25.
An Erwin Rohde

[984] Naumburg, 1.-3. Febr. 1868


Mein lieber Freund, Sonnabend ist es und zwar neigt sich der Tag seinem Ende zu. Für einen Soldaten liegt ein Zauber in dem Wort »Sonnabend«, ein Gefühl der Beruhigung und des Friedens, das ich als Student nicht kannte. Ruhig schlafen und träumen zu können, ohne daß das Schreckensbild des andern Morgens die Seele umschwebt, wiederum 7 Tage jener uniformierten Aufregung, die man Militärjahr nennt, überwunden und abgetan zu haben – was gibt das für einfache und starke Vergnügungen, eines Zynikers würdig und fast zu billig und zu bequem von uns erworben! Ich verstehe jetzt jene erste und größte Sonnabendnachmittagstimmung, in der das behagliche Wort erscholl panta lian kala, in der der Kaffee und die Pfeife erfunden wurde und der erste Optimist ins Leben trat. Jedenfalls waren die Ebräer, die jene schöne Geschichte erdachten und glaubten,[984] Kriegsleute oder Fabrikarbeiter, aber gewiß keine Studenten; denn diese hätten 6 Feiertage und einen Werkeltag zum Vorschlag gebracht und würden in der Praxis auch jenen einen Tag den übrigen gleich gemacht haben. Wenigstens war dies meine Praxis: und ich fühle augenblicklich den Gegensatz zwischen meinem jetzigen Leben und meiner früheren wissenschaftlichen Müßiggängerei sehr stark. Könnte man nur einmal die Philologen von 10 Jahren zusammenholen und sie zur Dienstleistung in ihrer Wissenschaft so drillen, wie es beim Militär Mode ist: nach 10 Jahren wäre eine Philologie nicht mehr nötig, weil alle Hauptarbeit getan wäre, sie wäre aber auch nicht mehr möglich, weil kein Mensch freiwillig unter diese Fahne treten würde, eine Fahne, bei der der Begriff des »Einjährigen – Freiwilligen« ganz wegfällt.

So ein Sonnabend macht geschwätzig, wie Du merken wirst; da wir die übrige Woche zu viel zu schweigen haben und alle unsre Seelenfähigkeiten nach dem Kommandowort des Vorgesetzten zu regeln pflegen, so quillt an den unbewachten Momenten des Sonnabends das Wort aus der Lippe und die Zeile aus dem Tintenfaß, zumal wenn das Feuer im Ofen knistert und draußen der frühlingsschwangere Februarsturm braust. Sonnabend, Sturm und Zimmerwärme, das sind die besten Ingredienzen, aus denen der Punsch der »Briefstimmung« gebraut wird.

Mein lieber Freund, dies mein Leben ist jetzt wirklich sehr einsam und freundelos. Da ist nichts von Anregungen, das ich mir nicht selbst gäbe, nichts von jenem harmonischen Zusammenklang der Seelen, wie es manche gute Stunde in Leipzig mit sich brachte. Vielmehr Entfremdung der Seele von sich selbst. Übergewicht eines herrschenden Einflusses, der den Geist zu straffer Furcht zusammenrafft und ihn die Dinge mit einem Ernste zu betrachten lehrt, dessen sie nicht wert sind. Dies ist die Kehrseite meiner jetzigen Existenz, wie Du sie mir gewiß nachfühlen kannst. Drehen wir aber die Münze um. Dies Leben ist zwar unbequem, aber, als Zwischengericht genossen, unbedingt nützlich. Es ist ein fortwährender Appell an die Energie eines Menschen und mundet besonders als antidoton gegen die lähmende Skepsis, über deren Wirkung wir manches miteinander beobachtet haben. Dabei lernt man seine Natur kennen, wie sie sich unter fremden, meist rohen Menschen, ohne Beihilfe der Wissenschaft und ohne jene traditionelle [985] fama, die unsern Wert für unsre Freunde und für die Gesellschaft bestimmt, zu offenbaren pflegt. Ich habe bis jetzt bemerkt, daß man mir wohlwill, so Hauptmann wie Kanonier; andererseits tue ich, was mir obliegt, mit Eifer und eignem Interesse. Darf man darauf nicht stolz sein, wenn man als der beste Reiter unter 30 Rekruten gilt? Wahrhaftig, lieber Freund, das ist mehr als eine philologische Prämie: obwohl ich auch gegen derartige Lobsprüche nicht unempfänglich bin, wie sie mir die Leipziger Fakultät zuteil werden ließ. Darf ich Dir, ohne in den Ruf eines eiteln Narren zu kommen jenes enkômion, wie es im Programm S. 22 steht, abschreiben?

