A. Erste Einführung der Ideenlehre. Das reine Denken und die reinen Denkobjekte (pag. 65-68).

[136] Daß in den Sinnen keine Wahrheit ist, daß auch die schärfsten von ihnen, Gesicht und Gehör, nichts »exakt« und »klar« auffassen, wird zu Grunde gelegt, ohne Beweis, mit Berufung darauf, daß »selbst die Dichter« das immer im Munde führen. Die Quelle dieser ersten, bloß negativen Einsicht ist darum doch bei den Philosophen zu suchen, von denen es die Dichter haben. Unter ihnen hatte die Inexaktheit der Sinne keiner so exakt definiert wie DEMOKRIT, der geradezu die Tatsache der Empfindungsschwelle ausdrückt, Sextus adv. math. VII 139: Die Sinnesempfindung hat stets ein Minimum, der denkende, nämlich mathematische Verstand erkennt kein Minimum, nämlich im Gegenstand, den er der sinnlichen Erscheinung zu Grunde legt, an. Vor allem aber wird man hier an PLATOS eigene Kritik der Sinne, das heißt an den Theaetet denken dürfen. Es entspräche nicht der strengen Tendenz des Beweisens, die gerade diese Schrift auszeichnet, sich für eine dermaßen grundlegende Voraussetzung der ganzen Beweisführung bloß auf das allgemeine Zugeständnis zu stützen, wenn nicht dies allgemein Zugestandene ihm schon vordem »zulänglich bewiesen« war.

Daß aber die Festsetzungen gerade des Theaetet hier durchweg vorausgesetzt sind, bestätigt sogleich die nächste Folgerung: Also erreicht die Seele Wahrheit, oder etwas von dem, was ist, nicht, wenn sie mit Hilfe des Körpers etwas zu erkennen sucht, sondern allein in der reinen Denktätigkeit, in der sie sich vom Körper losmacht und »für sich selbst« ist. Insbesondere die reinen Denkbestimmungen, das »Sein« von allem, »was« ein jedes eben »ist«, was es »selbst« oder »an sich« ist – die Bedeutung dieser Ausdrücke, und vor allem, daß es so etwas gibt, wird schlechthin als bekannt vorausgesetzt und mit keinem Wort weiter erläutert – dies faßt sie nicht durch körperliche Vermittlung auf, sondern wer das genau im Gedanken fassen will (und das ist die wesentliche Voraussetzung der Erkenntnis), der muß sich nach Möglichkeit mit dem bloßen Denken (dem Denken »selbst«) auf den Gegenstand richten, muß weder das Gesicht noch sonst einen Sinn zur logischen Betrachtung hinzunehmen, sondern mit dem reinen Verstande, für sich selbst, ein jedes von dem, was ist, rein und für sich selbst, zu erjagen trachten (66 A); dann (66 E): mit der Seele[137] (dem Bewußtsein) »selbst« die Sachen »selbst«, nämlich die reinen Denkgegenstände, die im Begriff konstituierten, man darf der Analogie nach sagen: die »reinen« Objekte erschauen.

Das hier wiederholt begegnende »an sich selbst« (auto kath' hauto) besagt soweit noch nichts mehr als, daß in strenger Ausschließlichkeit der im Begriff gesetzte identische Inhalt ins Auge gefaßt und von aller Besonderheit und allem Wechsel der im gegebenen Fall damit etwa sich verflechtenden sonstigen Bestimmungen im Gedanken rein abgelöst werden soll. Die Reinheit des Denkens und seines Objekts besagt so weit nichts mehr als die Reinheit der Abstraktion.

Der einfache Grundgedanke wird dann in einem Rückblick (79 CD »wir sagten längst...«) nochmals formuliert; es sei daraus besonders hervorgehoben, daß die Seele (das Bewußtsein) einerseits, wenn sie durch Vermittlung der Sinne, mithin des Körpers etwas betrachtet, in die Verwirrung des Sinnlichen hineingezogen, in dem »nie sich gleich Verhaltenden« herumgezerrt wird, wenn sie dagegen »für sich selbst« ihren Gegenstand betrachtet, das Reine, Immerseiende, stets gleich sich Verhaltende erreicht u. s. f.

Es ist für das Verständnis der Genesis der Ideenlehre von größter Wichtigkeit sich darüber klar zu sein, daß schon in diesen ersten Sätzen, mit denen die Behandlung der Ideenlehre im Phaedo einsetzt und die von da ab, so ohne jeden Beweis, wie sie hier eingeführt sind, doch fort und fort als »zulänglich bewiesene« Prämissen angenommen werden und dem ganzen Aufbau des Beweises als letzte Stütze dienen (es genügt die zwei bezeichnendsten Stellen, 77 A und 100 B, herauszuheben), die entscheidenden Feststellungen des Theaetet als bekannt vorausgesetzt werden.

Es wird erstens die Existenz der begrifflichen Bestimmtheiten selbst als schlechthin feststehend angenommen. 65 D: »Wir sagen doch, daß es ein Gerechtes, Schönes, Gutes selbst oder an sich selbst gebe? Ja, das sagen wir weiß Gott!« Und fast in denselben Worten 74 A. Es wird ausdrücklich bemerkt, daß dies schon anderweitig erörtert sei; zwar nicht 76 D, wo die Worte, »was wir fortwährend abdreschen« am natürlichsten auf die vorausgegangenen Erörterungen dieses Dialogs selbst bezogen werden, aber wohl 100 B, wo dieselbe Voraussetzung der reinen Denksetzungen bezeichnet wird als »nichts Neues, sondern eben das, was ich stets, [138] sowohl sonst als in der vorausgegangenen Erörterung, unablässig behauptet habe«. Nun könnte man dies, wenn es sich bloß um die Annahme der reinen Begriffe im allgemeinen handelte, allenfalls auf früheste Schriften wie Protagoras und Meno und etwa noch auf den Kratylus beziehen. Aber schon das wäre dann sehr fraglich, ob das auch zur Erklärung des wiederholten und nachdrücklichen Gebrauchs der Verbindung »das Schöne usw. an sich selbst« (auto kath' hauto) ausreichte. Dieser hier offenbar schon ganz feststehende Gebrauch wird jedenfalls ungleich verständlicher, wenn der Theaetet vorausgegangen ist, in welchem der Gegensatz der absoluten Setzung des reinen Begriffs, unter dieser, durch eben diesen Gegensatz erklärten Benennung des auto kath' hauto, gegen die grenzenlose Relativität, die den Charakter des Sinnlichen ausmacht, eingehend dargelegt und, worauf es hauptsächlich hier ankommt, begründet ist.

Zweitens aber die bestimmte psychologische Unterscheidung: daß die reinen Begriffe die Objekte des reinen Denkens (logizesthai, dianoeisthai) oder des reinen Verstandes (logismos, dianoia), ja des reinen Bewußtseins (autê hê psychê) sind, ist, eben unter diesen Ausdrücken, in keiner andern Schrift, die dem Phaedo zeitlich vorausgegangen sein könnte, aufgestellt und, worauf es, nochmals gesagt, schlechterdings hier ankommt, begründet und in genauer Definition festgelegt worden als im Theaetet (s. daselbst: analogizesthai, syllogismos 186 AD, dianoia, dianoeisthai 189 D – 190 A; psychê, autê hê psychê, autê di hautês, autê kath' hautên 185 D ff., 186 B, 187 A); auch mit der gleichen letzten Folgerung: daß »Wahrheit« und »Sein« also nur durch den reinen Verstand oder das reine Bewußtsein zu erreichen sei (186 C).

Und damit hängt die dritte, vielleicht beweisendste Parallele zusammen; daß nämlich auch die bestimmte, aus dem Theaetet wohlbekannte Unterscheidung hier, ebenfalls ohne jede Begründung oder nähere Erklärung, wiederkehrt, zwischen dem, was wir mit der Seele (dem Bewußtsein) selbst, unabhängig von den Sinnen und also vom Körper, und was wir zwar auch kraft der Seele (des Bewußtseins), aber doch nur »durch Vermittlung« oder »mit Hilfe« (dia oder meta) der Sinne und also des Körpers auffassen (Phaedo 66 BD, 79 C, Theaet. 184 C ff., 185 E, 186 C). Diese Unterscheidung findet sich genau in derselben sachlichen und sprachlichen Fassung überhaupt nur noch im Theaetet; dort aber tritt sie ganz offenbar als neue Errungenschaft auf, deren Bedeutung nachdrücklichst hervorgehoben[139] wird (184 C, 185 DE), während im Phaedo nur gefragt wird: Verhält es sich nicht (bekanntlich) so? was dann vom Mitunterredner ohne Besinnen, ohne irgend eine Andeutung, daß ihm das etwas Neues oder der Begründung oder näheren Erklärung noch bedürftig sei, bejaht wird. Mir wenigstens schiene es ein allzu kühnes Wagestück, anzunehmen, daß PLATO alle diese Voraussetzungen anders als in bewußter Erinnerung an den Theaetet so als bereits feststehend hätte einführen können. Die ganze Beweisführung des Phaedo würde dann wie in der Luft hängen, denn eben diese Voraussetzungen sind ja, nach den eigenen, wiederholten Erklärungen PLATOS und nach dem klaren Sachzusammenhang seiner ganzen Darlegung, die Grundsäulen, die den ganzen Bau des Beweises tragen müssen.

Ziemlich unbestimmt freilich ist bis dahin das Gebiet der Ideen begrenzt. Voran stehen die Begriffe, von denen PLATO ursprünglich ausgegangen war, die sittlichen. Daneben deutet der einzige Begriff der Größe das Gebiet der mathematischen Grundbegriffe für jetzt hinreichend an; der Fortgang des Dialogs wird sie zu der vollen Würdigung, auf die sie Anspruch haben, emporheben. Aber die sich weiter anreihenden Begriffe »Gesundheit, Stärke« scheinen schon fast zu sehr ins empirische Gebiet hinüberzuschweifen; während gerade die Klasse der radikalsten, nämlich der eigentlich logischen Grundbegriffe hier ganz übergangen wird. Aber das entschuldigt wohl die immerhin lose Art dieser ersten Einführung. Die Betrachtung wird sich schrittweis vertiefen, und in der letzten Erörterung werden wir die logischen Grundbegriffe nicht bloß anerkannt, sondern mit stärkstem Nachdruck an die Spitze gestellt, übrigens auch die Begriffe des biologischen Gebiets an richtiger Stelle eingeführt finden (105 C). Man darf in dieser Beziehung nicht die erste Eröffnung oder richtiger Vorbereitung der dialektischen Untersuchung im Phaedo mit dem Gipfel der Erörterungen des Theaetet schon auf gleicher Höhe zu finden erwarten.

Ernsteren Zweifel könnte es erregen, daß hier die wurzelhafte Verschiedenheit der sinnlichen und begrifflichen Funktion sich wieder, wie im Phaedrus, zur gänzlichen Losreißung beider von einander zu steigern scheint. Man soll sich möglichst »scheiden« und »befreien« von den Sinnen und dem Körper, sie bei der Betrachtung »nicht zu Hilfe nehmen«, nichts mit ihnen gemein haben wollen, da sie uns nur in Trug und Verwirrung stürzen, und wie die dann sich häufenden Ausdrücke[140] alle lauten. Die Seele soll sich aus dem Sinnlichen ganz zurückziehen, sich in sich selbst sammeln (67 C, 83 A, 80 E u. ö.); ein an sich zwar durchaus bezeichnender Ausdruck der Konzentration im Denken. Besonders tritt der gefährliche Ausdruck der Sonderung (chôrizein, chôrismos, chôris) der Seele vom Körper (67 C D, 76 C) hier zuerst auf, der allzuleicht vom Verhältnis der Seele zum Körper auf das der Idee zur Erscheinung sich übertragen konnte und auf Grund dieser Übertragung dem ARISTOTELES zu heftigem Tadel gegen die Ideenlehre scheinbaren Anlaß gegeben hat. Kaum irgendwo wieder gibt sich die Körper- und Sinnenflucht bei PLATO in so starkem und so einseitigem, man möchte sagen ungebändigtem Stimmungsausdruck kund. Widerspricht das nicht der bestimmten Anerkennung eines positiven Anteils der Sinnlichkeit an der Erkenntnis, die im Theaetet schon ausgesprochen war?

Aber bei näherem Zusehen findet man bald, daß der Unterschied weit mehr im Ton als in der Sache liegt. Wir werden es gerade aus dem Phaedo vernehmen, daß sogar nur vom Sinnlichen aus, wiewohl nicht aus ihm, die reinen Begriffe zu gewinnen, daß also die Sinne zur Erkenntnis allerdings »zu Hilfe zu nehmen« sind (so heißt es geradezu, 75 E, in scheinbarem Widerspruch mit 65 A, 79 C). Jene Stimmung kennen wir ja zur Genüge aus dem Phaedrus, wo das Hier und Dort, Hienieden und Droben ganz so schroff auseinandergerissen wurde, und für die geforderte Flucht ins Jenseits die stärksten Ausdrücke gerade recht waren: man solle sich in jähem Flug von hier dorthin schwingen, das Sinnliche ganz zurücklassen, darüber wegsehen, alles was Menschen ein Ernst ist, hinter sich werfen, und was der harten Forderungen mehr ist. Im Theaetet war einzig die Episode (172 ff.) in diese weltabgekehrte Stimmung getaucht und daher im ganzen Ton dem Phaedo nah verwandt; auch dort riet PLATO »von hier dorthin« zu fliehen so schnell als möglich. Im Phaedo fallen die entsprechenden Ausdrücke nur dichter, weil allgemein dem Stimmungserguß breiterer Raum vergönnt ist. Aber, wie die gleiche Stimmung jenen beiden Dialogen und schon dem Gorgias nicht fremd ist, so fehlt umgekehrt im Phaedo nicht die strenge, auf alle dergleichen Stilmittel verzichtende logische Erörterung, und sie behält den Sieg in dem alles entscheidenden Schlußteil der Beweisführung. In diesen streng dialektischen Partien aber verrät sich so wenig eine Verachtung der Sinnenwelt,[141] daß vielmehr eben in ihnen das erste logische Fundament gelegt wird zu einer Wissenschaft vom Werden, die es im Phaedrus und Theaetet noch garnicht gab; daß das Veränderliche als zweite Art des Seins neben dem Unwandelbaren (den Ideen) seine gesicherte Stelle findet. Diese neue logische Errungenschaft des Phaedo ist sachlich von einem Gewicht, gegen das jene Äußerungen einer düsteren, weltflüchtigen Stimmung garnicht in Anrechnung kommen können; denn PLATO weiß zur Genüge und sagt es am stärksten gerade im Phaedo, daß es in der Philosophie aufs Beweisen zuletzt ankommt.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 136-142.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Casanovas Heimfahrt

Casanovas Heimfahrt

Nach 25-jähriger Verbannung hofft der gealterte Casanova, in seine Heimatstadt Venedig zurückkehren zu dürfen. Während er auf Nachricht wartet lebt er im Hause eines alten Freundes, der drei Töchter hat... Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht.

82 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon