4. Das Recht als Ergebnis von Pflichten

Im Recht sollte die Weltanschauung eines Volkes, seine Seele, rein und ungetrübt zum Ausdruck kommen. Recht ist die gewollte äußere Form des Daseins, so wie es in den Grenzen eines geschichtlich bewegten Ganzen, einer Nation, eines Staates verläuft. Aber diese äußere Form ist stets, wenn sie echt sein soll, das Ergebnis nicht nur der geschichtlichen Entwicklung, sondern vor allem der inneren Form dieses Daseins, also des Charakters einer Nation. Der Römer braucht ein anderes Recht als der Athener, der Deutsche ein anderes als der Engländer. Ein allgemein richtiges Recht gibt es nur in den Köpfen lebensfremder Gelehrten und Schwärmer.

Die Quelle jedes lebenden Rechts muß demnach das Leben selbst sein, und die Voraussetzung für den Gesetzgeber, es ungetrübt und ganz in Gebote und Verbote zu fassen, eine in großen Verhältnissen der gegenwärtigen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik durch eigene Tätigkeit erworbene Lebenserfahrung. Der römische Prätor studierte kein griechisches oder ägyptisches Recht. Er verstand sich als Beamter, Heerführer und Finanzmann auf alle Verhältnisse der ihn umgebenden römischen Welt. Darin liegt für uns das Vorbildliche nicht des römischen Rechtes selbst, sondern seiner Entstehung.1[239]

Es war ein Verhängnis für das deutsche Volk, daß die altgermanischen Rechte, welche sich seit der Völkerwanderung durch Sitte und Brauch lebendig fortentwickelt hatten, seit 1495 durch die römische Rechtswissenschaft ersetzt und vernichtet wurden. In England gilt heute noch das stetig fortgebildete Normannenrecht. Dem französischen Code civil, der unter dem Vorsitz Napoleons geschaffen wurde, liegt als Ersatz dafür nicht nur dessen gewaltige Menschenkenntnis und praktische Erfahrung auf allen Gebieten der Verwaltung und Finanzen zugrunde, sondern auch die seiner Mitarbeiter, die an den Menschen und Ereignissen der Revolution eine außergewöhnliche Schule durchgemacht hatten. Nur das heutige Deutschland besitzt ein Recht, dessen wirkliche Erfahrungsquelle nicht das Leben der Zeit und überhaupt nicht das Leben, sondern ein lateinisches Buch ist. Es besitzt eine Schulung von Richtern, die nicht auf einer frühzeitigen Praxis, sondern einer gelehrten Theorie, auf der Gewöhnung an ein immer feineres Zerspalten und Verknüpfen abstrakter Begriffe aufgebaut ist. Die formale Übung ersetzt Menschenkenntnis und Welterfahrung. »Die deutsche Rechtswissenschaft von heute stellt in sehr bedeutendem Maße ein Erbe der Scholastik des Mittelalters dar. Ein rechtstheoretisches Durchdenken der Grundwerte unseres wirklichen Lebens hat noch nicht angefangen. Wir kennen diese Werte noch gar nicht2 Das ist mit der Gründung des Deutschen Reiches nicht besser sondern schlimmer geworden. Sowohl das bürgerliche Gesetzbuch als das Strafgesetz sind ausschließlich von Rechtsgelehrten und Berufsrichtern geschaffen worden. In beiden Werken herrscht die römische Aufteilung des Rechtsstoffes in Rechtsbegriffe, und zwar unbedingt.

Es hat sich bitter gerächt, daß wir statt des römischen Prätors das römische Recht selbst als Vorbild empfingen. An die Stelle schöpferischer Gesetzentwicklung trat damit ein verbitternder Kampf des Lebens gegen das Buch und den Buchstaben, ein Kampf, der nur langsam und immer viel zu spät Zugeständnisse von Seiten der Gesetzgeber erzwang. Wenn[240] wir in Deutschland überall auf eine tiefe Abneigung gegen die »Behörde«, das »Gericht«, sogar den Staat wie gegen etwas Fremdes und Feindliches stoßen, so beruht das vor allem auch darauf, daß unser gesamtes gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben in der Tat zwangsweise nach Grundsätzen geordnet worden ist, die ihm innerlich ganz fremd sind, und daß es von einer durch dasselbe Recht rein formal und theoretisch erzogenen Beamtenschicht unter Aufsicht gehalten wird. Sogar der Haß gegen »das Kapital«, dem der Marxismus seinen Erfolg gerade in Deutschland verdankt, hat einen seiner Gründe auch darin, daß die gesamte wirtschaftliche Gesetzgebung dem – für uns – flachen und brutalen Begriff der römischen Sache statt dem des germanischen Eigentums unterstellt worden ist.

Jedes gewachsene Recht ist das Ergebnis von Pflichten. So war es immer und überall, und darauf beruht die tiefe sittliche Kraft echter Rechtsbegriffe, in deren geheimer Metaphysik der Lebenstakt einer Rasse schlägt. Was uns Deutschen fehlt – und dem Engländer nicht gefehlt hat – ist die lange schweigende Erziehung des Volkes durch sein eignes, aus seinem Blut geborenes, mit ihm gewachsenes und gereiftes Recht. Auch das römische Recht beruhte auf Pflichten, nämlich den strengen Pflichten des römischen Bürgers der Bürgerschaft gegenüber, die uns ganz anders angelegten Menschen als unerträgliche Sklaverei erscheinen würden. Das englisch- normannische Herrenrecht beruhte auf der Bereitschaft des Adels, Leben und Besitz jederzeit für den Herrscher zu opfern, diesen dann aber auch als den Ersten unter seinesgleichen zu behandeln. Hierher stammt der moderne Stolz des einzelnen Engländers, die Idee der englischen Freiheit, das »my home is my castle«. Überall sind es Pflichten, welche Rechte erzeugen. Dem heutigen deutschen Recht fehlt diese Idee, wie ihm alle Ideen fehlen. Es enthält an Stelle groß empfundener Pflichten – ein Strafgesetz.

Das römische Recht hat uns verdorben. Es kam in gefährlicher Weise den Neigungen des deutschen Michel entgegen, zu träumen, zu schlendern, sich alles Tatsächliche gefallen zu[241] lassen. Die jammervolle Vergangenheit, das Bündel von Zwergstaaten und Winkelvaterländern, in denen es keine Aufgaben gab außer solchen, die der Mühe nicht lohnten, kaum eine Haltung außer der von Bedienten – diese ganze zerfallene Welt verstaubter Gotik hat unseren Stolz gebrochen. Denn der Stolz einer Nation beruht auf ihrem Recht.

Auf diesem Boden erwuchs das seelenlose römische Recht deutscher Nation. Man vergesse nicht, daß der Teil des Corpus Juris, um den es sich handelt, das Pandektenrecht, aus der Amtstätigkeit des Praetor peregrinus hervorgegangen ist, nicht aus der des viel angeseheneren Praetor urbanus. Dieser hatte es mit seinesgleichen zu tun, römischen Bürgern, jener mit Fremden, also bloßen Objekten der römischen Macht. In der Kaiserzeit waren alle Völker Objekte dieser Macht, und dieses »Völkerrecht« (jus gentium) wurde seit 200 n. Chr. im Orient von gelehrten Juristen kommentiert, die Masse dieser Kommentare nach orientalischen Gesichtspunkten gesammelt, ausgezogen und umgedeutet. So entstand das Pandektenrecht für Byzanz, also für einen orientalischen Herrscher, der nur Ergebung kannte – Islam heißt Ergebung –, aber kein Recht der Persönlichkeit und keinen freien Willen. Rom selbst war damals im Besitz von Germanen.3

Aber dem germanischen Leben liegt die Idee der Freiheit zugrunde. Es will frei sein von allen Schranken, welche seiner inneren Gestalt und deren Wirkung nach außen widerstehen. Der Germane fühlt sich frei der ganzen Welt gegenüber, als Persönlichkeit, als Mann, jeder für sich, so wie er auch als gläubiger Christ, betend oder büßend, allein vor seinem Gotte steht.4 Dieses nordische Lebensgefühl hat die Völkerwanderung mit den Sachsen, Goten, Franken und Normannen über ganz Westeuropa gebreitet, und aus ihnen ist mit der Ritterzeit und den Kreuzzügen der Typus aller heutigen Völker des Abendlandes entstanden. Es entstand nicht nur das Grundproblem gotischen Nachdenkens, das der Willensfreiheit, sondern auch die dichte Reihe von Gestalten, die[242] es durch ihre Erscheinung gelöst hatten, von den Wikingern und Staufenkaisern über die Führer der Renaissance bis zu den Trappern Amerikas und den Erfindern und Organisatoren unserer Tage. Und wenn der Germane als Ordensritter in Demut diente wie im deutschen Osten und im Kampf gegen die spanischen Mauren, so opferte er in freiem Entschluß sein Recht einer höheren Sache. Diese Pflicht in innerer Freiheit auf sich nehmen ist sein höchstes Recht. Auf ihm beruhen die stolzen Ideale der gotischen Gefolgstreue, der Offizierspflicht und des altpreußischen Staatsdienstes. Dem Pandektenrecht ist diese seelenhafte Freiheit fremd und unbekannt. Es kennt nur die Obligation, den Anspruch auf die Leistung eines andern.

Aus der Freiheit folgen nun aber die germanischen Ideen der Familie und des Staates, zwei Kreise des Zusammenhangs von Rechten und Pflichten, die nur zusammen, als lebendiges Ganzes denkbar sind. Man mag sie privates und öffentliches Recht nennen: ihr Zusammenhang besteht darin, daß die Familie die Fortdauer dieses Lebens in Geschlechterfolgen sichert, der Staat es aber politisch schützt und wirtschaftlich erhält.

Daraus ergeben sich die notwendigen und natürlichen Grundzüge eines deutschen Rechtes. Da die Geschichte es nicht für uns geschaffen hat, so muß es heute die geschichtliche Erkenntnis schaffen. Im folgenden wird der Versuch gewagt, diese Grundzüge in wenigen Worten anzudeuten.

Danach ordnet das Gesetz die Verhältnisse des tatsächlichen Lebens. Träger dieser Ordnung ist für uns der freie menschliche Wille – nicht philosophisch als frei bewiesen, sondern rechtlich als frei behandelt – der sich auf Handlungen, Lagen, Schöpfungen oder einen fremden Willen richten kann. In bezug auf ihn gibt es nicht körperliche Personen und körperliche Sachen im Sinne des römischen Rechts, sondern Ausgangspunkte und Ziele – Subjekte und Objekte – seines Wirkens. Ausgangspunkt, Subjekt eines freien Willensaktes sind der Einzelne, die Familie, der Stand, der anerkannte Verband, zuletzt die Nation, welche durch die[243] Vertreter ihrer Hoheitsrechte handelt und beschließt. Objekte – Mittel oder Ziele von Handlungen und Eigenschaften der Lagen oder Dinge – sind die Ehre, die Freiheit und Sicherheit, das Eigentum. Eigentum ist keine Sache, sondern für uns eine Eigenschaft in bezug auf einen Willen, die ebenso an Gedanken und Verhältnissen haften kann wie an Körpern. Der Begriff des geistigen Eigentums war den Römern völlig fremd.

Jedes Recht entspricht einer Pflicht. Eine Pflicht – gegen den Einzelnen, die Familie, den Verband, die Nation – ist ein Recht, insofern man es nicht empfängt, sondern gibt. Das Tun des Rechten gibt Anspruch auf die Pflichterfüllung des andern. Das Tun des Unrechts hebt diesen Anspruch auf.

Das Wesen der Strafe beruht also darauf, daß jeder Pflichtverletzung eine Verkürzung der Rechte folgt, und zwar an Ehre, Freiheit und Eigentum.

Deshalb sollten bürgerliches und Strafrecht gleichartig gebaut sein. Sie verhalten sich wie Recht und Unrecht, wie Setzung und Sicherung derselben Verhältnisse. In den Gesetzwerken Deutschlands stehen sie sich weltenfern. Das eine Buch ist den Institutionen und Pandekten nachgeahmt bis zu der heute ganz unmöglichen Verteilung der Schuldverhältnisse auf Sachen- und Obligationenrecht, das andere, für das es ein lateinisches Vorbild nicht gab, mühselig und ohne die Idee einer tieferen Ordnung zusammengetragen, wie ein Blick auf die Kapitelfolge lehrt. Dem entsprechend kommt im gerichtlichen Verfahren immer wieder eine zwiespältige Praxis zum Vorschein, je nachdem die Richter als Romanisten oder Kriminalisten zu denken gewöhnt sind.

Das englische Recht ist vom Zusammenhang zwischen rights und wrongs tief durchdrungen und ebenso von ihrer Aufteilung in privates oder öffentliches Recht und Unrecht. Ein künftiges deutsches Recht sollte aus demselben germanischen Grundgefühl feststellen, wann der Einzelwille dem allgemeinen wider spricht, wann also das private vom öffentlichen Interesse abgelöst wird, und weiterhin, wann die Strafe, wie gesagt als[244] Verkürzung von Rechten infolge der Verletzung von Pflichten, vom allgemeinen statt vom Einzelwillen verhängt werden soll. In England, das statt des Staates nur die Gesellschaft (society) kennt,5 wird auch das öffentliche Unrecht wie der Mord wenigstens der Form nach im Privatverfahren durch den verfolgt, der es entdeckt. Einen Staatsanwalt gibt es nicht. In Deutschland aber beruht der Gesamtwille der Nation im Staate, und eine tiefere Auffassung dieser Tatsache sollte fordern, was dem römischen Denken ganz fern liegt, daß jeder Einzelne zur Anzeige von Verbrechen nicht nur gegen Einzelne, sondern auch gegen die Nation verpflichtet wird, ohne Rücksicht auf sein persönliches Verhältnis zum Täter, und daß die Verletzung dieser Pflicht schon durch bloßes Schweigen, nicht nur durch Hehlerei, eine strenge Verkürzung an eigner Ehre, Freiheit und Eigentum zur Folge hat. Die allgemeine Anzeigepflicht, wozu auch die Haftung des Verkäufers für die rechtmäßige Herkunft der verkauften Ware gehört, würde die Zahl der Verbrechen unendlich vermindern. Jeder Täter und unrechtmäßige Besitzer fallen irgend jemand auf. Das geltende Recht läßt die Anzeige zu und belohnt sie zuweilen, aber es behandelt sie nicht als sittliche Pflicht. Es haftet ihr infolgedessen in weiten Kreisen ein Makel, etwas wie Denunziantentum an, während es möglich gewesen wäre, das Rechtsbewußtsein des Einzelnen dahin zu entwickeln, daß er mit der Kenntnis einer strafbaren Handlung einen Teil der Staatshoheit auf sich übertragen fühlt und unter dem Eindruck der damit verbundenen Verantwortung handelt. Hier zeigt sich, daß das im Orient umgewandelte »römische« Recht den Einzelnen nur als Objekt der Rechtsschöpfung und Rechtsprechung kennt, nicht als Mitwirkenden und Mitträger der öffentlichen Ordnung, so wie es ihn in verhängnisvoller Weise dazu erzogen hat sich lediglich als Objekt und nicht als Glied des Staates zu betrachten.

Und noch in anderer Weise enthüllt sich der Sklavengeist dieses für germanisches Weltempfinden seelenlosen Rechts. Es verneint den Anspruch des freien Mannes, sich, seine Ehre,[245] Sicherheit und Habe und die seines Volkes und Vaterlandes selbst zu schützen, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln. Es verbirgt die Nichtanerkennung des persönlichen Stolzes, auch des Nationalstolzes, des Ehrgefühls, der Selbstachtung und inneren Selbständigkeit des Einzelnen hinter dem kläglichen Begriff der Notwehr. »Eine durch Notwehr gebotene Handlung ist nicht widerrechtlich«, heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch, aber es klingt ein Unterton durch, wonach selbst diese unerwünscht und stets der Überschreitung verdächtig ist. Vor diesem Standpunkt wird die verbrecherische Handlung formal jeder anderen gleichgesetzt. Der Täter und das sich wehrende Opfer sind gleichmäßig bloße Objekte der Rechtsprechung.

Aber es sollte umgekehrt zum Grundsatz erhoben werden: Der Verbrecher ist beim Begehen der Tat und auf der Flucht rechtlos. Ein Unrecht kann gegen den, der gerade Unrecht tut, nicht begangen werden. Erst mit der Verhaftung übernimmt der Staat die weitere Ausübung des öffentlichen Rechts: das ist die stillschweigende Grundlage der germanischen Auffassung, die in England und Amerika, wo das Normannenrecht die praktische Sitte geformt hat, so selbstverständlich ist, daß sie gar nicht besonders ausgesprochen zu werden braucht. Und ebenso sollte bei uns der freie Mann im Namen des Staates handeln dürfen und unter Umständen müssen, wenn dieser augenblicklich dazu nicht in der Lage ist. Wer eine Person, die er unzweifelhaft in Vorbereitung oder Ausführung eines Verbrechens oder nach dessen Vollendung auf der Flucht betrifft – etwa im Falle von Einbruch, Raub, Mord, Ehebruch, Notzucht, Brandstiftung –, tötet oder verletzt, wird nicht bestraft. Wer gewaltsam in fremdes Eigentum eindringt, um etwas zu zerstören oder zu entwenden, ist vogelfrei. Wer von einem Dritten in Fällen dringender Gefahr für Leben und Besitz um Hilfe angerufen wird, kann von jedem Mittel Gebrauch machen, das ihm geeignet erscheint. Und dasselbe sollte von Anschlägen gegen die Sicherheit der Nation gelten: Wer von einem Verbrechen oder Versuch des Landesverrats durch Spionage oder Verbindung mit dem Feinde[246] Kenntnis erhält, sollte nicht nur zur Anzeige und persönlichen Anklage verpflichtet, sondern auch zu persönlichem Einschreiten in jeder Form berechtigt sein. Der Verbrecher würde wissen, unter welchen Bedingungen er handelt, und – volenti non fit injuria.

An der Spitze des Rechts für ein seiner Würde bewußtes Volk sollte die Ehre stehen. Sie ist das Teuerste, was ein Einzelner, Mann oder Weib, eine Familie, ein Stand, eine Nation zu verlieren und zu verteidigen hat. Wer das nicht fühlt, ist schon ehrlos. Wer eine Verletzung der Ehre, der persönlichen oder derjenigen seines Standes und Volkes duldet, hat keine zu verlieren. Ein Rechtsbuch, das den persönlichen Schutz der Ehre nicht gestattet, erblickt den Sinn des Lebens in materiellen Zuständen und entbehrt damit der inneren Würde.

Aber es gibt neben der persönlichen noch eine geschäftliche Ehre. Ein ehrenhafter Grundzug ist dem kaufmännischen Leben eines ganzen Volkes unentbehrlicher noch als dem einzelnen Kaufmannshause, wo von jeher die unehrenhafte Geschäftsführung den Abbruch persönlicher Beziehungen zur Folge hatte. Die Heraufkunft der nicht an den Ort gebundenen Finanzvermögen, die nicht in produktiven Unternehmungen bestehen, sondern in ihnen nur wechselnd angelegt werden,6 und die in den letzten Jahren erfolgte Umschichtung des Besitzes infolge von Krieg, Revolution und Inflation haben eine furchtbare Verwilderung des Wirtschaftslebens und die rücksichtslose Jagd nach Gewinn ohne alle Tradition, ohne Ehrgefühl, selbst ohne Furcht vor Gefängnis zur Folge gehabt. Gerade deshalb sollten ehrlose Handlungen wie Betrug, Wucher, Erpressung, Bestechung, Fälschung von Urkunden und Sachen außer den härtesten Geld- und Freiheitsstrafen den Ausschluß von allem zur Folge haben, was Vertrauen erfordert: von der Börse, vom Sitz in Aufsichtsräten und Direktorien, ferner die Nichtanerkennung der Unterschrift, die Unfähigkeit, Wechsel und Schecks auszustellen, und unter Umständen die Erklärung der Unfähigkeit, überhaupt[247] Handelsgeschäfte zu betreiben, mit dauernder Stellung unter Polizeiaufsicht.

Freiheit und Sicherheit können privater Natur sein: Recht und Unrecht in bezug auf die Person und die Familie, oder öffentlicher Natur: Schutz und Gefährdung des Lebens innerhalb des Staates und der Wirtschaft. Zum ersten gehört die Heiligkeit des Hauses als desjenigen Teils vom Wohnraum der Nation, in welchem der Einzelwille völlig frei ist und vor jedem Eingriff geschützt sein soll. Nur der Verbrecher verliert dieses Grundrecht nordischer, in geschützten Räumen lebender Völker. Es gehört ferner dahin der Schutz des Lebens vor Freiheitsberaubung, Mord, Körperverletzung und Sittlichkeitsvergehen. Zum zweiten gehört das Eherecht, in welchem sich die germanische Idee der Familie spiegelt, also auch die Rechte der Kinder und andrerseits die Verletzung dieser Idee im Ehebruch. Zur Freiheit und Sicherheit des Staates gehören Preßgesetz, Zensur und der Schutz vor Verrat; zur wirtschaftlichen Freiheit und Sicherheit vor allem das Recht auf den eigenen auf Arbeit gerichteten Willen, also sowohl das Recht auf Arbeitsverweigerung, wenn dadurch kein Vertrag gebrochen wird, als auch das Recht, daran nicht teilzunehmen, und zwar auch für Führer der Wirtschaft, wo die Weigerung Stillegung der Betriebe heißt. Das geltende römische – materialistische – Recht kennt eigentlich nur »Arbeit« als das Geleistete, ein gleichsam stoffliches Quantum, eine bloße Sache. Es kommt aber auf das Arbeiten an, als die Betätigung eines Willens und als Quelle von Leistungen. Ein künftiges Arbeitsrecht und ebenso ein Handelsgesetz müßten klar auf der Tatsache des freien Willens und nicht auf der des Vorhandenseins von dessen materiellem Ergebnis aufgebaut sein. Jenes ist der germanische, dieses der römische Standpunkt.

An der Spitze des Rechts auf Eigentum sollte das Erbrecht stehen. Der germanische Begriff des Eigentums ist von der germanischen Idee der Familie7[248] als einer Geschlechterfolge nicht zu trennen, und wenn man Eigentum als das bezeichnet, was ausschließlich dem eigenen Willen untersteht – nicht nur »Sachen« wie im römischen Recht und unserem Bürgerlichen Gesetzbuch, sondern auch alle Ziele, Mittel und Ergebnisse von Willenshandlungen, geschäftliche, technische, künstlerische, organisatorische Ideen und Fähigkeiten – so ist der zuerst zu schützende Wille derjenige, welcher Eigentum mit der Geschlechterfolge durch das Erbrecht verknüpft. Ohne dieses sinkt der Besitz zur Leihe herab. Zum Diebstahl im weitesten Sinne als dem Unrecht in bezug auf das Eigentum sollten nicht nur Betrug und Wucher gezählt werden, sondern auch der Mißbrauch fremder Begabungen zu eigenen Zwecken und die Aneignung von Erfindungen, Gedanken, Motiven und Absichten.8

Was endlich die Strafen betrifft – ich wiederhole: die Verkürzung von Rechten infolge der Verletzung von Pflichten – so müssen sie als solche dem heutigen Empfinden gegenüber wirkliche Strafen sein. Die Verkürzung des Eigentums durch Geldstrafen darf, wenn sie gerecht sein soll, nicht in festen Zahlen angegeben werden, sondern in Prozenten von Einkommen oder Besitz; sie muß also vom Richter verhängt, aber von der Steuerbehörde vollzogen werden. Freiheitsstrafen müssen aus demselben Grunde nicht nur etwas Demütigendes, sondern auch Abschreckendes haben. Die bloße Einschließung bei einer Verpflegung, welches über die Lebenshaltung des Mittelstandes vielfach hinausgeht, wird in manchen Kreisen gar nicht mehr als Strafe empfunden. Lange und harte Arbeit, Vereinfachung der Kost und Einzelhaft müßten regelmäßige Zusatzstrafen sein. Zu den Ehrenstrafen gehört der öffentliche Anschlag des Namens mit Angabe der Wohnung und Ursache der Strafe: das ist vor allem auch auf Fälle des Verstoßes gegen die kaufmännische Ehre anzuwenden.

1

Unt. d. Abdl. II, S. 69 ff.

2

Sohm, Institutionen S. 170. Unt. d. Abdl. II, S. 88 ff.

3

Unt. d. Abdl. II, S. 81 ff.

4

Unt. d. Abdl. II, S. 357 ff.

5

S. 36 ff.

6

S. 138 ff.

7

Die römische Idee der Familie umfaßt nicht eine Folge, sondern die Gruppe der Lebenden mit dem pater familias als Mittelpunkt. Infolgedessen besteht das römische Erben darin, daß der Rechtsnachfolger die Rolle (»persona«) des Erblassers hinsichtlich der an dem unteilbaren Gesamterbe haftenden Rechte und Pflichten übernimmt (Sohm, Institutionen, S. 108).

8

Unt. d. Abdl. II, S. 91 ff.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 239-249.
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