Philosophorum denique Ordini unus traditus libellus est et ex classe quidem prima: ›De fontibus Laertii Diogenis‹ hac inscriptione genoi hoios essi Pind. Pyth. II. v. 73. (Denkst Du noch an unser Nirwanaplätzchen im Rosental?) Eius libelli scriptor, quum res, quae ad eam quaestionem pertinerent et litteras quae huc facerent penitus cognovisset earumque momenta acri ingenio examinasset, rem, quam explanandam susceperat persecutus ita est, ut, quum summo acumine in singulis locis cognoscendis atque iudicandis uteretur summaque sagacitate in vero indagando, inveniendo, e tenebris eruendo versaretur ingenioque in colligendo plurimum valeret atque ea, quae explorate perceperat, dilucide exponeret, vix quidquam reliquerit in ea quaestione, quod aut addi aut demi posse videretur, summamque et ingenii et doctrinae laudem ab ordine amplissumo consecutus sit. e. q. s.

Nicht wahr, lieber Freund, tant de bruit pour une omelette? Aber so sind wir, wir machen uns lustig über solch ein Lob und wissen nur zu gut, was es auf sich resp. hinter sich hat, aber trotzdem verzieht sich das Gesicht zu einem wohlgefälligen Grinsen. Bei solchen Dingen ist unser alter Ritschl ein Kuppler, his laudibus splendidissimis sucht er uns im Netz der Dame Philologie festzuhalten. Ich habe erstaunliche Lust, in meinem nächsten in honorem Ritscheli geschriebenen Aufsatz (über Demokrits Schriftstellerei) den Philologen eine Anzahl bittrer Wahrheiten zu sagen. Bis jetzt habe ich für denselben die schönste Hoffnung: er hat einen philosophischen Hintergrund bekommen, was mir bis jetzt bei keiner meiner Arbeiten gelungen war. Außerdem bekommen alle meine Arbeiten ohne meine Absicht, aber gerade deshalb zu meinem Vergnügen eine ganz bestimmte Richtung; sie weisen alle wie Telegraphenstangen auf ein Ziel meiner Studien, das ich nächstens[986] auch fest ins Auge fassen werde. Es ist dies eine Geschichte der literarischen Studien im Altertum und in der Neuzeit. Es kommt mir zunächst wenig auf die Details an; jetzt zieht mich das Allgemein- Menschliche an, wie das Bedürfnis einer literar-historischen Forschung sich bildet und wie es unter den formenden Händen der Philosophen Gestalt bekommt. Daß wir alle aufklärenden Gedanken in der Literaturgeschichte von jenen wenigen großen Genien empfangen haben, die im Munde der Gebildeten leben und daß alle guten und fördernden Leistungen auf dem besagten Gebiete nichts als praktische Anwendungen jener typischen Ideen waren, daß mithin das Schöpferische in der literarischen Forschung von solchen stammt, die selbst derartige Studien nicht oder wenig trieben, daß dagegen die gerühmten Werke des Gebietes von solchen verfaßt wurden, die des schöpferischen Funkens bar waren – diese stark pessimistischen Anschauungen, in sich einen neuen Kultus des Genius bergend, beschäftigen mich anhaltend und machen mich geneigt, einmal die Geschichte daraufhin zu prüfen. An mir selbst stimmt die Probe; denn mir ist es so, als ob Du bei den niedergeschriebenen Zeilen den Duft von Schopenhauerscher Küche riechen müßtest.

