Zwölftes Kapitel

[53] Ehestandsgeheimnisse. Fürst R. oder was ist nicht alles in Polen erlaubt.


In meinem vierzehnten Jahre bekam ich meinen ältesten Sohn David. Da ich bei meiner Verheiratung nur elf Jahre alt war und nach der bei unserer Nation in diesen Gegenden gewöhnlichen eingezogenen Lebensart und Mangel an wechselseitigem Umgang beider Geschlechter von den wesentlichen Pflichten der Ehe keinen Begriff hatte, und ein hübsches Mädchen nur als ein jedes andere Natur- oder Kunstwerk betrachtete, ungefähr wie das schöne Medizinschächtelchen, das ich einst stahl, so war es natürlich, daß ich noch eine geraume Zeit nach meiner Verheiratung nicht an Erfüllung dieser Pflichten denken konnte.

Ich pflegte mich meiner Frau als einem mir unbekannten Gegenstande mit Zittern zu nähern. Diesem Übel abzuhelfen, wurde ich in der Meinung, ich sei zu meiner Hochzeit behext worden, zu einer alten Hexe gebracht. Diese nahm mit mir allerhand Operationen vor, die freilich, obgleich indirekte, durch Hilfe der Einbildungskraft, gute Wirkung hatten.

Mein Leben in Polen seit meiner Verheiratung bis zu meiner[53] Auswanderung, welcher Zeitraum die Blüte meines Alters in sich begreift, war eine Reihe von mannigfaltigem Elend, Mangel an allen Mitteln zur Beförderung meiner Entwickelung und notwendig damit verknüpftem unzweckmäßigen Gebrauch der Kräfte, bei deren Beschreibung mir die Feder aus den Händen fällt, und deren schmerzhafte Zurückerinnerung ich in mir zu ersticken suche.

Die damalige Verfassung dieses Landes überhaupt, der Zustand unserer Nation darin, die, wie der arme Esel, von zwei Lasten, ihrer eigenen Unwissenheit und damit verbundenen Religionsvorurteilen und der Unwissenheit und den Vorurteilen der herrschenden Nation unterdrückt wird, die Unglücksfälle meiner Familie: alles vereinigte sich, mich im Laufe meiner Entwickelung zu hindern und die Wirkung meiner Naturanlagen zu hemmen.

Die polnische Nation, worunter ich bloß den polnischen Adel verstehe, ist von sehr gemischter Art. Nur die wenigsten haben Gelegenheit, sich durch Erziehung, Unterricht und zweckmäßige Reisen auszubilden, wodurch sie sowohl ihr eigenes als ihrer Untertanen Wohl aufs beste fördern können. Die meisten hingegen bringen ihr Leben in Unwissenheit und Sittenlosigkeit zu und sind ein Spiel ihrer ausschweifendsten Leidenschaften, die Tausenden ihrer Untertanen verderblich sind. Sie prangen mit Titel und Orden, die sie durch ihre Handlungen entehren, besitzen viele Güter, die sie nicht zu verwalten verstehen, und befehden sich einander wechselseitig, wodurch das Reich notwendig der Raub seiner auf seine Größe eifersüchtigen Nachbarn werden muß.

Der Fürst R ..., der als Hetmann in Polen und Woiwode in Litauen einer der größten Magnaten war, der als Besitzer dreier Erbschaften aus dieser Familie unermeßliche Güter hatte, und dem man etwas Güte des Herzens und bon sens nicht ganz absprechen konnte, war durch eine vernachlässigte Erziehung und Mangel an Unterricht einer[54] der ausschweifendsten Fürsten, die je in der Welt gelebt haben. Aus Mangel an hinlänglicher Beschäftigung, welcher eine notwendige Folge der vernachlässigten Ausbildung seines Geschmackes und Erweiterung seiner Kenntnisse war, ergab er sich dem Trunk, wodurch er zu den lächerlichsten und tollsten Handlungen verleitet wurde. Ohne sonderliche Neigung ergab er sich den schändlichsten sinnlichen Begierden, und ohne grausam zu sein, übte er gegen seine eigenen Untertanen die größten Grausamkeiten aus.

Er unterhielt mit vielen Unkosten eine Armee von zehntausend Mann, die bloß zur Pracht und sonst zu nichts in der Welt gebraucht wurde, und während der Unruhen in Polen nahm er, ohne zu wissen warum, die Partei der Konföderierten. Dadurch zog er sich die Russen auf den Hals, die seine Güter plünderten und seine Untertanen in den höchsten Mangel und ins Elend stürzten. Er selbst mußte zu verschiedenen Malen landflüchtig werden und seine seit vielen Generationen gesammelten Schätze als Beute seiner Feinde zurücklassen.

Wer kann alle seine begangenen Ausschweifungen beschreiben. Einige Beispiele werden, wie ich glaube, hinreichend sein, dem Leser einige Vorstellung davon zu machen. Eine gewisse Achtung für meinen ehemaligen Landesherrn erlaubt mir nicht, diese Fehler anders als bloße Temperaments- und Erziehungsfehler zu betrachten, die viel mehr unser Mitleiden als unsern Haß und Verachtung verdienen.

Wenn er durch eine Straße fuhr, welches gemeiniglich mit seinem ganzen Hofstaat, Kapellen und Soldaten zu geschehen pflegte, so durfte sich bei Lebensgefahr niemand auf der Straße zeigen, ja selbst in den Häusern war man nicht sicher. Die schlechteste, schmutzigste Bauersfrau, die ihm in den Wurf kam, ließ er zu sich in den Wagen nehmen.

Einst schickte er zu einem ansehnlichen Barbier jüdischer[55] Nation und ließ ihn zu sich holen. Dieser, der nichts anderes als eine verlangte chirurgische Operation vermutete, nahm seine Instrumente mit sich und erschien vor seinem Herrn. Dieser fragte ihn: »Hast du deine Instrumente mitgebracht?« »Ja, allerdurchlauchtigster Fürst,« erwiderte jener. »Gut,« sagte der Fürst, »gib mir deine Lanzette, ich will dich zur Ader lassen.« Der arme Barbier mußte sich dieses gefallen lassen. Der Fürst ergriff die Lanzette, und da er damit nicht umzugehen wußte und seine Hand ohnedem von Betrunkenheit zitterte, so war es natürlich, daß er ihn auf eine erbärmliche Art verwundete, aber seine Hofleute lächelten ihm Beifall zu und rühmten seine große Geschicklichkeit in der Chirurgie.

Er kam einst in die Kirche, und ohne in seiner Betrunkenheit zu wissen, wo er war, stellte er sich an den Altar, um sein Wasser abzuschlagen. Alle Anwesenden gerieten darüber in Entsetzen. Den Tag darauf, morgens, da er noch nüchtern war, ließ ihm die Geistlichkeit sein gestriges Vergehen zu Gemüte führen. Ei, sagte der Fürst, wir wollen dieses wieder gutzumachen suchen. Er gab darauf Befehl an die dasige Judenschaft, daß sie auf ihre Kosten fünfzig Stein Wachs zum Brennen in gedachte Kirche schaffen sollte. Die armen Juden mußten also für die Entheiligung einer christlichen Kirche durch einen rechtgläubigen katholischen Christen Sühnopfer bringen.

Einst ließ er sich einfallen, auf dem Wall um die Stadt herumzufahren. Da aber dieser zu schmal war, um eine Kutsche mit sechs Pferden (denn anders fuhr er nicht) passieren zu lassen, so mußten seine Husaren mit vieler Mühe und Lebensgefahr dieselbe auf den Händen tragen, bis er auf diese Art um die Stadt herumgefahren war.

Einst fuhr er mit seinem ganzen Hofstaat nach der jüdischen Synagoge und richtete darin, ohne daß man noch bis jetzt die Veranlassung dazu weiß, die größte Verwüstung an, zerschlug Fenster und Öfen, zerbrach alle Gefäße, warf die in der Bundeslade befindlichen Abschriften[56] der Heiligen Schrift zu Boden usw. Ein gelehrter, frommer Jude, der zugegen war, wagte es, eine derselben von der Erde aufzuheben und hatte die Ehre, von Sr. fürstlichen Durchlaucht eigenhändig mit einer Flintenkugel getroffen zu werden. Von hier ging der Zug nach der zweiten Synagoge, wo gleicherweise gewirtschaftet wurde, und von da nach dem jüdischen Begräbnisplatz, wo die Gebäude zerstört und die Denkmäler ins Feuer geworfen wurden.

Sollte man wohl denken, daß sich ein Landesherr gegen seine eigenen armen Untertanen, die er, wenn sie ja etwas verbrochen haben, gesetzmäßig bestrafen kann, so feindselig zeigen könnte? Und doch geschah es hier.

Einstens ließ er sich einfallen, eine Spazierreise nach M., einem Flecken, der ihm zugehörte und vier kleine Meilen von seiner Residenz ablag, vorzunehmen. Diese mußte mit seinem gewöhnlichen Gefolge und seinem ganzen Hofstaat vorgenommen werden. Gleich am Morgen des dazu bestimmten Tages ging der Zug vor sich. Erstlich marschierte seine ganze Armee in Reih und Glied regimenterweise, wie gewöhnlich, eingeteilt: Infanterie, Artillerie, Kavallerie usw. Dann seine Leibgarde, Strelitzen, die aus freiwilligen, armen Edelleuten bestand; darauf kamen seine Küchenwagen, worin der ungarische Wein nicht vergessen worden war, auf diese seine Janitscharenmusik und andere Kapellen, dann kam seine Kutsche und dieser folgten endlich seine Satrapen. So nenne ich sie, weil ich diesen Zug nicht anders als mit dem Zuge des Darius im Kriege wider Alexander zu vergleichen weiß. Gegen Abend gelangten Se. fürstliche Durchlaucht selbst (in höchsteigner Person kann ich nicht sagen, weil der ungarische Wein Sr. Durchlaucht alles Bewußtsein, worauf doch die Personalität beruht, beraubt hatte) in meinem Wirtshause am Ende der Vorstadt K ... Sr. Durchlaucht Residenz N. an. Er wurde in das Haus hineingetragen und auf meiner Schwiegermutter schmutziges unüberzogenes Bett in voller Kleidung, gestiefelt und gespornt, geworfen.[57]

Ich, wie gewöhnlich, mußte Reißaus nehmen. Meine Amazonen aber, ich meine meine Schwiegermutter und meine Frau, verließen sich auf ihren Heldenmut und blieben allein zu Hause. Die ganze Nacht durch wurde gelärmt; in eben der Stube, wo Se. Durchlaucht lagen, wurde Holz gehackt, gekocht und gebraten. Man wußte schon, daß, wenn Se. fürstliche Durchlaucht schlief, Hochdieselben nichts als vielleicht die Posaune des Jüngsten Gerichts aufzuwecken imstande sei.

Am andern Morgen weckte man ihn auf. Er sah sich um und wußte nicht, ob er seinen Augen trauen sollte, da er sich in einem elenden Wirtshause unausgekleidet auf ein schmutziges Bett geworfen fand, das von Wanzen wimmelte. Seine Kammerdiener, Edelknaben und Mohren, erwarteten seine Befehle; er fragte, wie er hierher gekommen, und man meldete ihm, daß Se. Durchlaucht gestern eine Reise nach M. angetreten, hier aber Rast zu halten geruhet hätten; sein ganzes Gefolge sei indessen vorausgegangen und jetzt gewiß schon in M. eingetroffen.

Die Reise nach M. wurde für jetzt eingestellt und das ganze Gefolge zurückgeholt, welches auch mit der gewöhnlichen Ordnung und Feierlichkeit in die Residenz einzog. Dem Fürsten aber beliebte es, in meinem Wirtshause zu Mittag große Tafel zu halten. Alle fremden Herren, die sich in dieser Stadt damals aufhielten, wurden dazu eingeladen. Es wurde von goldenen Servicen gespeist, und man kann sich den Kontrast von asiatischer Pracht und lappländischer Armut, welche hier in einem Hause herrschten, nicht groß genug vorstellen.

In einem elenden Wirtshause, dessen Wände von Rauch und Ruß kohlschwarz waren, dessen Balken von unförmlichen runden Baumstämmen unterstützt wurden, dessen Fenster aus einigen Überbleibseln von zerschlagenen schlechten Scheiben und schmalen Streifen Kienholz mit Papier überzogen bestanden – in diesem Hause saßen Fürsten auf schmutzigen Bänken an einem noch schmutzigeren[58] Tisch im Glanze ihrer Herrlichkeit und ließen sich die ausgesuchtesten Speisen und die herrlichsten Weine auf einem goldenen Service reichen.

Vor Tische promenierte der Fürst mit den anderen anwesenden Herren vor dem Wirtshause und erblickte zufälligerweise meine Frau. Diese war damals in der Blüte ihrer Jugend, und ob ich schon von ihr geschieden bin, so muß ich ihr doch Gerechtigkeit widerfahren lassen und gestehen, daß (freilich alles, was Geschmack und Kunst zur Erhöhung der Reize beiträgt, abgerechnet, indem diese bei ihr nicht stattfanden) sie damals eine Schönheit von erstem Range war. Es war also natürlich, daß sie auch dem Fürsten R. gefallen mußte. Er wandte sich zu seinen Begleitern und sagte: »Wahrhaftig ein hübsches junges Weibchen! Man sollte ihr nur ein weißes Hemd anziehen lassen.« Dieses pflegte seine gewöhnliche Losung zu sein und bedeutete ebensoviel als das Zuwerfen eines Schnupftuches beim Großsultan. Als es daher diese Herren hörten, so wurden sie für die Ehre meiner Frau besorgt und winkten ihr, sich aufs schleunigste aus dem Staube zu machen. Diese nutzte den Wink, schlich sich in der Stille fort und lief über alle Berge.

Nach der Mahlzeit zog Se. Durchlaucht mit den andern Herren unter Trompeten, Pauken und Janitscharenmusik wieder in die Stadt ein. Nun wurde zu der gewöhnlichen Ordnung des Tages geschritten, das heißt, den ganzen Nachmittag und den darauffolgenden Abend zechte man, fuhr alsdann nach H ..., einem Lustschloß am Eingange des fürstlichen Tiergartens, wo ein Feuerwerk mit vielen Kosten gegeben wurde, aber gemeiniglich zu verunglücken pflegte. Bei jedem ausgeleerten Becher wurden Kanonen gelöst, wobei die armen Kanoniere, die besser mit dem Pflug als mit Kanonen umzugehn wußten, nicht selten beschädigt wurden. Vivat Kschondsie R ... (es lebe Fürst R ...) riefen die Gäste, und die Palme in diesem Bacchusspiel wurde, wie natürlich, dem Fürsten zuerkannt, wobei[59] er denn jedesmal die, die sie ihm überreichten, mit Geschenken überhäufte, die nicht in vergänglicher Münze oder goldenen Dosen und dergleichen bestanden, sondern in unbeweglichen Gütern mit vielen hundert Bauern. Endlich wurde Konzert gegeben, wobei denn Se. fürstliche Durchlaucht sanft einschliefen und so nach dem Schlosse zurückgebracht wurden.

Die zu solchen Verschwendung nötigen Kosten wurden von den armen Untertanen erpreßt. War dieses nicht hinlänglich, so mußten Schulden gemacht und Güter zu ihrer Tilgung verkauft werden. Ja, nicht einmal die zwölf goldenen Männer in Lebensgröße (ob sie die zwölf Apostel oder zwölf Riesen vorstellen sollten, weiß ich nicht), die der Fürst von seinen Vorfahren geerbt hatte, auch nicht der goldne Tisch, den er selbst hatte verfertigen lassen, wurde bei solchen Gelegenheiten verschont. Und so wurden denn nach und nach die ansehnlichen Güter dieses großen Fürsten vermindert, seine seit vielen Generationen angehäuften Schätze erschöpft und die Untertanen – doch ich breche ab.

Dieser Fürst starb vor kurzem ohne Leibeserben. Seines Bruders Sohn soll der einzige Erbe seiner Güter sein.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 53-60.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben
Salomon Maimons Lebensgeschichte
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