§ 2. Die Besessenen

[47] Hast du schon einen Geist gesehen? »Nein, ich nicht, aber meine Großmutter.« Siehst du, so geht mir's auch: ich selbst habe keinen gesehen, aber meiner Großmutter liefen sie aller Wege zwischen die Beine, und aus Vertrauen zur Ehrlichkeit unserer Großmutter glauben wir an die Existenz von Geistern.

Aber hatten wir denn keine Großväter, und zuckten die nicht jederzeit die Achseln, so oft die Großmutter von ihren Gespenstern erzählte? Ja, es waren das ungläubige Männer und die unserer guten Religion viel geschadet haben, diese Aufklärer! Wir werden das empfinden! Was läge denn dem warmen Gespensterglauben zugrunde, wenn nicht der Glaube[47] an das »Dasein geistiger Wesen überhaupt«, und wird nicht dieser letztere selbst in ein unseliges Wanken gebracht, wenn man gestattet, daß freche Verstandesmenschen an jenem rütteln dürfen? Welch einen Stoß der Gottesglaube selbst durch die Ablegung des Geister- oder Gespensterglaubens erlitt, das fühlten die Romantiker sehr wohl, und suchten den unheilvollen Folgen nicht bloß durch ihre wiedererweckte Märchenwelt abzuhelfen, sondern zuletzt besonders durch das »Hereinragen einer höheren Welt«, durch ihre Somnambulen, Seherinnen von Prevorst usw. Die guten Gläubigen und Kirchenväter ahnten nicht, daß mit dem Gespensterglauben der Religion ihr Boden entzogen werde, und daß sie seitdem in der Luft schwebe. Wer an kein Gespenst mehr glaubt, der braucht nur in seinem Unglauben konsequent fortzuwandeln, um einzusehen, daß überhaupt hinter den Dingen kein apartes Wesen stecke, kein Gespenst oder – was naiverweise auch dem Worte nach für gleichbedeutend gilt – kein »Geist«.

»Es existieren Geister!« Blick umher in der Welt und sage selbst, ob nicht aus allem dich ein Geist anschaut. Aus der Blume, der kleinen, lieblichen, spricht der Geist des Schöpfers zu dir, der sie so wunderbar geformt hat; die Sterne verkünden den Geist, der sie geordnet, von den Berggipfeln weht ein Geist der Erhabenheit herunter, aus den Wassern rauscht ein Geist der Sehnsucht herauf, und – aus dem Menschen reden Millionen Geister. Mögen die Berge einsinken, die Blumen verblühen, die Sternenwelt zusammenstürzen, die Menschen sterben – was liegt am Untergang dieser sichtbaren Körper? Der Geist, der »unsichtbare«, bleibt ewig!

Ja, es spukt in der ganzen Welt! Nur in ihr? Nein, sie selber spukt, sie ist unheimlich durch und durch, sie ist der wandelnde Scheinleib eines Geistes, sie ist ein Spuk. Was wäre ein Gespenst denn anders als ein scheinbarer Leib, aber wirklicher Geist? Nun, die Welt ist »eitel«, ist »nichtig«, ist nur blendender »Schein«; ihre Wahrheit ist allein der Geist; sie ist der Scheinleib eines Geistes.

Schau hin in die Nähe oder in die Ferne, dich umgibt überall eine gespenstische Welt: du hast immer »Erscheinungen« oder Visionen. Alles, was dir erscheint, ist nur der Schein eines inwohnenden Geistes, ist eine gespenstische »Erscheinung«, die Welt dir nur eine »Erscheinungswelt«, hinter welcher der Geist sein Wesen treibt. Du »siehst Geister«.[48]

Gedenkst du dich etwa mit den Alten zu vergleichen, die überall Götter sahen? Götter, mein lieber Neuer, sind keine Geister; Götter setzen die Welt nicht zu einem Schein herab und vergeistigen sie nicht.

Dir aber ist die ganze Welt vergeistigt und ein rätselhaftes Gespenst geworden; darum wundere dich nicht, wenn du ebenso in dir nichts als einen Spuk findest. Spukt nicht dein Geist in deinem Leibe, und ist nicht jener allein das Wahre und Wirkliche, dieser nur das »Vergängliche, Nichtige« oder ein »Schein«? Sind wir nicht alle Gespenster, unheimliche Wesen, die auf »Erlösung« harren, nämlich »Geister«?

Seit der Geist in der Welt erschienen, seit »das Wort Fleisch geworden« ist, seitdem ist die Welt vergeistigt, verzaubert, ein Spuk.

Du hast Geist, denn du hast Gedanken. Was sind deine Gedanken? – Geistige Wesen. – Also keine Dinge? – Nein, aber der Geist der Dinge, die Hauptsache an allen Dingen, ihr Innerstes, ihre – Idee. – Was du denkst, ist mithin nicht bloß dein Gedanke? – Im Gegenteil, es ist das Wirklichste, das eigentlich Wahre an der Welt: es ist die Wahrheit selber; wenn ich nur wahrhaft denke, so denke ich die Wahrheit. Ich kann mich zwar über die Wahrheit täuschen und sie verkennen; wenn ich aber wahrhaft erkenne, so ist der Gegenstand meiner Erkenntnis die Wahrheit. – So trachtest du wohl allezeit die Wahrheit zu erkennen? – Die Wahrheit ist mir heilig. Es kann wohl kommen, daß ich eine Wahrheit unvollkommen finde und durch eine bessere ersetze, aber die Wahrheit kann ich nicht abschaffen. An die Wahrheit glaube ich, darum forsche ich in ihr; über sie geht's nicht hinaus, sie ist ewig.

Heilig, ewig ist die Wahrheit, sie ist das Heilige, das Ewige. Du aber, der du von diesem Heiligen dich erfüllen und leiten lässest, wirst selbst geheiligt. Auch ist das Heilige nicht für deine Sinne, und niemals entdeckst du als ein Sinnlicher seine Spur, sondern für deinen Glauben oder bestimmter noch für deinen Geist: denn es ist ja selbst ein Geistiges, ein Geist, ist Geist für den Geist.

Das Heilige läßt sich keineswegs so leicht beseitigen, als gegenwärtig manche behaupten, die dies »ungehörige« Wort nicht mehr in den Mund nehmen. Werde ich auch nur in einer Beziehung noch »Egoist« gescholten, so bleibt der Gedanke an ein anderes übrig, dem ich mehr dienen sollte[49] als mir, und das mir wichtiger sein müßte als alles, kurz ein Etwas, worin ich mein wahres Heil zu suchen hätte, ein – »Heiliges«. Mag dies Heilige auch noch so menschlich aussehen, mag es das Menschliche selber sein, das nimmt ihm die Heiligkeit nicht ab, sondern macht es höchstens aus einem überirdischen zu einem irdischen Heiligen, aus einem Göttlichen zu einem Menschlichen.

Heiliges existiert nur für den Egoisten, der sich selbst nicht anerkennt, den unfreiwilligen Egoisten, für ihn, der immer auf das Seine aus ist, und doch sich nicht für das höchste Wesen hält, der nur sich dient und zugleich stets einem höheren Wesen zu dienen meint, der nichts Höheres kennt als sich und gleichwohl für Höheres schwärmt, kurz für den Egoisten, der kein Egoist sein möchte, und sich erniedrigt, d.h. seinen Egoismus bekämpft, zugleich aber sich selbst nur deshalb erniedrigt, »um erhöht zu werden«, also um seinen Egoismus zu befriedigen. Weil er ablassen möchte, Egoist zu sein, sucht er in Himmel und Erde umher nach höheren Wesen, denen er diene und sich opfere; aber so viel er sich auch schüttelt und kasteit, zuletzt tut er doch alles um seinetwillen und der verrufene Egoismus weicht nicht von ihm. Ich nenne ihn deswegen den unfreiwilligen Egoisten.

Sein Mühen und Sorgen, von sich loszukommen, ist nichts als der mißverstandene Trieb nach Selbstauflösung. Bist du an deine vergangene Stunde gebunden, mußt du heute plappern, weil du gestern geplappert hast8, kannst du nicht jeden Augenblick dich umwandeln: so fühlst du dich in Sklavenfesseln und erstarrst. Darum winkt dir über jede Minute deines Daseins hinaus eine frische Minute der Zukunft, und, dich entwickelnd, kommst du »von dir«, d.h. dem jeweiligen Du, los. Wie du in jedem Augenblicke bist, so bist du dein Geschöpf, und eben an dieses »Geschöpf« magst du dich, den Schöpfer, nicht verlieren. Du bist selbst ein höheres Wesen, als du bist, und übertriffst dich selbst. Allein, daß du der bist, der höher ist als du, d.h. daß du nicht bloß Geschöpf, sondern gleicherweise dein Schöpfer bist, das eben verkennst du als unfreiwilliger Egoist, und darum ist das »höhere Wesen« dir ein – Fremdes. Jedes höhere Wesen, wie Wahrheit, Menschheit usw., ist ein Wesen über uns.

Fremdheit ist ein Kennzeichen des »Heiligen«. In allem[50] Heiligen liegt etwas »Unheimliches«, d.h. Fremdes, worin wir nicht ganz heimisch und zu Hause sind. Was mir heilig ist, das ist mir nichteigen, und wäre mir z.B. das Eigentum anderer nicht heilig, so sähe ich's für das meine an, das ich bei guter Gelegenheit mir zulegte, oder gilt mir umgekehrt das Gesicht des chinesischen Kaisers für heilig, so bleibt es meinem Auge fremd, und ich schließe dasselbe bei seinem Erscheinen.

Warum ist eine unumstößliche mathematische Wahrheit, die nach dem gewöhnlichen Wortverstande sogar eine ewige genannt werden könnte, keine – heilige? Weil sie keine geoffenbarte, oder nicht die Offenbarung eines höheren Wesens ist. Wenn man unter geoffenbarten nur die sogenannten religiösen Wahrheiten versteht, so geht man sehr irre, und verkennt gänzlich die Weite des Begriffes »höheres Wesen«. Mit dem höheren Wesen, welches auch unter dem Namen des »höchsten« oder être suprême verehrt wurde, treiben die Atheisten ihren Spott und treten einen »Beweis von seinem Dasein« nach dem andern in den Staub, ohne zu merken, daß sie selber aus Bedürfnis eines höheren Wesens das alte nur vernichten, um für ein neues Platz zu gewinnen. Ist etwa nicht »der Mensch« ein höheres Wesen als ein einzelner Mensch, und werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die sich aus seinem Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieses Begriffes verehrt und – heilig gehalten werden müssen? Denn sollte man auch manche Wahrheit, welche durch diesen Begriff manifestiert zu sein schien, wieder abschaffen, so zeugte dies doch allein für ein Mißverständnis von unserer Seite, ohne im geringsten dem heiligen Begriffe selbst Eintrag zu tun oder denjenigen Wahrheiten, welche »mit recht« als Offenbarungen desselben angesehen werden müssen, ihre Heiligkeit zu nehmen. Der Mensch greift über jeden einzelnen Menschen hinaus und ist, obgleich »sein Wesen«, in der Tat doch nicht sein Wesen, welches vielmehr so einzig wäre als er, der Einzelne, selber, sondern ein allgemeines und »höheres«, ja für die Atheisten »das höchste Wesen«. Und wie die göttlichen Offenbarungen nicht von Gott eigenhändig niedergeschrieben, sondern durch die »Rüstzeuge des Herrn« veröffentlicht wurden, so schreibt auch das neue höchste Wesen seine Offenbarungen nicht selbst auf, sondern läßt sie durch »wahre Menschen« zu unserer Kunde gelangen. Nur verrät das neue Wesen eine in der Tat geistigere Auffassung als der alte Gott, weil dieser noch in einer Art von Beleibtheit oder Gestalt vorgestellt[51] wurde, dem neuen hingegen die ungetrübte Geistigkeit erhalten und ein besonderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt ihm auch die Leiblichkeit nicht, die sich sogar noch verführerischer anläßt, weil sie natürlicher und weltlicher aussieht und in nichts geringerem besteht, als in jedem leibhaftigen Menschen oder auch schlechtweg in der »Menschheit« oder »allen Menschen«. Die Spukhaftigkeit des Geistes in einem Scheinleibe ist dadurch wieder einmal recht kompakt und populär geworden.

Heilig also ist das höchste Wesen und alles, worin dies höchste Wesen sich offenbart oder offenbaren wird; geheiligt aber diejenigen, welche dies höchste Wesen samt dem Seinen, d.h. samt den Offenbarungen desselben anerkennen. Das Heilige heiligt hinwiederum seinen Verehrer, der durch den Kultus zu einem Heiligen wird, wie denn gleichfalls, was er tut, heilig ist: ein heiliger Wandel, ein heiliges Denken und Tun, Dichten und Trachten usw.

Was als das höchste Wesen verehrt wird, darüber kann begreiflicherweise nur so lange der Streit bedeutungsvoll sein, als selbst die erbittertsten Gegner einander den Hauptsatz einräumen, daß es ein höchstes Wesen gebe, dem Kultus oder Dienst gebühre. Lächelte einer mitleidig über den ganzen Kampf um ein höchstes Wesen, wie etwa ein Christ bei dem Wortgefecht eines Schiiten mit einem Sunniten oder eines Brahminen mit einem Buddhisten, so gälte ihm die Hypothese von einem höchsten Wesen für nichtig und der Streit auf dieser Basis für ein eitles Spiel. Ob dann der einige oder dreieinige Gott, ob der Luthersche Gott oder das être suprême oder Gott gar nicht, sondern »der Mensch« das höchste Wesen vorstellen mag, das macht für den durchaus keinen Unterschied, der das höchste Wesen selbst negiert, denn in seinen Augen sind jene Diener eines höchsten Wesens ingesamt – fromme Leute: der wütendste Atheist nicht weniger als der gläubigste Christ.

Obenan steht also im Heiligen das höchste Wesen und der Glaube an dies Wesen, unser »heiliger Glaube«.

8

Wie sie klingeln, die Pfaffen, wie angelegen sie's machen,

Daß man komme, nur ja plappre, wie gestern, so heut.

Scheltet mir nicht die Pfaffen! Sie kennen des Menschen Bedürfnis:

Denn wie ist er beglückt, plappert er morgen, wie heut.

Quelle:
Max Stirner (Joh. Kaspar Schmidt): Der Einzige und sein Eigentum. Berlin 1924, S. 47-52.
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