§ 55. Das Verfahren bei dem Fortjagen.

[420] Bei einem Gleichgültigen ist von einem Fortjagen keine Rede, da er sich selbst entfernt. Wer aber nicht freiwillig geht; da er hingegeben ist, für den wird nun »das Verfahren bei dem Fortjagen« beschrieben. Da ist denn das erste Mittel, daß er nicht beachtet wird. So sagt (der Verfasser):


Einen Hingegebenen, der zwar früher dienstbereit gewesen, aber nun nur noch wenig Gewinn bringt, umgebe sie mit Übeltaten. Einen aber, der nichts mehr hat, entferne sie auf listige Weise ohne Umstände, indem sie sich auf einen anderen stützt.


Wenn er auch nur wenig noch gibt, »umgebe sie ihn mit Übeltaten«, Vergehungen, da er ja hingegeben ist; d.h., wenn er auch früher vielfach Dienste erwiesen hat und eine andere liebt, jage sie ihn doch nicht gleich fort. »Einen aber, der nichts mehr hat«, kein Geld mehr besitzt, »entferne sie«, jage sie fort.[420] Wenn man einwendet: ›Mag es auch immerhin so sein: soll das geschehen, ohne vorher die gegenwärtige Lage zu bedenken?‹ – so antwortet (der Verfasser): »Ohne Umstände«, d.h. ohne Besinnen. Wenn man einwendet: ›Wie darf sie ihn doch wohl fortjagen, da er ihr Wollust und Gewinn gebracht hat?‹ – so antwortet (der Verfasser): »Indem sie sich auf einen anderen stützt«: da sie beides von einem anderen bekommt. Es ist so zu verbinden: indem sie einem anderen als dem gegenwärtigen Liebhaber anhängt, den sie früher verstoßen und ruiniert hat, jage sie jenen fort, da sonst kein Widerpart vorhanden ist und bei Vorhandensein des Genusses ein hingegebener Liebhaber nicht fortgejagt wird.

Diese Mittel, um den Liebhaber fortzujagen, sind nun offne oder versteckte. Mit Bezug auf die ersten sagt (der Verfasser):


Tun, was ihm unerwünscht ist; wiederholt tun, was er tadelt; Zusammenkneifen der Lippen; Stampfen des Bodens mit dem Fuße; Erzählen von unbekannten Dingen; bei Sachen, die ihm bekannt sind, Mangel an Interesse und Schmähungen; Demütigung seines Stolzes; Verkehr mit Leuten, die ihm überlegen sind; Mißachtung; Tadeln derjenigen, die die gleichen Fehler haben; Verweilen an einsamen Orten.


»Was ihm«, dem Liebhaber, »unerwünscht ist«, das soll sie »tun«, damit er sich von ihr abwendet mit der Überzeugung: »Früher handelte sie nach meinem Willen, jetzt aber ist sie aus irgend einem Grunde mir abgeneigt!« – »Was er tadelt«, verabscheut, Grasschneiden, Lehmkneten usw., das soll sie in seiner Gegenwart »wiederholt tun«, immer wieder treiben, damit er merkt, daß sie ihm Ärger zu bereiten trachtet. – »Zusammenkneifen der Lippen«: sie lasse die Furcht fahren, indem sie ihn ansieht und ihre Lippen kräuselt. – »Stampfen des Bodens mit dem Fuße«: mit den Füßen auf den Erdboden stoßen: das beides tue sie, um ihren beständigen Zorn anzudeuten. – »Erzählen von unbekannten Dingen«: von welchen Dingen der Liebhaber keine Kenntnis hat, darüber unterhalte sie sich mit ihm zusammen: ›Kennst du diese schöne Sache?‹ – damit er vor den Leuten beschämt wird. – »Bei Sachen, die ihm bekannt sind, Mangel an Interesse«, um ihre Abneigung anzudeuten; »und Schmähungen«, daß er schlecht erzogen ist. –[421] »Demütigung seines Stolzes«, Beseitigung seines Stolzes auf seinen Heldenmut usw., indem sie einen andern aufstachelt, damit er beschämt wird. – »Verkehr mit Leuten, die ihm überlegen sind«, damit er aus Furcht vor diesen fern bleibt. – »Mißachtung«: um anzudeuten, daß sie auf die Dinge, die ihm erwünscht oder nicht erwünscht sind, keine Rücksicht nimmt. – »Tadeln derjenigen, die die gleichen Fehler haben«: damit er merkt, daß sie ihn auf diese Weise selbst tadeln will. – »Verweilen« oder Unterhalten »an einsamen Orten«.

Nun sagt (der Verfasser) mit Bezug auf den Liebesgenuß:


Bei seinem Verhalten während des Liebesgenusses Unruhe; Verweigern des Mundes; Verhüllen der Scham; Abscheu vor den Nägel- und Zahnwunden; bei der Umarmung Hindern durch die in den Armen bestehende Nadel; Unbeweglichkeit der Gliedmaßen; Kreuzung der Schenkel; Verlangen nach Schlaf; Auffordern, wenn sie merkt, daß er ermattet ist; bei Unfähigkeit Lachen; bei Fähigkeit Mangel an Entzücken; selbst am Tage; wenn sie seine Neigung bemerkt, Besuch großer Gesellschaften.


»Bei seinem Verhalten« in Gestalt von Rum, Betel usw. gebrauchen zum Zwecke des »Liebesgenusses Unruhe«: Verweigerung der Annahme; oder, wenn sie es annimmt, unfreundliches Wesen. – »Verweigern des Mundes«: nicht zugeben, daß er ihren Mund küßt. – »Verhüllen der Scham«: sogar bloße Berührung ist nicht zu dulden. – »Abscheu vor den Nägel-und Zahnwunden« die er beibringt ... – »In den Armen bestehend«: sie kreuze die beiden Arme und lege sie auf ihre Schultern, dann verhindert sie dadurch die Umarmung, durch diese »Nadel«, indem die vereinigten Arme gleichsam eine Nadel bilden. – »Unbeweglichkeit der Gliedmaßen« ist zu beobachten, d.h., sie leide nicht, daß er sie an sich zieht. – »Kreuzung der Schenkel«: sie lasse die Schenkel sich kreuzen; d.h., bei der (beabsichtigten) Einführung des Penis lege sie die Schenkel übereinander, um dieselbe zu vereiteln. – »Verlangen nach Schlaf« muß sie ihrerseits andeuten. – »Wenn sie merkt, daß er ermattet ist«: wenn er mit genauer Not sich anschickt, den Koitus auszuführen, dann soll sie den Ermatteten antreiben, zu beginnen und ihm nicht beispringen durch Ausübung des[422] umgekehrten Liebesgenusses. – »Bei Unfähigkeit« des also Aufgeforderten »Lachen« indem sie ihn mit der Ferse stößt, damit er Abneigung empfindet. – »Bei Fähigkeit Mangel an Entzücken«, um ihren Ekel auszudrücken. – »Selbst am Tage«: es gibt nämlich manchen Geiling1, der sogar am Tage, wo es doch verboten ist, den Koitus ausübt. – »Wenn sie seine Neigung«, sein Verlangen nach geschlechtlicher Vereinigung, »bemerkt«, an Gebärden und Äußerem, »Besuch großer Gesellschaften«, indem sie das Schlafgemach verläßt, um sein Verlangen zu verhindern.

Mit Bezug auf die Unterhaltung sagt (der Verfasser):


Beim Sprechen Wortverdrehungen; wo es nichts zu lachen gibt, Lachen; wo es etwas zu lachen gibt, Lachen aus einem anderen Grunde; während er spricht, Anblicken der Dienerschaft von der Seite und Anstoßen; unter Abbrechung seiner Erzählung Beginnen anderer; Erwähnen seiner Versehen und Beschäftigungen, die er nicht unterlassen kann; Besprechen seiner schwachen Seite durch eine Dienerin2; wenn er kommt, Nichtansehen; Bitten um Dinge, um die man nicht bitten soll; schließlich erfolgt von selbst Befreiung: so ist die Behandlung nach Dattaka.


»Beim Sprechen«: das gilt als häßlich. – »Wo es nichts zu lachen gibt«: selbst bei einer Unterhaltung, die nichts Scherzhaftes an sich hat, muß sie ohne Grund in »Lachen« ausbrechen, damit er denkt: ›Ohne daß ich einen Scherz gemacht habe, spottet sie über mich!‹ – Wenn er einen Scherz gemacht hat und »während er spricht«, der Liebhaber, »Lachen aus einem anderen Grunde«, indem sie eine andere Sache als die in Rede stehende meint. – »Anblicken der Dienerschaft von der Seite« muß sie treiben »und Anstoßen« mit der Hand unter Lachen, damit er merkt, daß sie sich an der Erzählung aus einem ganz besonderen Grunde ergötzt. – »Unter Abbrechung«: indem sie die von ihm vorgetragene Erzählung fallen läßt, soll sie »andere« beginnen. – »Seiner Versehen«, der Vergehungen[423] des Liebhabers. – »Beschäftigungen«, Spiele usw., »die er nicht unterlassen kann«. Dies beides, was zu unterlassen unmöglich ist, soll sie erwähnen, um Ekel zu erregen. – Erwähnung »seiner schwachen Seite«, durch deren Besprechung er sich unglücklich fühlt. – »Besprechung durch eine Dienerin«: sie lasse alles erwähnen, indem sie eine Dienerin anstiftet. – Wenn er durch diese Mittel zu der Erkenntnis gekommen ist, daß seine Entfernung angebracht ist, gibt es zwei Mittel, die bewirken, daß er nicht wiederkommt: diese nennt (der Verfasser): »Wenn er kommt, Nichtansehen«: so oft er kommt, zeige sie sich nicht. Wenn er sie aber zu sehen bekommt, bitte sie »um Dinge, um die man nicht bitten soll«: sie verlange etwas, was man nicht verlangen kann. – »Schließlich«, am Ende, »erfolgt von selbst Befreiung«, soll sie ihn aufgeben, indem er gewöhnlich durch diese Mittel abgewehrt wird. – »So ist die Behandlung«: die Aufnahme des Besuchers einer Hetäre ist nach ihren Regeln soweit von Dattaka gelehrt, nicht von mir (Vātsyāyana) vorgebracht, indem dieser auf eine Aufforderung der Hetären hin den Plan faßte, das in gedrängter Darstellung zu beschreiben. Was aber von Bābhravya gelehrt worden ist und hierfür zweckdienlich ist, Wiederannahme eines Ruinierten usw., das werde ich nun besprechen. Das ist seine Meinung ... Wann eine freundliche Aufnahme stattzufinden hat, wird durch diesen Abschnitt gelehrt.

Warum heißt er der Abschnitt über das Treiben der Hetären? – Darauf antwortet (der Verfasser):


Es gibt hier zwei Verse:

Vereinigung mit den Besuchern auf Grund einer Prüfung, Ergötzen des Vereinten, Geldnehmen von dem Verliebten, und schließlich Befreiung von ihm, das ist das Treiben der Hetären.

Eine Hetäre, die so nach dieser Lehre mit der Aufnahme der Besucher verfährt, wird von diesen nicht betrogen und erwirb glänzende Reichtümer.


»Auf Grund einer Prüfung«: d.h., nachdem sie die Prüfung der Freunde, derer, die zu besuchen und die nicht zu besuchen sind, sowie der Gründe des Besuches vorgenommen hat. – »Vereinigung mit den Besuchern«, durch das Gewinnen der Besucher. – »Ergötzen des mit ihr Vereinten«, – durch Hingebung[424] an den Geliebten. »Geldnehmen von dem Verliebten«, durch jene Mittel dafür. – »Befreiung« von ihm, durch das Verfahren bei dem Fortjagen. Alles das kommt den Hetären zu, nicht aber anständigen Frauen. Darum führt das die Bezeichnung »Treiben der Hetären«. So sagt Kātyāyana: »Prostitution ist das, was dem Hetärenvolke zukommt, sein Ergebnis ist das Treiben der Hetären«. – (Der Verfasser) nennt nun das Ergebnis solcher Prostitution: »So nach dieser Lehre«; die den Namen »Treiben der Hetären« führt. – »Wird nicht betrogen«, nicht allzusehr mitgenommen (hintergangen); »und erwirbt glänzende Reichtümer«, d.h. viele.

Fußnoten

1 Das Original hat den drastischen Ausdruck Liebesesel, kāmagardabha.


2 Der Kommentar faßt die Stelle anders auf. Vgl. Beiträge zur indischen Erotik, p. 804, Anm.

Quelle:
Das Kāmasūtram des Vātsyāyana. Berlin 71922, S. 420-425.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

554 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon