer eines infolge langer Krankheit gänzlich vergessenen poetischen Entwurfs wieder erinnert haben, als er die Symphonie wieder spielte, die er zur Zeit der Beschäftigung mit jenem Entwurf gespielt hatte. Daß auch Associationen durch unbewußte Mittelglieder herbeigeführt werden können, lehrt ein von Jerusalem mitgeteilter Fall.24 Das Prinzip der Gleichzeitigkeit äußert sich in diesen Fällen sehr rein und deutlich.25

8. Betrachten wir nun einige Typen des Vorstellungsverlaufes.26 Wenn ich ohne Plan und Ziel, möglichst abgeschlossen von äußeren Störungen, etwa in einer schlaflosen Nacht, mich ganz meinen Gedanken überlasse, so komme ich, wie man zu sagen pflegt, vom Hundertsten aufs Tausendste. Komische und tragische, erinnerte und erfundene Situationen wechseln mit wissenschaftlichen Einfällen und Arbeitsplänen, und es wäre sehr schwer, die kleinen Zufälligkeiten zu bezeichnen, welche in jedem Augenblick dieser »freien Phantasie« die Richtung gegeben haben. Nicht viel anders verlaufen die Vorstellungen, wenn zwei oder mehrere Personen zwanglos miteinander plaudern, nur daß hier die Gedanken mehrerer Personen sich gegenseitig beeinflussen. Die überraschenden Sprünge und Wendungen des Gespräches lösen da oft die verwunderte Frage aus: Ja, wie sind wir denn auf das gekommen? Die Fixierung der Gedanken durch laut ausgesprochene Worte und die Mehrzahl der Beobachter erleichtert hier auch die Beantwortung, welche nur selten ausbleibt. Die wunderlichsten Wege schlagen die Vorstellungen wohl im Traum ein. Der Faden der Association ist aber in diesem Falle am schwersten zu verfolgen, teils wegen der unvollständigen Erinnerung, welche der Traum zurückläßt, teils auch wegen der häufigeren Störung durch leise Empfindungen[38] des Schlafenden. Im Traum erlebte Situationen, erschaute Gestalten, gehörte Melodien sind oft sehr wertvolle Grundlagen des künstlerischen Schaffens,27 an die Traumgedanken kann aber der Forscher nur in äußerst seltenen Fällen anknüpfen.

9. Lucians köstliche Münchhauseniade entspricht nicht mehr ganz dem Typus der freien Phantasie. Dieser geistreichste Feuilletonist der antiken Welt hält hier aus Prinzip nur die abenteuerlichsten und unwahrscheinlichsten seiner Einfälle fest. Er erfindet kolossale Spinnen, die den Raum zwischen Mond und Morgenstern mit einem gangbaren Gewebe durchziehen, weist spielend den Mondbewohnern flüssige Luft als Getränk an, 1700 Jahre vor deren wirklicher Darstellung. Ein Reiseplan ist es, an dem er als leitenden Faden seine Phantasien aufreiht. Diese Reise führt ihn auch auf die Insel der Träume, deren unbestimmtes widerspruchsvolles Wesen er wunderbar dadurch charakterisiert, daß sie desto mehr zurückweicht, je mehr der Reisende sich ihr nähert. Trotz dieser überreich wuchernden Phantasie lassen sich die Fäden der Association doch auffinden, wo dieselben etwa nicht absichtlich verborgen wurden. Die Reise beginnt bei den Säulen des Herakles und geht westwärts. Nach 80 Tagen erreicht er eine Insel mit einer Denksäule und Inschrift des Herakles und Dionysos, sowie mit kolossalen Fußspuren beider. Natürlich gibt es daselbst einen Fluß, der Wein führt mit Fischen, deren Genuß Rausch erzeugt. Die Quellen dieses Flusses entspringen an den Wurzeln üppig wachsender Weinstöcke, und an dessen Ufern trifft man Frauen, welche ähnlich Daphne teilweise zu Weinstöcken umgewandelt wurden. An dieser Stelle ist ja der Faden der Association zu einem recht tragfähigen Strick angeschwollen. An andern Stellen hat der Autor Triebe und Blüten seiner Phantasie, welche dem ästhetischen und satirischen Zweck nicht entsprachen, eben weggeschnitten. Durch dieses Ausmerzen des Unbrauchbaren unterscheidet sich das Vorstellungsleben, welches sich in einem[39] literarischen oder sonstigen noch so freien Kunstwerk, äußert, von dem planlosen Hingeben an die eigenen Vorstellungen.

10. Wenn ich an einen Ort und in eine Umgebung komme, in welcher ich einen Teil meiner Jugendzeit verlebt habe, und wenn ich mich einfach den Eindrücken dieser Umgebung überlasse, so ergibt sich wieder ein anderer Typus des Vorstellungsverlaufes. Was sich dort meinen Sinnen darbietet, ist so vielfach mit den Erlebnissen meiner Jugend associiert und mit spätern Ereignissen so schwach oder gar nicht verknüpft, daß die Vorgänge jener Lebensperiode nach und nach alle, in vollkommener Treue und in fester Verknüpfung untereinander, zeitlich und räumlich geordnet, aus der Vergessenheit auftauchen. Immer entdeckt man in einem solchen Falle, wie Jerusalem28 treffend bemerkt, sich selbst als beteiligt. Man kann deshalb an dem Faden der Person die Elemente der Erinnerung zeitlich aufreihen. Ähnliches, wenn auch weniger vollständig, stellt sich schon ein, sobald mir das Bild der Heimat auftaucht, wenn dasselbe nur nicht gestört und demselben Zeit gelassen wird, sich zu ergänzen. Die jedem wohlbekannten Erzählungen alter Leute aus ihrer Jugendzeit oder der Bericht über deren Sommeraufenthalt und ihre Erlebnisse daselbst, wobei uns nicht die geringste Einzelheit erlassen wird, sind Beispiele für diesen Typus.

11. Handelte es sich in dem vorigen Fall wesentlich um Auffrischung schon bestehender Vorstellungsverbindungen, um einfache Erinnerungen, so erfordert die Lösung eines Wort- oder Sachrätsels, einer geometrischen oder technischen Konstruktionsaufgabe, eines wissenschaftlichen Problems, die Ausführung eines künstlerischen Vorwurfs u.s.w. eine Vorstellungsbewegung mit einem bestimmten Ziel und Zweck. Es wird hierbei etwas Neues, zurzeit nur teilweise Bekanntes, gesucht. Diese Vorstellungsbewegung, welche das mehr oder weniger umschriebene Ziel nie aus den Augen verliert, nennen wir Nachdenken. Steht eine Person vor mir, die mir ein Rätsel aufgibt, eine Aufgabe stellt, oder sitze ich an meinem Schreibtisch, auf welchem ich schon die Spuren meiner Arbeitsvorkehrungen sehe, so ist hiermit ein Empfindungskomplex gesetzt, welcher meine Gedanken immer[40] auf das Ziel zurückführt und deren planloses Herumschweifen verhindert. Diese äußerliche Einschränkung der Gedanken ist schon für sich nicht zu unterschätzen. Wenn ich mit einer wissenschaftlichen Aufgabe im Sinne endlich ermüdet einschlafe, so fehlt sofort jener äußerliche Mahner und Weiser auf das Ziel, und meine Vorstellungen diffundieren und verlassen die passenden Wege. Dies ist wohl mit ein Grund, warum die Lösung wissenschaftlicher Aufgaben so selten im Traume gefördert wird. Wird aber das unwillkürliche Interesse an der Lösung einer Aufgabe stark genug, dann sind allerdings die äußerlichen Mahner ganz überflüssig. Alles, was man denkt und beobachtet, führt dann von selbst auf die Aufgabe zurück, zuweilen sogar im Traum.


