Jenseits von Gut und Böse

Vorspiel einer Philosophie der Zukunft

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[1141] Die Aufgabe für die nunmehr folgenden Jahre war so streng als möglich vorgezeichnet. Nachdem der jasagende Teil meiner Aufgabe gelöst war, kam die neinsagende, neintuende Hälfte derselben an die Reihe: die Umwertung der bisherigen Werte selbst, der große Krieg – die Heraufbeschwörung eines Tags der Entscheidung. Hier ist eingerechnet der langsame Umblick nach Verwandten, nach solchen, die aus der Stärke heraus zum Vernichten mir die Hand bieten würden. – Von da an sind alle meine Schriften Angelhaken: vielleicht verstehe ich mich so gut als jemand auf Angeln?... Wenn nichts sich fing, so liegt die Schuld nicht an mir. Die Fische fehlten...


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Dies Buch (1886) ist in allem Wesentlichen eine Kritik der Modernität, die modernen Wissenschaften, die modernen Künste, selbst die moderne Politik nicht ausgeschlossen, nebst Fingerzeigen zu einem Gegensatz-Typus, der so wenig modern als möglich ist, einem vornehmen, einem jasagenden Typus. Im letzteren Sinne ist das Buch eine Schule des gentilhomme, der Begriff geistiger und radikaler genommen als er je genommen worden ist. Man muß Mut im Leibe haben, ihn auch nur auszuhalten, man muß das Fürchten nicht gelernt haben... Alle die Dinge, worauf das Zeitalter stolz ist, werden als Widerspruch zu diesem Typus empfunden, als schlechte Manieren beinahe, die berühmte »Objektivität« zum Beispiel, das »Mitgefühl mit allem Leidenden«, der »historische Sinn« mit seiner Unterwürfigkeit vor fremdem Geschmack, mit seinem Auf-dem-Bauch-Liegen vor petits faits, die »Wissenschaftlichkeit«. – Erwägt man, daß das Buch nach dem Zarathustra folgt, so errät man vielleicht auch das diätetische régime, dem es seine Entstehung verdankt. Das Auge, verwöhnt durch eine ungeheure Nötigung, fernzusehn – Zarathustra ist weitsichtiger noch[1141] als der Zar –, wird hier gezwungen, das Nächste, die Zeit, das Um-uns scharf zu fassen. Man wird in allen Stücken, vor allem auch in der Form, eine gleiche willkürliche Abkehr von den Instinkten finden, aus denen ein Zarathustra möglich wurde. Das Raffinement in Form, in Absicht, in der Kunst des Schweigens, ist im Vordergrunde, die Psychologie wird mit eingeständlicher Härte und Grausamkeit gehandhabt – das Buch entbehrt jedes gutmütigen Worts... Alles das erholt: wer errät zuletzt, welche Art Erholung eine solche Verschwendung von Güte, wie der Zarathustra ist, nötig macht?... Theologisch geredet – man höre zu, denn ich rede selten als Theologe – war es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der Erkenntnis legte: er erholte sich so davon, Gott zu sein... Er hatte alles zu schön gemacht... Der Teufel ist bloß der Müßiggang Gottes an jedem siebenten Tage...[1142]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1141-1143.
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Ecce Homo
Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Ecce homo: Wie man wird, was man ist.
Der Antichrist / Ecce Homo / Dionysos- Dithyramben.
Ecce Homo, Jubiläumsausgabe
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