Drittes Kapitel

[15] Privaterziehung und Selbststudium.


In meinem sechsten Jahre fing mein Vater mit mir an, die Bibel zu lesen. Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde. Hier unterbrach ich meinen Vater und fragte: »Aber Papa, wer hat Gott erschaffen?«

V. Gott ist von niemand erschaffen, er war von aller Ewigkeit da.

I. War er auch vor zehn Jahren da?

V. O ja, er war auch vor hundert Jahren da.

I. Also ist Gott vielleicht schon tausend Jahre alt?

V. Behüte! Gott war ewig.

I. Aber er hat doch einmal geboren werden müssen!

V. Närrchen, nein! Er war ewig und ewig und ewig. –

Ich war zwar mit dieser Antwort nicht befriedigt, aber ich dachte doch, Papa müsse es besser wissen als ich, und ich müsse es also dabei bewenden lassen.

Ein andermal las ich in der Bibel die Geschichte von Jakob und Esau; mein Vater zitierte mir hierbei eine Stelle aus dem Talmud, wo es hieß: Jakob und Esau teilten alle Güter der Welt untereinander; Esau wählte sich die Güter dieses, Jakob hingegen die Güter des zukünftigen Lebens; und da wir von Jakob herstammen, so müssen wir allen Anspruch auf die zeitlichen Güter aufgeben.

Hierauf sagte ich mit Unwillen, Jakob sollte kein Narr[15] gewesen sein und lieber die Güter dieser Welt gewählt haben.

Leider bekam ich hierauf zur Antwort: »Du gottloser Bube!« und unmittelbar darauf eine Ohrfeige. Mein Zweifel war freilich damit nicht gehoben, aber es brachte mich doch zum Stillschweigen.

Ich hatte von meiner Kindheit an viel Neigung und Genie zum Zeichnen. Zwar hatte ich in meinem väterlichen Hause nie ein Werk dieser Kunst zu sehen bekommen, aber ich fand am Titelblatt einiger hebräischer Bücher Holzschnitte von Laubwerk, Vögeln und dergleichen; ich fand an diesen Holzschnitten einen großen Gefallen und bestrebte mich, dieselben mit einem Stückchen Kreide oder einer Kohle nachzuzeichnen. Was aber diesen Trieb bei mir noch verstärkte, war ein hebräisches Fabelbuch, worin die agierenden Personagen (die Tiere) durch solche Holzschnitte vorgestellt waren. Ich zeichnete alle Figuren mit der größten Genauigkeit ab. Mein Vater bewunderte zwar hierin meine Geschicklichkeit, schalt aber zugleich auf mich mit diesen Worten: »Willst du ein Maler werden? Du sollst den Talmud studieren und ein Rabbiner werden. Wer den Talmud versteht, der versteht alles.«

Diese Begierde und Fähigkeit zur Malerkunst ging bei mir so weit, daß, da mein Vater sich in H. etabliert hatte, wo ein Herrenhof mit einigen sehr schön tapezierten Zimmern war, die aber beständig leer standen, weil der Gutsherr anderswo residierte und diesen Ort sehr selten besuchte, ich mich, wenn ich nur konnte, vom Hause wegzustehlen pflegte, um die Figuren von den Tapeten abzuzeichnen.

Man fand mich einst mitten im Winter halb erfroren vor der Wand stehen, mit der einen Hand das Papier haltend (denn es waren keine Möbel in diesem Saale) und mit der anderen Hand die Figuren von der Wand abzeichnend. Doch urteile ich jetzt von mir selbst; ich wäre zwar, wenn ich dazu angehalten worden wäre, ein großer, aber kein genauer Maler geworden, d.h. ich würde mit Leichtigkeit[16] die Hauptzüge eines Gemäldes entwerfen, hätte aber zur genauen Ausarbeitung keine Geduld.

Mein Vater hatte in seiner Studierstube einen Schrank mit Büchern stehen, er verbot mir zwar, alle anderen Bücher außer dem Talmud zu lesen. Aber es half nichts. Da mein Vater die mehrste Zeit mit häuslichen Angelegenheiten beschäftigt war, so machte ich mit diese Zeit zunutze.

Aus Neugierde machte ich mich über den Schrank her, blätterte alle Bücher durch, und da ich schon ziemlich Hebräisch verstand, fand ich an einigen derselben mehr Behagen als an dem Talmud.

Dies ging auch ganz natürlich zu. Man vergleiche die trockenen, einem Kinde meist unverständlichen Gegenstände des Talmuds (das ungerechnet, was die Jurisprudenz betrifft), die Gesetze der Opfer, der Reinigung, der verbotenen Speisen, der Feiertage usw., worin die seltsamsten rabbinischen Grillen mit der feinsten Dialektik, und die abgeschmacktesten Untersuchungen mit der höchsten Anstrengung der Geisteskräfte in vielen Bänden durchgeführt werden. Zum Beispiel wieviel weiße Haare dierote Kuh haben kann und doch eine rote Kuh bleibt? Wie die verschiedenen Arten Krätze beschaffen sein müssen, um diese oder jene Reinigungsart zu bedürfen? Ob man eine Laus oder Floh am Sabbat totschlagen darf (wovon das erste erlaubt, das andere aber eine Todsünde ist)? Ob das Schlachten eines Viehes am Halse oder am Schwanze verrichtet werden soll? Ob der Hohepriester das Hemd und nachher die Hosen oder umgekehrt angezogen hat? Wenn der Jawam (der Bruder des kinderlos Verstorbenen, der nach den Gesetzen seine hinterlassene Witwe heiraten muß) vom Dach herunterfiele und im Kot stecken bliebe, ob er damit sich seiner Pflichten entledigt habe oder nicht? Ohe iam satis est! Man vergleiche, sage ich, diese herrlichen Gerichte, die man der Jugend auftischt und bis zum Ekel aufdringt, mit Geschichte, wo natürliche Begebenheiten auf eine lehrreiche und angenehme Art vorgetragen werden, mit Kenntnis[17] des Weltbaues, wodurch die Aussichten in der Natur erweitert und das große Ganze in ein wohlgeordnetes System gebracht wird u. dgl., so wird man wahrhaftig meine Wahl hierin rechtfertigen.

Die vorzüglichsten darunter waren: eine hebräische Chronik (unter dem Titel: Zemach David, von einem gescheiten Oberrabbiner in Prag, namens Rabbi David Gans abgefaßt, der auch der Verfasser des astronomischen Buchs ist, wovon in der Folge gesprochen wird, und der die Ehre hatte, mit Tycho Brahe bekannt zu sein, und mit ihm auf dem Observatorium zu Kopenhagen astronomische Beobachtungen anzustellen); ein Josephus, der wie man aus gewissen Gründen beweisen kann, untergeschoben ist; eine Geschichte der Verfolgung der Juden in Spanien und Portugal, und was mich am stärksten an sich zog, ein astronomisches Buch.

Hier eröffnete sich mir eine neue Welt, ich machte mich also mit dem größten Fleiße darüber. Man denke sich ein Kind von ungefähr sieben Jahren, das noch nie von den ersten Elementen der Mathematik etwas gesehen oder gehört hat, dem ein astronomisches Buch in den Wurf kommt und seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, worüber ihm aber niemand Anweisung geben kann (meinem Vater durfte ich meine Begierde danach nicht wissen lassen, und ohnedem war dieser selbst nicht imstande, mir hierüber Auskunft zu geben); wie muß dieses seinen nach Wissenschaften schmachtenden Geist nicht entflammt haben! Dieses zeigt auch der Erfolg.

Da ich noch ein Kind war, und die Betten in meines Vaters Hause sehr rar waren, so war es mir erlaubt, mit meiner alten Großmutter (deren Bette in gedachter Studierstube stand) in einem Bette zu schlafen. Und da ich den Tag über bloß mit dem Studium des Talmuds mich abgeben mußte und kein anderes Buch in die Hand nehmen durfte, so bestimmte ich die Abende zu meinen astronomischen Betrachtungen.

Nachdem also die Großmutter zu Bette gegangen war, steckte ich mir frisches Kienholz an, machte mich über den[18] Schrank her und holte mir mein geliebtes astronomisches Buch hervor. Die Großmutter schalt mich zwar deswegen, weil es der alten Frau zu kalt war, um allein im Bette zu liegen, ich aber kehrte mich nicht daran und setzte mein Studium so lange fort, bis das Kienholz ausgebrannt war.

Nachdem ich dieses einige Abende getrieben hatte, kam ich endlich zu der Vorstellung von dem Himmelsglobus und seinen zur Erklärung der astronomischen Erscheinungen erdichteten Zirkeln.

Dieses war im Buche durch eine einzige Figur vorgestellt, wobei der Verfasser dem Leser den guten Rat gab, daß er zur bessern Verständlichkeit, indem die mannigfaltigen Zirkel in einer Flächenfigur nicht anders als durch gerade Linien vorgestellt werden könnten, sich entweder einen ordentlichen Globus oder eine Sphaera armillaris verfertigen solle.

Ich faßte also den Vorsatz, eine solche Sphaera armillaris aus geflochtenen Ruten zu verfertigen; nachdem ich diese Arbeit zu Ende gebracht hatte, war ich imstande, das ganze Buch zu fassen. Da ich mich aber in acht nehmen mußte, daß mein Vater von dieser meiner Beschäftigung nichts erfahre, so versteckte ich immer meine Sphaera armillaris, ehe ich zu Bette ging, in einen Winkel hinter den Schrank.

Meine Großmutter, die verschiedenemal bemerkt hatte, daß ich ganz im Lesen vertieft sei und dann und wann auf aus Ruten geflochtene kreuzweise aufeinandergelegte Kreise meinen Blick richtete, geriet hierüber in den größten Schreck; sie glaubte nicht anders, als daß ihr Enkel närrisch geworden sei.

Sie unterließ also nicht, meinen Vater hiervon zu benachrichtigen und demselben den Verwahrungsort des magischen Instruments anzuzeigen. Dieser riet bald, was dieses bedeuten müßte. Er nahm also den Globus in die Hand und ließ mich zu sich rufen. Als ich kam, fragte er mich mit folgenden Worten:

V. Was hast du dir da für ein Spielwerk gemacht?

I. Dieses ist ein Kaddur (Globus).

[19] V. Was soll dieses bedeuten?

Ich erklärte ihm hierauf den Gebrauch aller Zirkel zur Begreiflichmachung der himmlischen Erscheinungen.

Mein Vater, der zwar ein guter Rabbiner war, aber kein sonderliches Talent zu Wissenschaften hatte, konnte nicht alles begreifen, was ich ihm begreiflich machen wollte; besonders befremdete ihn die Vergleichung meiner Sphaera armillaris mit der Figur im Buche und wie aus geraden Linien Zirkel entsprungen wären, aber so viel konnte er doch einsehen, daß ich meiner Sache gewiß war.

Er schalt daher zwar auf mich, daß ich sein Verbot, mich mit etwas anderm außer dem Talmud abzugeben, übertreten habe, freute sich aber doch innerlich, daß sein junger Sohn, ohne einen Anführer und Vorkenntnis zu haben, von sich selbst ein ganzes Werk von einer Wissenschaft habe durcharbeiten können; und damit war dieser Prozeß zu Ende.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 15-20.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Salomon Maimons Lebensgeschichte
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