5. Homers Wettkampf

Vorrede

[291] Wenn man von Humanität redet, so liegt die Vorstellung zugrunde, es möge das sein, was den Menschen von der Natur abscheidet und auszeichnet. Aber eine solche Abscheidung gibt es in Wirklichkeit nicht: die »natürlichen« Eigenschaften und die eigentlich »menschlich« genannten sind untrennbar verwachsen. Der Mensch in seinen höchsten und edelsten Kräften ist ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befähigungen sind vielleicht sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität in Regungen, Taten und Werken hervorwachsen kann.

So haben die Griechen, die humansten Menschen der alten Zeit, einen Zug von Grausamkeit, von tigerartiger Vernichtungslust an sich: ein Zug, der auch in dem ins Groteske vergrößernden Spiegelbilde des Hellenen, in Alexander dem Großen, sehr sichtbar ist, der aber in ihrer ganzen Geschichte ebenso wie in ihrer Mythologie uns, die wir mit dem weichlichen Begriff der modernen Humanität ihnen entgegenkommen, in Angst versetzen muß. Wenn Alexander die Füße des tapferen Verteidigers von Gaza, Batis, durchbohren läßt und seinen Leib lebend an seinen Wagen bindet, um ihn unter dem Hohne seiner Soldaten herumzuschleifen: so ist dies die ekelerregende Karikatur des Achilles, der den Leichnam des Hektor nächtlich durch ein ähnliches Herumschleifen mißhandelt; aber selbst dieser Zug hat für uns etwas Beleidigendes und Grausen Einflößendes. Wir sehen hier in die Abgründe des Hasses. Mit derselben Empfindung stehen wir etwa auch vor dem blutigen und unersättlichen Sichzerfleischen zweier griechischer Parteien, zum Beispiel in der korkyräischen Revolution. Wenn der Sieger in einem Kampf der Städte nach dem Rechte des Krieges die gesamte männliche Bürgerschaft hinrichtet und alle Frauen[291] und Kinder in die Sklaverei verkauft, so sehen wir in der Sanktion eines solchen Rechtes, daß der Grieche ein volles Ausströmenlassen seines Hasses als ernste Notwendigkeit erachtete; in solchen Momenten erleichterte sich die zusammengedrängte und geschwollene Empfindung: der Tiger schnellte hervor, eine wollüstige Grausamkeit blickte aus seinem fürchterlichen Auge. Warum mußte der griechische Bildhauer immer wieder Krieg und Kämpfe in zahllosen Wiederholungen ausprägen, ausgereckte Menschenleiber, deren Sehnen vom Hasse gespannt sind oder vom Übermute des Triumphes, sich krümmende Verwundete, ausröcheln de Sterbende? Warum jauchzte die ganze griechische Welt bei den Kampfbildern der Ilias? Ich fürchte, daß wir diese nicht »griechisch« genug verstehen, ja daß wir schaudern würden, wenn wir sie einmal griechisch verstünden.

Was aber liegt, als der Geburtsschoß alles Hellenischen, hinter der homerischen Welt? In dieser werden wir bereits durch die außerordentliche künstlerische Bestimmtheit, Ruhe und Reinheit der Linien über die rein stoffliche Verschmelzung hinweggehoben: ihre Farben erscheinen durch eine künstlerische Täuschung lichter, milder, wärmer, ihre Menschen in dieser farbigen, warmen Beleuchtung besser und sympathischer – aber wohin schauen wir, wenn wir, von der Hand Homers nicht mehr geleitet und geschützt, rückwärts, in die vorhomerische Welt hineinschreiten? Nur in Nacht und Grauen, in die Erzeugnisse einer an das Gräßliche gewöhnten Phantasie. Welche irdische Existenz spiegeln diese widerlich-furchtbaren theogonischen Sagen wider: ein Leben, über dem allein die Kinder der Nacht, der Streit, die Liebesbegier, die Täuschung, das Alter und der Tod walten. Denken wir uns die schwer zu atmende Luft des hesiodischen Gedichtes noch verdichtet und verfinstert und ohne alle die Milderungen und Reinigungen, welche, von Delphi und zahlreichen Göttersitzen aus, über Hellas hinströmten: mischen wir diese verdickte böotische Luft mit der finsteren Wollüstigkeit der Etrusker; dann würde uns eine solche Wirklichkeit eine Mythenwelt erpressen, in der Uranos, Kronos und Zeus und die Titanenkämpfe wie eine Erleichterung dünken müßten; der Kampf ist in dieser brütenden Atmosphäre das Heil, die Rettung, die Grausamkeit des Sieges ist die Spitze des Lebensjubels. Und wie sich in Wahrheit vom Morde und der Mordsühne aus[292] der Begriff des griechischen Rechtes entwickelt hat, so nimmt auch die edlere Kultur ihren ersten Siegeskranz vom Altar der Mordsühne. Hinter jenem blutigen Zeitalter her zieht sich eine Wellenfurche tief hinein in die hellenische Geschichte. Die Namen des Orpheus, des Musäus und ihrer Kulte verraten, zu welchen Folgerungen der unausgesetzte Anblick einer Welt des Kampfes und der Grausamkeit drängte – zum Ekel am Dasein, zur Auffassung dieses Daseins als einer abzubüßenden Strafe, zum Glauben an die Identität von Dasein und Verschuldetsein. Gerade diese Folgerungen aber sind nicht spezifisch hellenisch: in ihnen berührt sich Griechenland mit Indien und überhaupt mit dem Orient. Der hellenische Genius hatte noch eine andere Antwort auf die Frage bereit: »Was will ein Leben des Kampfes und des Sieges?«, und gibt diese Antwort in der ganzen Breite der griechischen Geschichte.

Um sie zu verstehen, müssen wir davon ausgehen, daß der griechische Genius den einmal so furchtbar vorhandenen Trieb gelten ließ und als berechtigt erachtete: während in der orphischen Wendung der Gedanke lag, daß ein Leben mit einem solchen Trieb als Wurzel nicht lebenswert sei. Der Kampf und die Lust des Sieges wurden anerkannt: und nichts scheidet die griechische Welt so sehr von der unseren als die hieraus abzuleitende Färbung einzelner ethischer Begriffe, zum Beispiel der Eris und des Neides.

Als der Reisende Pausanias auf seiner Wanderschaft durch Griechenland den Helikon besuchte, wurde ihm ein uraltes Exemplar des ersten didaktischen Gedichtes der Griechen, der »Werke und Tage« Hesiods, gezeigt, auf Bleiplatten eingeschrieben und arg durch Zeit und Wetter verwüstet. Doch erkannte er so viel, daß es, im Gegensatz zu den gewöhnlichen Exemplaren, an seiner Spitze jenen kleinen Hymnus auf Zeus nicht besaß, sondern sofort mit der Erklärung begann, »zwei Erisgöttinnen sind auf Erden.« Dies ist einer der merkwürdigsten hellenischen Gedanken und wert, dem Kommenden gleich am Eingangstore der hellenischen Ethik eingeprägt zu werden. »Die eine Eris möchte man, wenn man Verstand hat, ebenso loben als die andere tadeln; denn eine ganz getrennte Gemütsart haben diese beiden Göttinnen. Denn die eine fördert den schlimmen Krieg und Hader, die Grausame! Kein Sterblicher mag sie leiden, sondern unter dem[293] Joch der Not erweist man der schwerlastenden Eris Ehre nach dem Ratschlusse der Unsterblichen. Diese gebar, als die ältere, die schwarze Nacht; die andere aber stellte Zeus, der hochwaltende, hin auf die Wurzeln der Erde und unter die Menschen als eine viel bessere. Sie treibt auch den ungeschickten Mann zur Arbeit; und schaut einer, der des Besitztums ermangelt, auf den anderen, der reich ist, so eilt er sich, in gleicher Weise zu säen und zu pflanzen und das Haus wohl zu bestellen; der Nachbar wetteifert mit dem Nachbarn, der zum Wohlstande hinstrebt. Gut ist diese Eris für die Menschen. Auch der Töpfer grollt dem Töpfer und der Zimmermann dem Zimmermann, es neidet der Bettler den Bettler und der Sänger den Sänger.«

Die zwei letzten Verse, die vom odium figulinum handeln, erscheinen unseren Gelehrten an dieser Stelle unbegreiflich. Nach ihrem Urteile passen die Prädikate »Groll« und »Neid« nur zum Wesen der schlimmen Eris; weshalb sie keinen Anstand nehmen, die Verse als unecht oder durch Zufall an diesen Ort verschlagen zu bezeichnen. Hierzu aber muß sie unvermerkt eine andere Ethik, als die hellenische ist, inspiriert haben: denn Aristoteles empfindet in der Beziehung dieser Verse auf die gute Eris keinen Anstoß. Und nicht Aristoteles allein, sondern das gesamte griechische Altertum denkt anders über Groll und Neid als wir und urteilt wie Hesiod, der einmal eine Eris als böse bezeichnet, diejenige nämlich, welche die Menschen zum feindseligen Vernichtungskampfe gegeneinander führt, und dann wieder eine andre Eris als gute preist, die als Eifersucht, Groll, Neid die Menschen zur Tat reizt, aber nicht zur Tat des Vernichtungskampfes, sondern zur Tat des Wettkampfes. Der Grieche ist neidisch und empfindet diese Eigenschaft nicht als Makel, sondern als Wirkung einer wohltätigen Gottheit: welche Kluft des ethischen Urteils zwischen uns und ihm! Weil er neidisch ist, fühlt er auch bei jedem Übermaß von Ehre, Reichtum, Glanz und Glück das neidische Auge eines Gottes auf sich ruhen, und er fürchtet diesen Neid; in diesem Falle mahnt er ihn an das Vergängliche jedes Menschenloses, ihm graut vor seinem Glücke und das Beste davon opfernd beugt er sich vor dem göttlichen Neide. Diese Vorstellung entfremdet ihm nicht etwa seine Götter: deren Bedeutung im Gegenteil damit umschrieben ist, daß mit ihnen der Mensch nie den Wettkampf wagen darf, er, dessen Seele gegen jedes andre lebende[294] Wesen eifersüchtig erglüht. Im Kampfe des Thamyris mit den Musen, des Marsyas mit Apoll, im ergreifenden Schicksale der Niobe erschien das schreckliche Gegeneinander der zwei Mächte, die nie miteinander kämpfen dürfen, von Mensch und Gott.

Je größer und erhabener aber ein griechischer Mensch ist, um so heller bricht aus ihm die ehrgeizige Flamme heraus, jeden verzehrend, der mit ihm auf gleicher Bahn läuft. Aristoteles hat einmal eine Liste von solchen feindseligen Wettkämpfen im großen Stile gemacht: darunter ist das auffallendste Beispiel, daß selbst ein Toter einen Lebenden noch zu verzehrender Eifersucht reizen kann. So nämlich bezeichnet Aristoteles das Verhältnis des Kolophoniers Xenophanes zu Homer. Wir verstehen diesen Angriff auf den nationalen Heros der Dichtkunst nicht in seiner Stärke, wenn wir nicht, wie später auch bei Plato, die ungeheure Begierde als Wurzel dieses Angriffs uns denken, selbst an die Stelle des gestürzten Dichters zu treten und dessen Ruhm zu erben. Jeder große Hellene gibt die Fackel des Wettkampfes weiter; an jeder großen Tugend entzündet sich eine neue Größe. Wenn der junge Themistokles im Gedanken an die Lorbeeren des Miltiades nicht schlafen konnte, so entfesselte sich sein frühgeweckter Trieb erst im langen Wetteifer mit Aristides zu jener einzig merkwürdigen, rein instinktiven Genialität seines politischen Handelns, die uns Thukydides beschreibt. Wie charakteristisch ist Frage und Antwort, wenn ein namhafter Gegner des Perikles gefragt wird, ob er oder Perikles der beste Ringer in der Stadt sei, und die Antwort gibt: »Selbst wenn ich ihn niederwerfe, leugnet er, daß er gefallen sei, erreicht seine Absicht und überredet die, welche ihn fallen sahen.«

Will man recht unverhüllt jenes Gefühl in seinen naiven Äußerungen sehen, das Gefühl von der Notwendigkeit des Wettkampfes, wenn anders das Heil des Staates bestehen soll, so denke man an den ursprünglichen Sinn des Ostrakismos: wie ihn zum Beispiel die Ephesier bei der Verbannung des Hermodor aussprechen. »Unter uns soll niemand der Beste sein; ist jemand es aber, so sei er anderswo und bei anderen.« Denn weshalb soll niemand der Beste sein? Weil damit der Wettkampf versiegen würde und der ewige Lebensgrund des hellenischen Staates gefährdet wäre. Später bekommt der Ostrakismos eine andere Stellung zum Wettkampfe: er wird angewendet, wenn die Gefahr[295] offenkundig ist, daß einer der großen um die Wette kämpfenden Politiker und Parteihäupter zu schädlichen und zerstörenden Mitteln und zu bedenklichen Staatsstreichen in der Hitze des Kampfes sich gereizt fühlt. Der ursprüngliche Sinn dieser sonderbaren Einrichtung ist aber nicht der eines Ventils, sondern der eines Stimulanzmittels: man beseitigt den überragenden einzelnen, damit nun wieder das Wettspiel der Kräfte erwache: ein Gedanke, der der »Exklusivität« des Genius im modernen Sinne feindlich ist, aber voraussetzt, daß in einer natürlichen Ordnung der Dinge es immer mehrere Genies gibt, die sich gegenseitig zur Tat reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maßes halten. Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren, sie begehrt, als Schutzmittel gegen das Genie – ein zweites Genie.

Jede Begabung muß sich kämpfend entfalten, so gebietet die hellenische Volkspädagogik: während die neueren Erzieher vor nichts eine so große Scheu haben als vor der Entfesselung des sogenannten Ehrgeizes. Hier fürchtet man die Selbstsucht als das »Böse an sich« – mit Ausnahme der Jesuiten, die wie die Alten darin gesinnt sind und deshalb wohl die wirksamsten Erzieher unserer Zeit sein mögen. Sie scheinen zu glauben, daß die Selbstsucht, d. h. das Individuelle, nur das kräftigste agens ist, seinen Charakter aber als »gut« und »böse« wesentlich von den Zielen bekommt, nach denen es sich ausreckt. Für die Alten aber war das Ziel der agonalen Erziehung die Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft. Jeder Athener z. B. sollte sein Selbst im Wettkampfe so weit entwickeln, als es Athen vom höchsten Nutzen sei und am wenigsten Schaden bringe. Es war kein Ehrgeiz ins Ungemessene und Unzumessende wie meistens der moderne Ehrgeiz: an das Wohl seiner Mutterstadt dachte der Jüngling, wenn er um die Wette lief oder warf oder sang; ihren Ruhm wollte er in dem seinigen mehren; seinen Stadtgöttern weihte er die Kränze, die die Kampfrichter ehrend auf sein Haupt setzten. Jeder Grieche empfand in sich von Kindheit an den brennenden Wunsch, im Wettkampf der Städte ein Werkzeug zum Heile seiner Stadt zu sein: darin war seine Selbstsucht entflammt, darin war sie gezügelt und umschränkt. Deshalb waren die Individuen im Altertume freier, weil ihre Ziele[296] näher und greifbarer waren. Der moderne Mensch ist dagegen überall gekreuzt von der Unendlichkeit wie der schnellfüßige Achill im Gleichnisse des Eleaten Zeno: die Unendlichkeit hemmt ihn, er holt nicht einmal die Schildkröte ein.

Wie aber die zu erziehenden Jünglinge miteinander wettkämpfend erzogen wurden, so waren wiederum ihre Erzieher unter sich im Wetteifer. Mißtrauisch-eifersüchtig traten die großen musikalischen Meister, Pindar und Simonides, nebeneinander hin; wetteifernd begegnet der Sophist, der höhere Lehrer des Altertums, dem anderen Sophisten; selbst die allgemeinste Art der Belehrung, durch das Drama, wurde dem Volke nur erteilt unter der Form eines ungeheuren Ringens der großen musikalischen und dramatischen Künstler. Wie wunderbar! »Auch der Künstler grollt dem Künstler!« Und der moderne Mensch fürchtet nichts so sehr an einem Künstler als die persönliche Kampfregung, während der Grieche den Künstler nur im persönlichen Kampfe kennt. Dort, wo der moderne Mensch die Schwäche des Kunstwerks wittert, sucht der Hellene die Quelle seiner höchsten Kraft! Das, was zum Beispiel bei Plato von besonderer künstlerischer Bedeutung an seinen Dialogen ist, ist meistens das Resultat eines Wetteifers mit der Kunst der Redner, der Sophisten, der Dramatiker seiner Zeit, zu dem Zweck erfunden, daß er zuletzt sagen konnte: »Seht, ich kann das auch, was meine großen Nebenbuhler können; ja, ich kann es besser als sie. Kein Protagoras hat so schöne Mythen gedichtet wie ich, kein Dramatiker ein so belebtes und fesselndes Ganze wie das Symposion, kein Redner solche Rede verfaßt, wie ich sie im Gorgias hinstelle – und nun verwerfe ich das alles zusammen und verurteile alle nachbildende Kunst! Nur der Wettkampf machte mich zum Dichter, zum Sophisten, zum Redner!« Welches Problem erschließt sich uns da, wenn wir nach dem Verhältnis des Wettkampfes zur Konzeption des Kunstwerkes fragen! –

Nehmen wir dagegen den Wettkampf aus dem griechischen Leben hinweg, so sehen wir sofort in jenen vorhomerischen Abgrund einer grauenhaften Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust. Dies Phänomen zeigt sich leider so häufig, wenn eine große Persönlichkeit durch eine ungeheure glänzende Tat plötzlich dem Wettkampfe entrückt wurde und hors de concours, nach seinem und seiner Mitbürger[297] Urteil war. Die Wirkung ist, fast ohne Ausnahme, eine entsetzliche; und wenn man gewöhnlich aus diesen Wirkungen den Schluß zieht, daß der Grieche unvermögend gewesen sei, Ruhm und Glück zu ertragen: so sollte man genauer reden, daß er den Ruhm ohne weiteren Wettkampf, das Glück am Schlusse des Wettkampfes nicht zu tragen vermochte. Es gibt kein deutlicheres Beispiel als die letzten Schicksale des Miltiades. Durch den unvergleichlichen Erfolg bei Marathon auf einen einsamen Gipfel gestellt und weit hinaus über jeden Mitkämpfenden gehoben, fühlt er in sich ein niedriges rachsüchtiges Gelüst erwachen gegen einen parischen Bürger, mit dem er vor alters eine Feindschaft hatte. Dies Gelüst zu befriedigen, mißbraucht er Ruf, Staatsvermögen, Bürgerehre und entehrt sich selbst. Im Gefühl des Mißlingens verfällt er auf unwürdige Machinationen. Er tritt mit der Demeterpriesterin Timo in eine heimliche und gottlose Verbindung und betritt nachts den heiligen Tempel, aus dem jeder Mann ausgeschlossen war. Als er die Mauer übersprungen hat und dem Heiligtum der Göttin immer näher kommt, überfällt ihn plötzlich das furchtbare Grauen eines panischen Schreckens: fast zusammenbrechend und ohne Besinnung fühlt er sich zurückgetrieben, und über die Mauer zurückspringend stürzt er gelähmt und schwer verletzt nieder. Die Belagerung muß aufgehoben werden, das Volksgericht erwartet ihn, und ein schmählicher Tod drückt sein Siegel auf eine glänzende Heldenlaufbahn, um sie für alle Nachwelt zu verdunkeln. Nach der Schlacht bei Marathon hat ihn der Neid der Himmlischen ergriffen. Und dieser göttliche Neid entzündet sich, wenn er den Menschen ohne jeden Wettkämpfer gegnerlos auf einsamer Ruhmeshöhe erblickt. Nur die Götter hat er jetzt neben sich – und deshalb hat er sie gegen sich. Diese aber verleiten ihn zu einer Tat der Hybris, und unter ihr bricht er zusammen.

Bemerken wir wohl, daß so, wie Miltiades untergeht, auch die edelsten griechischen Staaten untergehen, als sie durch Verdienst und Glück aus der Rennbahn zum Tempel der Nike gelangt waren. Athen, das die Selbständigkeit seiner Verbündeten vernichtet hatte und mit Strenge die Aufstände der Unterworfenen ahndete, Sparta, welches nach der Schlacht von Ägospotamoi in noch viel härterer und grausamerer Weise sein Übergewicht über Hellas geltend machte,[298] haben auch, nach dem Beispiele des Miltiades, durch Taten der Hybris ihren Untergang herbeigeführt zum Beweise dafür, daß ohne Neid, Eifersucht und wettkämpfenden Ehrgeiz der hellenische Staat wie der hellenische Mensch entartet. Er wird böse und grausam, er wird rachsüchtig und gottlos, kurz, er wird »vorhomerisch« – und dann bedarf es nur eines panischen Schreckens, um ihn zum Fall zu bringen und zu zerschmettern. Sparta und Athen liefern sich an Persien aus, wie es Themistokles und Alkibiades getan haben; sie verraten das Hellenische, nachdem sie den edelsten hellenischen Grundgedanken, den Wettkampf, aufgegeben haben: und Alexander, die vergröbernde Kopie und Abbreviatur der griechischen Geschichte, erfindet nun den Allerwelts-Hellenen und den sogenannten »Hellenismus«. –


Beendet am 29. Dezember 1872

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 291-299.
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