§ 35. Das Benehmen der jüngsten Gattin.

[308] Wie soll nun die jüngste Gattin handeln? – So wird nun »das Benehmen der jüngsten Gattin« besprochen:


Die jüngste Gattin aber betrachte die Nebenfrau wie eine Mutter.


»Wie eine Mutter«, als wäre es ihre Mutter; die älteste Gattin.


Ohne ihr Wissen gebe sie keine Geschenke, selbst nicht an ihre Angehörigen.


Das ist das Mittel, vollständige Hingabe zu erzielen.


Ihre Angelegenheiten vollbringe sie ganz auf sie gestützt.


»Ihre Angelegenheiten«, ihre Geschäfte, die ihr selber verboten sind, »vollbringe sie ganz auf sie gestützt«.


Mit Erlaubnis schlafe sie bei dem Gatten.


»Mit Erlaubnis« der ältesten Gattin »schlafe sie bei dem Gatten« indem das Beilager so auf rechtliche Weise erlangt wird.


Ihre Reden hinterbringe sie keiner anderen.


»Ihre Reden«, die Reden der ältesten Gattin, gute oder böse, erzähle sie vor keiner anderen, um Streit zu vermeiden.


Ihre Kinder beachte sie mehr als die eignen.


»Ihre Kinder«, die der ältesten Gattin und die der anderen.


Heimlich bediene sie den Gatten eifrig.


»Heimlich«, während des Beischlafes, »bediene sie den Gatten eifrig«, damit er sich an ihr mehr als an den anderen ergötze.


Sie erzähle nicht von ihrem Kummer, der aus den Feindseligkeiten der Nebenfrauen entsteht.


»Der aus den Feindseligkeiten der Nebenfrauen entsteht«, aus den Kränkungen seitens der Nebenfrauen. »Sie erzähle«[308] das keinem andern aus sich heraus: denn wenn sie selbst davon berichtet, dürfte es der Liebhaber nicht glauben: von jemand anders aber lasse sie es ihm erzählen.


Sie trachte nach der ganz besonderen heimlichen Gunst des Gatten.


»Die ganz besondere Gunst des Gatten«: sie verlange danach, seitens des Gatten eine vor den anderen ausgezeichnete Verehrung, aber nicht offen, zu finden.


Sie spreche: »Durch diese lebe ich, (wie) von der Spende eines Zehrgeldes.«


»Durch diese« besondere Gunst »lebe ich, (wie) von der Spende eines Zehrgeldes«, wie von einer Wegekost.


Davon erzähle sie aber öffentlich nichts aus Großsprecherei oder in der Leidenschaft.


»Davon«, von der Gunst. »Aus Großsprecherei«, aus Prahlerei. »In der Leidenschaft«, aus Zorn gegen die Nebenfrauen. »Öffentlich«, vor dem großen Haufen, »erzähle sie nichts.«

(Der Verfasser) beschreibt (diesen) Fehler:


Denn eine Frau, welche Geheimnisse verrät, erfährt Verachtung seitens des Gatten.


»Verachtung«, Vernachlässigung.


Aus Furcht vor der ältesten Gattin trachte sie nach ganz heimlicher Ehrung; sagt Gonardīya.


Sonst dürfte diese, wenn sie die besondere Gunst bemerkt, zürnen oder auf Verderben sinnen. Die Ansicht des Gonardīya ist übernommen worden, weil sie nicht verboten ist.


Wenn die älteste Gattin unfruchtbar ist und keine Kinder hat, habe sie Mitgefühl und lasse auch den Liebhaber Mitgefühl hegen.


»Lasse Mitgefühl hegen«, durch die Aufforderung, sie anzureden: um die eigne Trefflichkeit zu offenbaren.


Wenn sie sie aber besiegt hat, führe sie den Wandel der einzigen Gattin – Das ist das Benehmen der jüngsten Gattin.


»Sie«, die unfruchtbare und kinderlose älteste Gattin. – Die in der Mitte zwischen der ältesten und jüngsten Gattin stehenden Frauen haben unter Berücksichtigung des Vorranges den Wandel der ältesten bzw. jüngsten Gattin zu führen.

Quelle:
Das Kāmasūtram des Vātsyāyana. Berlin 71922, S. 308-309.
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