Fünftes Kapitel

[24] Meine Familie wird ins Elend verjagt, und ein alter Diener kommt durch seine große Treue um ein christliches Begräbnis.


Mein Vater, der, wie schon erwähnt worden, nach Königsberg in Preußen handelte, hatte einst einige Tonnen Salz und Heringe, die er daselbst gekauft, auf ein Schiff des Fürsten Radziwill geladen. Als er nach Hause kam und seine Ware abholen wollte, leugnete ihm der Schaffner Schachna den Empfang derselben geradeweg. Mein Vater zeigte nun den Schein vor, den er über den Empfang dieser Waren ausgestellt hatte, der Schaffner riß ihm aber denselben aus den Händen und schmiß ihn[24] ins Feuer. Mein Vater sah sich also gezwungen, darüber einen langwierigen und kostbaren Prozeß zu führen, den er aber bis zum folgenden Jahr verschieben mußte, weil er noch einmal nach Königsberg reiste. Hier ließ er sich von dem Zollamt einen Schein geben, worin bezeugt wurde, daß er die gedachten Waren auf des Fürsten Radziwill Schiff, unter Direktion des H. Schachna, geladen hätte. Auf diesen Schein wurde also der Schaffner vor Gericht vorgeladen, fand aber nicht für gut, sich einzustellen, und mein Vater gewann den Prozeß in der ersten, zweiten und dritten Instanz. Bei der damaligen schlechten polnischen Justizverfassung hatte er aber demungeachtet keine Macht diesen Rechtsspruch vollziehn zu lassen und erhielt also von diesem gewonnenen Prozesse nicht einmal die Kosten wieder.

Dazu kam noch, daß er sich diesen Herrn Schachna dadurch zum Feinde machte, der ihn nun auf alle Art und Weise verfolgte. Es ging auch sehr gut an, da dieser abgefeimte Schurke durch allerhand Ränke vom Fürsten zum Verwalter aller Güter, die in dem Gebiete der Stadt Mirz liegen, ernannt wurde. Er beschloß meines Vaters Verderben und wartete nur auf eine schickliche Gelegenheit seine Rache auszuführen.

Diese fand er bald, und zwar bot ihm ein gewisser Jude, der nach seinem Pachtort Schwersen hieß und in der ganzen Gegend als der größte Bösewicht bekannt war, hiezu die Hand. Dieser Kerl war ein großer Ignorant, verstand nicht einmal die jüdische Sprache und bediente sich daher der russischen. Sein Geschäft bestand hauptsächlich darin, daß er seine Aufmerksamkeit auf alle Pächte in dieser Gegend richtete, und die einträglichsten darunter durch Erhöhung des Pachtgeldes und Bestechung der Verwalter an sich zu ziehen wußte. Ohne sich an die Gesetze der Chasaka im mindesten zu kehren, verjagte er die alten rechtmäßigen Pächter aus ihren Besitzungen und bereicherte sich dadurch. So lebte er in Reichtum und Glück und erreichte dabei ein hohes Alter.[25]

Dieser Bösewicht nun hatte schon lange auf meines Großvaters Pacht ein Auge gehabt, und wartete bloß auf eine günstige Gelegenheit und einen scheinbaren Grund, sie an sich zu reißen. Zum Unglück mußte mein Großonkel Jakob, der in einem andern, zu meines Großvaters Pacht gehörigen Dorfe wohnte, ein Schuldner dieses Bösewichts sein. Da er die Schuld, die ungefähr 50 Rtlr. betrug, im bestimmten Termin nicht abtragen konnte, kam jener gleich mit einigen Hofdienern und drohte den Kessel, worin meines Großonkels ganzer Reichtum bestand, wegzunehmen. Dieser, voller Bestürzung, lud den Kessel heimlich auf einen Wagen, fuhr damit in aller Eile nach meines Großvaters Wohnung und versteckte ihn, ohne daß man in unserm Hause etwas davon wußte, im nächsten Sumpf hinter dem Hause. Sein Gläubiger aber, der ihm auf dem Fuß nachfolgte, kam nach dem Wohnort meines Großvaters und ließ überall Untersuchungen anstellen, konnte aber den Kessel nirgends finden. Aufgebracht über seinen mißlungenen Streich, und racheatmend gegen meinen Großvater, der, wie er glaubte, ihn daran gehindert hätte, ritt er nach der Stadt, brachte dem Herrn Verwalter ein ansehnliches Geschenk und bot für meines Großvaters Pacht das doppelte Pachtgeld, außerdem aber noch ein jährliches freiwilliges Geschenk für den Herrn Verwalter.

Dieser, froh über ein solches Anerbieten, und eingedenk des Schimpfs, den mein Vater, als ein Jude, ihm, einem polnischen Edelmann, durch den vorerwähnten Prozeß zugezogen hatte, schrieb dem Bösewicht auf der Stelle einen Kontrakt, wodurch er ihm nicht nur diese Pacht mit allen zugehörigen Rechten noch vor Endigung meines Großvaters Pachtzeit übergab, sondern auch meinen Großvater aller seiner Habseligkeiten, der Scheunen voll Getreide, des Viehes usw. beraubte, und sich in diese Beute mit dem neuen Pächter teilte.

Mein Großvater mußte also mit seiner ganzen Familie[26] mitten im Winter seinen Wohnort verlassen und, ohne zu wissen, wo er sich wieder etablieren sollte, von Ort zu Ort herumirren. Das Abziehn von diesem Orte war sehr rührend. Die ganze Nachbarschaft bejammerte unser Schicksal.

Ein alter achtzigjähriger treuer Diener, namens Gabriel, der noch meinen Großvater als Kind auf den Armen getragen hatte, wollte absolut mitreisen. Man stellte ihm zwar die Strenge der Jahreszeit, unsre unglückliche Lage und die Ungewißheit, worin wir selbst in Ansehung unsers zukünftigen Schicksals schwebten, vor. Aber es half nichts. Er legte sich vor den Torweg, wo unsre Wagen durchkommen mußten, und lamentierte so lange, bis man ihn aufzunehmen gezwungen war. Er reiste aber nicht lange mit uns; sein hohes Alter, der Kummer über unser Elend und die strenge Jahreszeit gaben ihm bald den letzten Stoß. Er starb, da wir kaum ein paar Meilen gereist waren, und da keine katholische oder russische Gemeinde ihm (er war ein Preuße und lutherischer Religion) ein Begräbnis auf dem Kirchhof einräumen wollte, so wurde er auf unsre Kosten aufs freie Feld begraben.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 24-27.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte