Achtes Kapitel

[36] Der Schüler weiß mehr als der Lehrer. Ein Diebstahl à la Rousseau, doch wird er entdeckt. Der Gottlose schafft sich an, und der Fromme bekleidet sich damit.


Meines Vaters zustand hatte also äußerlich ein schönes Ansehen, desto mißlicher aber sah es damit im Innern aus. Meine Mutter konnte ihrer unermüdeten Tätigkeit unerachtet nur sehr kümmerlich unsere Familie ernähren. Mein Vater mußte sich also noch außerdem um eine Lehrstelle bewerben, wobei er mich unterrichtete, und ich muß gestehen, daß ich ihm bei dieser Gelegenheit auf der einen Seite viel Freude, auf der anderen Seite aber auch nicht wenig Verdruß machte. Ich war zwar damals nur ungefähr neun Jahre alt, aber doch konnte ich nicht nur den Talmud mit seinen Kommentaren richtig fassen, sondern ich hatte sogar meine Freude daran, darüber zu disputieren, wobei ich das kindische Vergnügen genoß, über meinen ehrlichen Vater, den ich dadurch in nicht geringe Verlegenheit setzte, zu triumphieren.

Der Arendant und mein Vater lebten miteinander wie Nachbarn, d.h. sie beneideten und haßten einander wechselweise. Jener betrachtete meinen Vater als einen Landläufer, der sich ihm mit aller Gewalt aufgedrungen und ihn in dem Alleinbesitz der Vorteile dieses Ortes gestört hatte. Mein Vater hielt den Arendanten für einen reichen Idioten, der wider seine gegebene Einwilligung (die mein[36] Vater gänzlich hätte entbehren können und bloß aus Liebe zum Frieden gesucht hatte) ihn auf alle Art einzuschränken und seine Rechte zu schmälern suchte, unerachtet er doch von seiner Niederlassung wirkliche Vorteile hatte. Mohilna hatte nämlich seit dieser Zeit eine Art von Unabhängigkeit bekommen, wodurch dem Arendanten viele Kosten und Erniedrigungen erspart wurden.

Es wurde auch eine kleine Synagoge aufgerichtet, und mein Vater vertrat die Stelle eines Oberrabbiners, Predigers und Gewissensrats, indem er der einzige Gelehrte an diesem Orte war. Mein Vater versäumte zwar keine Gelegenheit, dem Arendanten dieses alles vorzustellen und ihm über sein Betragen Vorwürfe zu machen; es fruchtete aber leider wenig.

Bei dieser Gelegenheit muß ich des einzigen Diebstahls, den ich in meinem Leben begangen habe, erwähnen. Ich ging oft in das Haus des Arendanten und spielte mit seinen Kindern. Als ich einstmals in die Stube kam und keinen darin antraf (es war Sommerszeit, und die Hausleute draußen beschäftigt), erblickte ich in einem offenen Spind ein niedliches Medizinschächtelchen, welches mir ungemein gefiel. Als ich es aufmachte, fand ich zu meinem größten Leidwesen etwas Geld darin; es gehörte nämlich einem Kinde vom Hause. Ich konnte der Begierde, das Schächtelchen zu entwenden, nicht widerstehen, das Geld aber zu nehmen, hielt ich für höchst schändlich. Da ich aber überlegte, daß man diesen Diebstahl desto leichter entdecken würde, wenn ich das Geld herauslegte, so nahm ich voller Furcht und Scham das Schächtelchen wie es war und steckte es ein. Ich ging damit nach Hause und vergrub es auf das sorgfältigste. Die Nacht darauf konnte ich nicht schlafen und wurde besonders des Geldes wegen in meinem Gewissen unruhig. Ich beschloß auch, dieses wieder zurückzubringen, in Ansehung des Schächtelchens aber konnte ich mich nicht überwinden; es war ein Kunstwerk, desgleichen ich noch nie gesehen hatte. Den andern Tag[37] leerte ich das Schächtelchen aus, schlich mich damit wieder in die vorerwähnte Stube und wartete die Gelegenheit ab, bis niemand darin war. Schon war ich damit beschäftigt, das Geld in das Spind hineinzupraktizieren; ich hatte aber so wenig Geschick, dieses ohne Geräusch und mit erforderlicher Behendigkeit zu bewerkstelligen, daß ich noch auf frischer Tat ertappt und zum Geständnis des ganzen Diebstahls gebracht wurde. Ich mußte das schätzbare Kunstwerk (das ungefähr einen Dreier kostete) wieder ausgraben, seinem Eigentümer, dem kleinen Moses, zurückgeben und mich von den Kindern des Hauses Dieb nennen hören.

Eine andere Begebenheit, die sich mit mir ereignete und ein komisches Ende nahm, war folgende. Die Russen hatten einige Zeit ihr Quartier in Mohilna, und da sie neue Montierungen bekamen, wurde ihnen erlaubt, die alten zu verkaufen. Mein ältester Bruder Josef und mein Vetter Beer wandten sich an ihnen bekannte Russen und erhielten einige messingene Knöpfe zum Geschenk, die sie als die größte Zierde an ihre Hosen, statt der vorigen hölzernen, nähen ließen. Dieser Schmuck gefiel mir auch; da ich aber kein Geschick hatte, mir dergleichen selbst durch eigene Betriebsamkeit zu verschaffen, so mußte ich Gewalt gebrauchen. Ich wandte mich daher an meinen Vater und verlangte, daß Josef und Beer mir von ihren Knöpfen mitteilen sollten. Mein Vater, der zwar ein sehr billiger Mann war, aber auch mich über alles liebte, sagte: die Knöpfe wären zwar das rechtmäßige Eigentum ihrer Besitzer, da diese aber mehr hätten als zu ihrem eigenen Bedürfnisse erforderlich wäre, so sei es billig, daß sie mir von ihrem Überfluß mitteilten. Zu meinem Lobe und ihrer Beschämung setzte er noch diese biblische Stelle: »der Gottlose schafft sich an, und der Fromme bekleidet sich damit«, hinzu. Dieses Urteil mußte ungeachtet der Protestation des Josef und Beer vollzogen werden, und ich hatte die Freude, gleichfalls mit messingenen Knöpfen an meinen Hosen zu brillieren.[38]

Josef und Beer aber konnten diesen Verlust nicht verschmerzen. Sie beklagten sich laut über die himmelschreiende Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren war. Mein Vater, der sich den Prozeß vom Halse schaffen wollte, sagte daher: »Die Knöpfe sind schon an Salomons Hosen angenäht, Gewalt dürft ihr nicht brauchen, könnt ihr sie aber mit List wiederbekommen, so ist es euch erlaubt.« Beide waren mit diesem Urteil sehr zufrieden. Sie kamen zu mir, sahen meine Knöpfe an, und auf einmal riefen sie voller Erstaunen: »Ach, was sehen wir? Die Knöpfe sind mit Zwirnfäden angenäht, anstatt daß sie mit Hanf an die tuchnen Hosen genäht sein sollen; sie müssen gleich abgetrennt werden,« und indem sie dies sagten, trennten sie alle Knöpfe los und gingen voller Freude über ihr gelungenes Strategem davon. Ich lief ihnen nach und verlangte, daß sie die Knöpfe wieder annähen sollten, sie aber lachten mich aus. Mein Vater sagte mir darauf lächelnd: »Da du so leichtgläubig bist und dich hintergehen läßt, so kann ich dir nicht mehr helfen; ich hoffe, in der Zukunft wirst du klüger sein,« und damit hatte dieser Prozeß ein Ende. Ich mußte wieder mit den hölzernen Knöpfen fürlieb nehmen und noch oft zu meiner Kränkung von Josef und Beer die biblische Stelle, deren sich mein Vater zu meinem Vorteile bedient hatte, repetieren hören: Der Gottlose schafft sich etwas an, und der Fromme bekleidet sich damit.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 36-39.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte