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[1101] Naumburg, 2. Jan. 1875
Liebe hochverehrte Freundin, wenn ich so spät auf einen so ausgezeichneten und jedes Dankes würdigen Brief antworte, so liegt der Grund in meinem kuriosen Elend, zu dem jetzt mein Basler Beruf geworden ist. Ich habe gegenwärtig und für ein paar Semester so viel zu tun, daß ich ordentlich in Betäubung von einem Tag in den andern gelange; so will's die »Pflicht« und trotzdem ist mir oft dabei zumute, als ob ich mit dieser »Pflicht« meiner eigentlichen Pflicht nicht nachkäme; und mit der letzteren hängt gewiß der Verkehr mit den wenigen Menschen zusammen, welche – wie Sie – in allem, was sie tun und leben, mich an das, was not tut, erinnern.[1101]
Nun, ich lese griechische Literaturgeschichte und interpretiere die Rhetorik des Aristoteles und gebe Stunden über Stunden, die Gesundheit hält's aus, die Augen eingeschlossen, nach der äußerlichen Ansicht der Dinge geht es mir also gut. Dabei aber weiß ich gar nicht mehr, wann ich wieder dazu kommen soll, meinen unzeitgemäßen Zyklus fortzusetzen. Mein geheimes aber hoffnungsloses Dichten und Trachten geht auf ein Landgut. Ja, Weisheit mit einem Erbgut! wie Jesus Sirach sagt.
Jetzt habe ich zehn Tage Ferien hinter mir, ich verlebte sie mit Mutter und Schwester und fühle mich recht erholt; ich ließ währenddem alles Denken und Sinnen hinter mir und machte Musik. Viele tausend Notenköpfchen sind hingemalt worden, und mit einer Arbeit bin ich ganz fertig. Der Hymnus an die Freundschaft ist jetzt zweihändig und vierhändig anzustimmen; seine Form ist diese:
Vorspiel der Freunde zum Tempel der Freundschaft
Hymnus, erste Strophe
Zwischenspiel – wie in traurig-glücklicher Erinnerung
Hymnus, zweite Strophe
Zwischenspiel, wie eine Wahrsagung über die Zukunft.
Ein Blick in weiteste Ferne
Im Abziehen: Gesang der Freunde, dritte Strophe und Schluß
Ich bin sehr zufrieden damit. Wollte Gott, es wäre auch ein andrer Mensch, zumal meine Freunde! Die Dauer der ganzen Musik ist genau 15 Minuten. – Sie wissen was darin alles vorgehen kann, gerade die Musik ist ein deutliches Argument für die Idealität der Zeit. Möchte meine Musik ein Beweis dafür sein, daß man seine Zeit vergessen kann, und daß darin Idealität liegt!
Außerdem habe ich meine Jugend-Kompositionen revidiert und geordnet. Es bleibt mir ewig sonderbar, wie in der Musik die Unveränderlichkeit des Charakters sich offenbart; was ein Knabe in ihr ausspricht, ist so deutlich die Sprache des Grundwesens seiner ganzen Natur, daß auch der Mann daran nichts geändert wünscht – natürlich die Unvollkommenheit der Technik usw. abgerechnet.
Wenn nach Schopenhauer der Wille vom Vater, der Intellekt von der Mutter vererbt, so scheint es mir, daß die Musik als der Ausdruck des Willens auch Erbgut vom Vater her ist. Sehen Sie sich in Ihrer Erfahrung um: im Kreise der meinigen stimmt der Satz.[1102]
Heute nacht fahre ich nach Basel zurück, durch hohen Schnee und kräftige Kälte, seien Sie froh, verehrte Freundin, jetzt nicht in unserm Bärenhäuter-Klima zu sein. –
Gestern schrieben Frau Wagner und Gersdorff an mich. Wir hoffen alle in der Mitte dieses Jahres zu den Bayreuther Proben zusammenzukommen.
Ach könnten Sie doch dabei sein. Und möchte Ihnen dies Jahr erträglich und leicht werden! Und einiges Beglückende und Gute schenken!
Ich sah gestern als am ersten Tage des Jahres mit wirklichem Zittern in die Zukunft. Es ist schrecklich und gefährlich zu leben – ich beneide jeden, der auf eine rechtschaffne Weise tot wird.
Im übrigen bin ich entschlossen alt zu werden; denn sonst kann man es zu nichts bringen. Aber nicht aus Vergnügen am Leben will ich alt werden. Sie verstehen diese Entschlossenheit.
Mit den herzlichsten Wünschen allezeit der Ihrige Friedrich Nietzsche
Meine Schwester wird allernächstens schreiben.
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