Von diesen Luftschlössern ist der Abfall zur Wirklichkeit recht bitter. Denke lieber Freund, daß ich, der ich in den angedeuteten Aussichten gelegentlich schwelge, trotzdem nicht imstande bin, das Allernächste zu beendigen. Es ist mir rein unmöglich, den versprochnen Beitrag zum Ritschlbuche zur rechten Zeit zu liefern. So sehr die Materie mir im Kopfe und am Herzen liegt, so fern ist doch die Ausarbeitung: da fehlt es an hundert Dingen, an Zeit, Büchern, guten Freunden, Momenten der Sättigung und der Erhebung: und zu jedem dieser Mängel muß ich hinzufügen, daß jeder einzelne schon die Kraft hat, mich an einer Ausarbeitung zu hindern. Glückliche Menschen, sagt Ritschl von den Studenten, ihr habt 14 Stunden des Tages für euch und eure Studien! Elender Mensch, sage ich zu mir, Du hast nicht zwei Stunden des Tages; und selbst diese mußt Du dem Mavors opfern, der dir sonst das Leutnantpatent verweigert. Ach lieber Freund, was ist so ein reitender und fahrender Artilleriste für ein Unglückstier, wenn er literarische Triebe hat! Unser alter Kriegsgott hatte eben die jungen Weiber, nicht alte verschrumpelte Musen gern. Ein Kanonier,[987] der über Demokritische Probleme oft genug in der Kasernenstube nachdenkt, auf einem schmutzigen Schemel kauernd, indem ihm die Stiebeln gewichst werden, ist nun einmal ein paradoxon, auf das die Götter mit Hohn blicken.

Wenn Ihr also noch bis November dieses Jahres warten wollt, so macht Ihr mir eine große Freude. Wir sammeln im Frühjahr und Sommer die Aufsätze unsrer Freunde, besprechen und beurteilen sie, verhandeln mit dem Buchhändler, lassen lustig drucken – und dann kommt mein Aufsatz, zuletzt und spät zwar, aber doch zur rechten Zeit. Übrigens fand auch Clemm den bisherigen Termin als zu kurz gesteckt. Bitte, teile mir doch Deine Meinung über diesen Punkt mit!

Wenn ich Dir sage, daß ich täglich von morgens 7 Uhr bis abends um 5 im Dienst bin, außerdem noch bei einem Leutnant und bei einem Tierarzte Vorträge höre, so kannst Du ermessen, wie schlimm ich daran bin. Abends ist der Leib schlaff und müde und sucht zeitig sein Nest. Und so geht es ohne Rast und Ruh aus einem Tag in den andern. Wo bleibt da die für wissenschaftliche Ausarbeitung nötige Sammlung und Kontemplation!

Ach sogar für Dinge, die mir näher stehen als meine literarischen Bedürfnisse, die karites eines freundschaftlichen Briefwechsels und der Kunst, fällt so selten eine Stunde ab! Laß mich nur erst wieder im Vollgenuß meiner Zeit und Kräfte sein –

si male nunc, non olim sic erit.

Und im nächsten Jahre gehe ich nach Paris. Beinahe bin ich überzeugt, daß Du auf denselben Gedanken kommen wirst. Bekanntlich muß ja ein Biedermann lustig, guter Dinge sein, wenn anders Sankt Offenbach recht hat.

Dir, also, Poesie der Zukunft, und dir, Freundschaft der besten Vergangenheit, den letzten Federzug, den letzten Tintenklecks!

fulsere quondam candidi tibi soles!

F. Nietzsche in treuer Freundschaft[988]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 984-989.
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