Gedächtnis, Reproduktion und Association

Die im Nachdenken gesuchte Vorstellung hat gewisse Bedingungen zu erfüllen. Sie hat ein Rätsel oder ein Problem zu lösen, eine Konstruktion zu ermöglichen. Die Bedingungen sind bekannt, die Vorstellung aber nicht. Um die Art der Gedankenbewegung zu erläutern, welche zur Auffindung des Gesuchten führt, wählen wir eine einfache geometrische Konstruktion. Die Form des Vorganges ist nämlich in allen hier in Betracht kommenden Fällen dieselbe, und ein Beispiel genügt, um alle Fälle verständlich zu machen. Zwei zueinander senkrechte Gerade a und b, Fig. 1, werden von einer dritten beliebig schiefen geschnitten. In das so entstandene Dreieck soll ein Quadrat eingeschrieben werden, dessen vier Ecken bezw. auf a, b, dem Durchschnittspunkt von a und b, und auf c liegen. Wir versuchen nun, uns Quadrate vorzustellen und herzustellen, welche alle diese Bedingungen erfüllen. Drei Ecken genügen ohne weiteres den Bedingungen, wenn wir eine Ecke eines beliebigen Quadrates mit dem Durchschnittspunkt von a und b und zwei Quadratseiten mit a, bezw. b zusammenfallen lassen. Damit fällt aber die vierte Ecke nicht gerade auf c, sondern innerhalb oder außerhalb des Dreieckes. Nimmt man hingegen einen Eckpunkt beliebig auf c, so ist das Rechteck, welches man ergänzend hierzu zeichnet, im allgemeinen kein[41] Quadrat. Man sieht aber, daß man von einem Rechteck mit größerer vertikaler Seite, durch Wahl des Eckpunktes auf c, zu einem Rechteck mit größerer horizontaler Seite übergehen kann, also auf einen Zwischenfall mit gleichen Seiten stoßen muß. Man kann also unter der Reihe der eingeschriebenen Rechtecke das Quadrat mit beliebiger Annäherung heraussuchen. Es gibt aber noch einen andern Weg. Geht man von einem Quadrat aus, dessen vierter Eckpunkt innerhalb des Dreieckes fällt, und vergrößert dasselbe, bis dieser Eckpunkt außerhalb fällt, so muß derselbe hierbei c passieren. Also auch in der Reihe der Quadrate läßt sich dasjenige von richtiger Größe mit beliebiger Annäherung heraussuchen. Solche tatonnierende Sondierungen der Vorstellungsgebiete, in welchen wir die Lösung der Aufgabe zu suchen haben, gehen naturgemäß der vollkommenen Lösung voraus. Das vulgäre Denken mag sich auch mit einer praktisch zureichenden annähernden Lösung begnügen. Die Wissenschaft fordert die allgemeinste, kürzeste und übersichtlichste Lösung. Diese erhalten wir, indem wir (von der Betrachtung der Rechtecke oder der Quadrate ausgehend) uns erinnern, daß alle eingeschriebenen Quadrate die von dem Durchschnittspunkt der a und b ausgehende Winkelhalbierende als Diagonale gemein haben. Zieht man also von diesem bekannten Punkt aus diese Winkelhalbierende, so kann man, von deren gefundenem Durchschnittspunkt mit c aus, ohne weiteres das gesuchte Quadrat ergänzen. So simpel auch dieses mit Absicht gewählte und ausführlich dargelegte Beispiel ist, so bringt es doch das Wesentliche jeder Problemlösung, das Experimentieren mit Gedanken, mit Erinnerungen,29 sowie die Identität mit der jedem geläufigen Rätsellösung zu klarem Bewußtsein. Das Rätsel wird gelöst durch eine Vorstellung, welche den Bedingungen ABC... entsprechende Eigenschaften aufweist. Die Association liefert uns Reihen von Vorstellungen von der Eigenschaft A, von der Eigenschaft B u.s.w. Das Glied (oder die Glieder), welches allen diesen Reihen angehört, in welchem sich alle diese Reihen kreuzen, löst die Aufgabe. Wir kommen auf diesen wichtigen Gegenstand noch ausführlicher zurück. Hier galt es nur den[42] Typus des Vorstellungsverlaufs darzulegen, welchen man Nachdenken nennt.30

12. Das Vorausgehende setzt die Bedeutung der reproduzierbaren und associierbaren Erinnerungsspuren der sinnlichen Erlebnisse für das ganze psychische Leben außer Zweifel, und zeigt zugleich, daß psychologische und physiologische Untersuchungen nicht voneinander getrennt werden können, da schon in den Elementen der Erlebnisse beiderlei Beziehungen aufs engste verknüpft sind.

13. Die Reproduzierbarkeit und Associierbarkeit bildet auch die Grundlage des »Bewußtseins«. Das unausgesetzte Bestehen einer unveränderlichen Empfindung wird schwerlich jemand als Bewußtsein bezeichnen wollen. Schon Hobbes sagt: Sentire semper idem et non sentire ad idem recidunt.31 Es ist auch nicht einzusehen, was durch die Annahme einer besonderen, von allen übrigen physikalischen Energien verschiedenen »Energie des Bewußtseins« gewonnen sein soll. Das wäre eine Voraussetzung, welche im Gebiete der Physik gar keine Funktion hätte, unnötig wäre, im Gebiete der Psychologie aber nichts verständlicher machen würde. Das Bewußtsein ist keine besondere (psychische) Qualität oder Klasse von Qualitäten, die sich von den physischen Qualitäten unterscheidet; es ist auch keine besondere Qualität, die zu der physischen hinzukommen müßte, um das Unbewußte zum Bewußten zu machen. Sowohl die Introspektion als auch die Beobachtung anderer Lebewesen, welchen wir Bewußtsein analog dem unsrigen zuschreiben müssen, lehrt, daß das Bewußtsein in der Reproduktion und Association seine Wurzel hat und daß die Höhe des Bewußtseins mit dem Reichtum, der Leichtigkeit, Geschwindigkeit, Lebhaftigkeit und Ordnung dieser Funktionen parallel geht. Das Bewußtsein besteht[43] nicht in einer besonderen Qualität, sondern in einem besondern Zusammenhang gegebener Qualitäten. Die Empfindung muß man nicht erklären wollen. Sie ist etwas so Einfaches und Fundamentales, daß ihre Zurückführung auf noch Einfacheres, wenigstens heute, nicht gelingen kann. Die einzelne Empfindung ist übrigens weder bewußt, noch unbewußt. Bewußt wird dieselbe durch die Einordnung in die Erlebnisse der Gegenwart.32

Jede Störung der Reproduktion und Association ist eine Störung des Bewußtseins, welches alle Grade aufweisen kann, von der vollkommenen Klarheit bis zur vollen Bewußtlosigkeit im traumlosen Schlaf oder in der Ohnmacht. Temporäre oder dauernde Störung des Zusammenhanges der Gehirnfunktionen ist auch temporäre oder dauernde Störung des Bewußtseins. Vergleichend anatomische, physiologische und psychopathologische Tatsachen nötigen zur der Annahme, daß durch die Integrität der Großhirnlappen die Integrität des Bewußtseins bedingt ist. Verschiedene Teile der Hirnrinde bewahren die Spuren verschiedener Sinneserregungen, bestimmte Teile die optischen, andere die akustischen, andere die haptischen u.s.w. Diese verschiedenen Rindenfelder stehen untereinander in den mannigfaltigsten Verbindungen durch die »Associationsfasern«. Jeder Ausfall der Funktion eines Rindenfeldes oder jede Unterbrechung einer Verbindung hat psychische Störungen zur Folge.33 Ohne auf viele Einzelheiten einzugehen, soll dies doch durch typische Beispiele erläutert werden.

14. Die Vorstellung einer Orange ist eine äußerst komplizierte Sache. Gestalt, Farbe, Geschmack, Geruch, Tastbarkeit u.s.w. sind in eigentümlicher Weise verwebt. Wenn ich den Namen »Orange« höre, so zieht diese Folge von akustischen Empfindungen wie an einem Faden das ganze Bündel der genannten Vorstellungen hervor. Hierzu kommt noch, daß sich an den[44] gehörten Namen die Erinnerung an die Empfindungen beim Aussprechen des Namens, sowie die Erinnerung an die Empfindungen bei den betreffenden Schreibbewegungen und an das Gesichtsbild des geschriebenen oder gedruckten Wortes anschließt. Gibt es also im Gehirn ein besonderes optisches, akustisches, haptisches Feld, so müssen bei Ausschaltung eines dieser Felder, durch Unterdrückung der Funktion eines dieser Felder oder Aufhebung der Association desselben mit den übrigen Feldern eigentümliche Erscheinungen auftreten. Solche sind wirklich beobachtet worden. Bleibt das optische bezw. akustische Feld in Funktion, während die associativen Verbindungen desselben mit andern wichtigen Feldern außer Funktion treten, so entsteht die »Seelenblindheit« bezw. »Seelentaubheit«, welche Munk an Hunden bei Operationen am Großhirn beobachtet hat.34 Solche Hunde sehen, allein sie verstehen das Gesehene nicht, erkennen die Futterschale, die Peitsche, die drohende Geberde nicht. Im Falle der Seelentaubheit hört der Hund, achtet aber nicht auf den gewohnten Anruf, versteht denselben nicht. Die Beobachtungen der Physiologen werden hier durch jene der Psychopathologen bestätigt und ergänzt. Besonders ergiebig ist hier das Studium der Sprachstörungen.35 Die Bedeutung des Wortes liegt ja in der Menge der Associationen, welche dasselbe wachruft, und der richtige Gebrauch desselben beruht umgekehrt auf dem Vorhandensein dieser Associationen. Störungen der letzteren müssen sich hier auffallend äußern. Die meisten Menschen sind rechtshändig, üben daher die linke Großhirnhemisphäre für die feineren Arbeiten und auch für die Sprache ein. Broca erkannte nun die Wichtigkeit des hintern Dritteils der dritten linken Stirnwindung für die artikulierte Sprache, welche durch Erkrankung dieses Hirnteils (Apoplexie) jedesmal verloren geht. Die Sprachlosigkeit (Aphasie) kann noch durch[45] sehr mannigfache verschiedene Defekte bedingt sein. Der Patient erinnert sich z.B. der Worte als Lautbilder, kann dies auch durch die Schrift kund tun und vermag trotz der Beweglichkeit der Zunge, Lippen u.s.w. die Worte nicht auszusprechen; das motorische Wortbild fehlt und löst die passende Bewegung nicht aus. Auch die optischen oder motorischen Schriftbilder können fehlen (Agraphie). Die Vorstellungen können vorhanden sein, das akustische Wortbild aber fehlt. Auch kommt es umgekehrt vor, daß das gesprochene bezw. geschriebene Wort nicht verstanden wird, keine Associationen auslöst, was man Worttaubheit bezw. Wortblindheit genannt hat. Einen solchen Fall von Worttaubheit und Wortblindheit bei sonst erhaltener Intelligenz hat Lordat an sich selbst erlebt und konnte nach seiner Heilung über denselben berichten. Er schildert bewegt den Augenblick, als er nach traurigen Wochen in seiner Bibliothek auf dem Rücken eines Buches die Worte: »Hippocratis opera« erblickte, dieselben wieder lesen und verstehen konnte.36 Man kann schon nach dieser summarischen, keineswegs vollständigen und detaillierten Aufzählung der hier vorkommenden Fälle ermessen, wie viele Verbindungsbahnen zwischen den sensorischen und motorischen Feldern hier in Betracht kommen.37 Geringere Störungen der Sprache, wie sie sich im Versprechen und Verschreiben äußern, kommen als Folgen temporärer Ermüdung und Zerstreutheit auch bei ganz gesunden Menschen vor. So zitierte jemand die beiden Chemiker Liebig und Mitscherlich als »Mitschich und Liederlich«. Ein anderer bezeichnete einen Magister der Pharmacie als »Philister der Magie«.38

15. Einen interessanten Fall von Seelenblindheit führt Wilbrand39 an. Ein sehr gebildeter belesener Kaufmann erfreute sich eines ausgezeichneten optischen Gedächtnisses. Die Gesichtszüge der Personen, an welche er sich erinnerte, die Formen und Farben der Gegenstände, an welche er dachte, Bühnenszenen,[46] Landschaftsbilder, die er gesehen hatte, standen in voller Deutlichkeit mit allen Einzelheiten vor ihm. Er konnte aus dem Gedächtnis Briefstellen und mehrere Seiten aus von ihm bevorzugten Schriftstellern ablesen, indem er den Text mit allen Einzelheiten vor sich sah. Das Gedächtnis für Gehörseindrücke war gering und der Sinn für Musik fehlte. Schweren Sorgen, die sich als unbegründet erwiesen, folgte eine Zeit der Verwirrung und darauf eine vollständige Umwandlung seines psychischen Lebens. Seine optische Erinnerung war vollständig verloren gegangen. Eine Stadt, in welche er oft zurückkehrte, erschien ihm jedesmal neu, als ob er zum erstenmal dahin käme. Die Züge seiner Frau und seiner Kinder waren ihm fremd, ja sich selbst, als er sich im Spiegel sah, hielt er für eine fremde Person. Wenn er jetzt rechnen wollte, was vorher durch Gesichtsvorstellungen vermittelt war, mußte er die Zahlen leise aussprechen, und ebenso mußte er Gehörsvorstellungen, Vorstellungen von Sprach- und Schreibbewegungen zu Hilfe nehmen, um Redensarten zu merken oder an Geschriebenes sich zu erinnern. – Nicht minder bemerkenswert ist ein anderer Fall von Verlust des optischen Gedächtnisses.40 Eine Dame stürzt plötzlich zusammen. Sie wird nachher für blind gehalten, da sie keine Person ihrer Umgebung erkennt. Der Anfall läßt aber außer einer Einschränkung des Gesichtsfeldes, welche sich allmählich verbessert, nur den Verlust des optischen Gedächtnisses zurück, dessen sich Patientin vollkommen bewußt ist. Sie tut die charakteristische Äußerung: »Nach meinem Zustand zu folgern, sieht der Mensch mehr mit dem Gehirn, als mit dem Auge, das Auge ist bloß das Mittel zum Sehen; denn ich sehe ja alles klar und deutlich, ich erkenne es aber nicht und weiß oft nicht, was das Gesehene sein soll.«41

16. Nach den oben angeführten Tatsachen muß man sagen, daß es nicht ein Gedächtnis gibt, sondern daß das Gedächtnis sich aus vielen Partialgedächtnissen zusammensetzt, welche voneinander getrennt werden und einzeln verloren gehen können. Diesen Partialgedächtnissen entsprechen verschiedene Teile des Hirns, von welchen sich einige schon jetzt mit ziemlicher Bestimmtheit lokalisieren lassen. Andere Fälle von Gedächtnisverlust[47] scheinen schwerer auf ein Prinzip zurückzuführen. Wir wollen nur einige von jenen betrachten, welche Ribot (les maladies de la mémoire, Paris 1888) zusammengestellt hat.

Eine junge Frau, die ihren Mann leidenschaftlich liebte, verfiel im Kindbett in eine lange währende Bewußtlosigkeit, infolge welcher die Erinnerung an die Zeit ihrer Ehe gänzlich entschwand, während die Erinnerung an ihr früheres Leben bis zu ihrer Verheiratung ungeschwächt blieb. Nur das Zeugnis ihrer Eltern vermochte sie dazu, den Mann und das Kind als die ihrigen anzuerkennen. Der Gedächtnisverlust blieb irreparabel. – Eine Frau wird von Schlafsucht befallen, welche zwei Monate dauert. Nach dem Erwachen kennt sie keine Person ihrer Umgebung und hat alles vorher Erlernte vergessen. Sie lernt alles wieder leicht und in kurzer Zeit, jedoch ohne Erinnerung daran, daß sie es vorher schon gekonnt. – Eine Frau fällt zufällig ins Wasser und ertrinkt fast. Als sie wieder die Augen öffnet, erkennt sie ihre Umgebung nicht, hat die Sprache, das Gehör, den Geruch und den Geschmack verloren. Sie muß gefüttert werden. Sie fängt täglich an, von neuem zu lernen. Ihr Zustand bessert sich allmählich. Sie erinnert sich einer Liebschaft, ihres Sturzes ins Wasser und wird durch Eifersucht geheilt.42

17. Am merkwürdigsten sind die periodisch wechselnden Gedächtnisverluste. Eine Frau hat nach einem langen Schlaf alles Erlernte vergessen. Sie muß von neuem lesen, rechnen und ihre Umgebung kennen lernen. Nach einigen Monaten tritt wieder ein tiefer Schlaf ein. Erwacht, befindet sie sich im Besitze ihrer Jugenderinnerungen, wie vor dem ersten Schlaf, hat aber die Vorgänge zwischen den beiden Schlafanfällen vergessen. Von da an wechseln durch vier Jahre periodisch die beiden Bewußtseins- und Gedächtniszustände. In dem ersten Zustand hat sie eine schöne Schrift, in dem zweiten eine mangelhafte. Personen, die sie dauernd kennen soll, müssen ihr in beiden Zuständen vorgestellt sein. – Der letztere Fall wird durch einen oft zitierten eines Dienstmannes illustriert, welcher im Rausch ein Paket verliert und nur in einem zweiten Rausch dasselbe wiederzufinden vermag. – Im wachen Zustande erinnert man sich selbst lebhafter[48] Träume sehr schwer, sowie umgekehrt im Traum die Verhältnisse des Wachens uns meist gänzlich entschwinden. Dagegen wiederholen sich dieselben Situationen oft genug im Traum. Endlich kann jeder auch im Wachen den Wechsel der Stimmungen an sich bemerken, mit welchem zugleich die Erlebnisse verschiedener Lebensperioden in ganz verschiedener Lebhaftigkeit in das Bewußtsein treten. Alle diese Fälle bilden einen kontinuierlichen Übergang von schroffer Trennung verschiedener Bewußtseinszustände bis zu fast vollständiger Verwischung der Grenze. Dieselben lassen sich auffassen als Beispiele der Bildung verschiedener Associationszentren, um welche, durch Zeit und Stimmung begünstigt, die Vorstellungsmassen sich scharen, während diese Massen untereinander keinen oder nur einen geringen Grad des Zusammenhanges aufweisen.43

18. Schreibt man den Organismen (mit Hering) überhaupt die Eigenschaft zu, sich wiederholenden Vorgängen successive besser anzupassen, so erkennt man das, was wir gewöhnlich Gedächtnis nennen, als eine Teilerscheinung einer allgemeinen organischen Erscheinung. Es ist die Adaption an periodische Vorgänge, soweit sie unmittelbar ins Bewußtsein fällt. Vererbung, Instinkt u.s.w. können dann als über das Individuum hinausreichendes Gedächtnis bezeichnet werden. In dem oben zitierten »Mneme« betitelten Buch von R. Semon liegt wohl der erste Versuch vor, das Verhältnis von Vererbung und Gedächtnis wissenschaftlich zu erforschen und zu erklären.44[49]

18

Die Erfahrung hat uns Stabilitäten kennen gelehrt, unsere psychische Organisation paßt sich denselben leicht an und gewährt uns Vorteile. Wir führen dann die Voraussetzung weiterer Stabilitäten bewußt und willkürlich ein, in der Erwartung weiterer Vorteile, wenn sich dieselbe bewährt. Die Annahme eines a priori gegebenen Begriffes zur Begründung dieses methodischen Verfahrens haben wir weder nötig, noch würde sie uns irgend welchen Nutzen gewähren. Sie wäre eine Verkehrtheit, angesichts der augenscheinlich empirischen Bildung dieses Begriffes.

19

C. L. Morgan, Comparative Psychology, London, 1894. S. 85 u. f.

20

So verhalten sich aber auch des Großhirns beraubte Vögel. Die Erscheinung beruht also wohl auf einem von den Vorfahren erworbenen Reflex. Vgl. den Schluß dieses Kapitels.

21

Schneider, Der tierische Wille. Leipzig 1880.

22

Beobachtung meiner Tochter.

23

Nächst den Schriften von Morgan ist in Bezug auf Psychologie der niederen und höheren Tiere sehr lehrreich: K. Möbius, Die Bewegungen der Tiere und ihr psychischer Horizont. (Schriften des naturwissensch. Vereins f. Schleswig-Holstein 1873.) – Ferner: A. Ölzelt-Newin, Kleinere philosophische Schriften. Zur Psychologie der Seesterne. Wien 1903. – Von älteren Schriften möchte ich empfehlen: H. S. Reimarus, Triebe der Tiere, 1790, fern J. H. F. Autenrieth, Ansichten über Natur- und Seelenleben. 1836.

24

Wundt, Philosophische Studien. Bd. X, S. 323.

25

Daß nicht alle psychischen Vorgänge durch temporär erworbene (bewußte) Associationen erklärt werden können, soll später noch zur Sprache kommen. Hier handelt es sich darum, was durch Association verständlich ist.

26

Vgl. James, The Principles of Psychology, I. p. 550-604.

27

Bekannte Fälle dieser Art sind folgende: Voltaire träumt einen vollständigen variierten Gesang der »Henriade«. Noch merkwürdiger ist, daß der Teufel im Traum Tartini den Satz einer Sonate vorspielt, den der Künstler wachend nicht zu stande gebracht hatte, wenn nicht Dichtung und Wahrheit in dem Bericht ein Kompromiß geschlossen haben.

28

Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie. 3. Aufl. Wien 1902. S. 91.

29

Diese Fragen werden noch ausführlicher erörtert.

30

Man könnte versucht sein, das »aktive« Nachdenken als wesentlich verschieden von dem »passiven« Laufenlassen der Gedanken anzusehen. Allein, so wie wir bei einer körperlichen Handlung nicht Herren sind über die Sinnesempfindungen und Erinnerungen, welche diese Handlung auslösen, so vermögen wir auch nichts über eine Vorstellung von unmittelbarem oder mittelbarem biologischen Interesse, die immer wieder auftaucht und an welche sich immer wieder neue Associationsreihen anschließen. Vgl. populär-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. S. 287-308.

31

Hobbes, Physica, IV, 25.

32

Wer meint, die Welt aus Bewußtsein aufbauen zu können, hat sich wohl nicht klar gemacht, was für eine Komplikation die Tatsache des Bewußtseins einschließt. Sehr lesenswerte und gedrängte Ausführungen über die Natur und die Bedingungen des Bewußtseins finden sich bei Wernicke, Gesammelte Aufsätze. Berlin 1893. Über das Bewußtsein S. 130-145. – Vgl. auch die in der folgenden Anmerkung zitierten Vorträge von Meynert.

33

Meynert, Populäre Vorträge. Wien 1892, S. 2-40.

34

An einer Verschiedenheit der Leistungen verschiedener Hirnpartien ist wohl kaum zu zweifeln. Wenn aber doch, wie Goltz nachgewiesen hat, allmählich ein Teil der Großhirnrinde für den anderen ersetzend eintreten kann, so ist an eine schroffe Abgrenzung der Funktionen nicht zu denken, sondern nur an eine »graduelle Lokalisation« im Sinne von R. Semon (Die Mneme. Leipzig 1904. S. 160). Vgl. auch Analyse der Empfindungen. 1886. S. 82. 4. Aufl. S. 155.

35

Kußmaul, Störungen der Sprache. Leipzig 1885.

36

Kußmaul, a. a. O. S. 175.

37

Kußmaul, a. a. O. S. 182.

38

Über merkwürdige, der Aphasie und Agraphie analoge Störungen bei Musikern berichtet R. Wallaschek (Psychologie und Pathologie der Vorstellung. Leipzig, J. A. Barth, 1905).

39

Wilbrand, Seelenblindheit. Wiesbaden 1887. S. 43-51.

40

Wilbrand, a. a. O. S. 54.

41

Wilbrand, a. a. O. S. 57.

42

A. Forel, Der Hypnotismus, 6. Aufl., S. 236f., enthält die Beschreibung eines höchst merkwürdigen Falles von Amnesie.

43

Mit Rücksicht auf solche periodische Störungen des Gedächtnisses erscheinen Beobachtungen wie die von Swoboda (Die Perioden des menschlichen Organismus. 1904) durchaus nicht so abenteuerlich, als sie auf den ersten Blick sich darstellen.

44

C. Detto, Über den Begriff des Gedächtnisses in seiner Bedeutung für die Biologie (Naturwiss. Wochenschr. 1905, Nr. 42). – Der Verfasser wird wohl kaum annehmen, daß Hering oder Semon in die von ihm gerügten Fehler verfallen werden. Den Vorteil der Untersuchung des Organischen von zwei Seiten her scheint er mir aber bedeutend zu unterschätzen. Die psychologische Beobachtung kann uns die Existenz von physikalischen Vorgängen enthüllen, zu deren Kenntnis wir auf physikalischem Wege nicht so bald gelangen würden.

Quelle:
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917, S. 31-50.
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