§ 33. Die eingeborenen Ideen.

[376] In Betreff der Frage nach dem Ursprunge der Vorstellungen fand die Aufklärungsphilosophie bereits den scharf ausgeprägten Gegensatz des Sensualismus und des Rationalismus vor.

1. Ersteren hatte Hobbes (und mit ihm Gassend) auf dem theoretischen Gebiet ebenso wie auf dem praktischen vertreten, indem er den Menschen, soweit er Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sei, für ein durchaus sinnliches, an die Empfindungen und Triebe des Leibes gebundenes Wesen hielt. alle Vorstellungen sollten nach ihm in der Sinnestätigkeit ihren Ursprung haben, und der Assoziationsmechanismus sollte das Entstehen aller übrigen seelischen Gebilde aus diesen Anfängen erklären. Durch solche Lehren fanden nicht nur die orthodoxen Gegner von Hobbes die übersinnliche Würde des Menschen in Frage gestellt, sondern dasselbe Motiv bestimmte auch die Neuplatoniker zu lebhafter Gegnerschaft. Besonders hatte sich in dieser Hinsicht Cudworth hervorgetan: bei seiner Bekämpfung des Atheismus786 hatte er nicht zum wenigsten Hobbes im Auge, und gegenüber der Lehre, daß alle menschlichen Vorstellungen aus der Einwirkung der Außenwelt stammen, beruft er sich namentlich auf die mathematischen Begriffe, denen die körperlichen Erscheinungen nie völlig entsprechen, sondern höchstens ähnlich sind.787 Beim Gottesbegriff dagegen nimmt er das Argument des consensus, gentium mit breitester Ausführung788 in Anspruch, um zu zeigen, daß er eingeboren sei. In gleicher Weise hatte schon Herbert von Cherbury mit der stoisch-ciceronianischen Lehre von den communes notiones alle Hauptlehren der natürlichen Religion und Moral begründet.

In etwas anderem Sinne war die Lehre von den eingeborenen Ideen bei Descartes789 und seinen Schülern aufgefaßt worden. Hier war es weniger auf die psychologische Frage nach dem Ursprunge der Vorstellungen, abgesehen, obwohl auch diese an einer entscheidenden Stelle der »Meditationen« (3) dahin beantwortet war, daß das Eingeborensein der Gottesidee wie ein Zeichen, das der Schöpfer seinem Geschöpf eingeprägt, aufzufassen sei; im ganzen aber hatte der große Metaphysiker mehr darauf Gewicht gelegt, daß das Kriterium des Eingeborenseins in der unmittelbaren Evidenz bestehe. Er hatte daher schließlich (fast mit Abstreifung jener psychologischen Bedeutung)[376] die Bezeichnung der ideae innatae auf alles ausgedehnt, was lumine naturali clare et distincte percipitur. Die sofortige Zustimmung war übrigens auch von Herbert von Cherbury als Merkmal der eingeborenen Ideen aufgeführt worden.790

2. Lockes polemische Stellung zu der Behauptung der eingeborenen Ideen ist zwar von erkenntnistheoretischer Absicht, aber sachlich nur durch die psychogenetische Auffassung bestimmt. Er fragt zunächst nur, ob die Seele bei ihrer Geburt fertige Erkenntnisse mit auf die Welt bringt, und diese Frage findet er verneinenswert.791 Infolgedessen richtet sich die Entwicklung der These No innate principles in the mind im ersten Buch des Lockeschen Essay weniger gegen Descartes als gegen die englischen Neuplatoniker792: sie bestreitet in erster Linie den consensus genitium durch Berufung auf die Erfahrung der Kinderstube und auf die Völkerkunde; sie findet, daß weder theoretische noch praktische Grundsätze allgemein bekannt oder anerkannt seien und nimmt von diesem Nachweise (mit ausdrücklicher Wendung gegen Herbert) auch nicht die Vorstellung von Gott aus, die vielmehr nicht nur sehr verschieden bei den verschiedenen Menschen sei, sondern manchen sogar ganz fehle. Auch läßt Locke nicht die von Henry More793 angedeutete Ausrede gelten, daß die eingeborenen Ideen in der Seele nicht aktuell, sondern implicite enthalten sein könnten: das könne nur bedeuten, die Seele sei fähig, sie zu bilden und zu billigen, – ein Merkmal, das dann schließlich für alle Vorstellungen gelte. Die sofortige Zustimmung endlich, welche das Eingeborene charakterisieren sollte, treffe gerade bei den allgemeinsten, abstrakten Wahrheiten nicht zu, und wo sie sich finde, beruhe sie auf der schon früher aufgefaßten Bedeutung der Wörter und ihrer Verbindung.794

So wird die Seele wieder (vgl. oben § 17, 4) alles ursprünglichen Besitztums entkleidet: sie gleicht bei der Geburt einem unbeschriebenen Blatt, white paper void of all characters.795 Um dies positiv zu beweisen, macht sich Locke dann anheischig, zu zeigen, daß alle unsere »Ideen«796 aus der Erfahrung stammen. Hierbei unterscheidet er die einfachen und die zusammengesetzten Ideen in der Voraussetzung, daß die letzteren aus den ersten entstehen. Für die einfachen Ideen aber gibt er zwei verschiedene Quellen an: sensation und reflection, die äußere und die innere Wahrnehmung. Unter Sensation versteht er die durch die leiblichen Sinne vermittelten Vorstellungen von der Körperwelt, unter Reflexion dagegen das Wissen von den dadurch hervorgerufenen Tätigkeiten der Seele selbst. Psychogenetisch also verhalten sich diese beiden Arten der Wahrnehmung so, daß die Sensation Anlaß und Voraussetzung für die Reflexion ist, – sachlich so. daß aller Inhalt der Vorstellungen aus der Sensation stammt, die Reflexion dagegen das Bewußtsein der an diesem Inhalt vollzogenen Funktionen enthält.[377]

3. Zu diesen Funktionen gehörten aber auch alle diejenigen, durch welche die Verknüpfung der Bewußtseinselemente zu den zusammengesetzten Vorstellungen erfolgt, d.h. alle Vorgänge des Denkens. Und hierbei ließ nun Locke das Verhältnis der intellektuellen Tätigkeiten zu ihren ursprünglich sinnlichen Inhalten in einer populären Unbestimmtheit, welche den Anlaß zu den verschiedensten Umbildungen seiner Lehre in der nächsten, Zeit gegeben hat. Einerseits nämlich erscheinen jene Tätigkeiten als die »Vermögen« (faculties) der Seele, welche sich dieser ihrer eigenen Funktionsweisen in der Reflexion bewußt wird (wie denn z.B. die Vorstellungsfähigkeit selbst797 als die ursprünglichste Tatsache der Reflexion behandelt wird, für die jeder einzelne an seine eigene Erfahrung zu verweisen sei); anderseits wird die Seele auch in diesen beziehenden Tätigkeiten, wie der Erinnerung, der Unterscheidung, der Vergleichung, der Verbindung etc. durchweg als passiv und an den Inhalt der Sensation gebunden betrachtet. Daher haben sich aus der Lockeschen Lehre die verschiedensten Ansichten entwickeln können je nach dem verschiedenen Grade von Selbsttätigkeit, den man der Seele in der Verbindung der Vorstellungen zuschrieb.

Von besonderem Interesse war dabei vermöge der aus dem Mittelalter stammenden Probleme der Erkenntnistheorie und Metaphysik die Entwicklung der abstrakten Vorstellungen aus den Daten der Sensation. Wie die Mehrzahl der englischen Philosophen bekannte sich Locke zum Nominalismus, der in den allgemeinen Begriffen nur innerliche, intellektuelle Zustände oder Ergebnisse sehen wollte. Für ihre Erklärung aber nahm Locke in großer Ausdehnung die Mitwirkung der »Zeichen« und insbesondere der Sprache in Anspruch. Sie ermöglichen durch ihre mehr oder minder willkürliche Anknüpfung an einzelne Vorstellungsteile die Heraushebung der einzelnen aus den ursprünglichen Komplexen und damit die weiteren Funktionen, durch welche derartig isolierte und fixierte Bewußtseinsinhalte in logische Beziehungen zueinander gesetzt werden.798 Daher fiel für Locke, wie einst für die Epikureer und dann für die Terministen, die Logik mit der Zeichenlehre, der Semeiotik, zusammen.799 Damit war ganz im Sinne Occams trotz der sensualistischen Grundlage, welche für allen Vorstellungsinhalt gelten sollte, Raum für eine demonstrative Wissenschaft der Begriffe und für alle abstrakten Operationen des erkennenden Geistes gewonnen. Alle diese Bestimmungen waren in philosophischem Betracht nicht neu, und auch ihre Darstellung ist bei Locke ohne Originalität und gedankliche Eigenheit; aber sie ist schlicht und einfach, von anmutiger Durchsichtigkeit und Leichtverständlichkeit, sie verschmäht alle Schulform und gelehrte Terminologie, sie gleitet geschickt über alle tieferen[378] Probleme hin weg und hat damit ihren Urheber zu einem der gelesensten und einflußreichsten Schriftsteller in der Geschichte der Philosophie gemacht.

4. So sehr Locke (schon wegen seines metaphysischen Anschlusses an Descartes, worüber unten § 34, 1) die Selbständigkeit der inneren Erfahrung neben der äußeren betont hatte, so war doch die Abhängigkeit, in welche er genetisch und inhaltlich die Reflexion von der Sensation setzte, so stark, daß sie sich in der Entwicklung seiner Lehre als das entscheidende Moment erwies. Diese Umwandlung zum vollen Sensualismus ging auf verschiedenen Wegen vor sich.

In der erkenntnistheoretisch-metaphysischen Ausbildung des Nominalismus führte sie bei Lockes englischen Nachfolgern zu den äußersten Konsequenzen. Berkeley800 erklärte nicht nur die Lehre von der Realität abstrakter Begriffe für den seltsamsten aller Irrtümer der Metaphysik, sondern leugnete auch – den extremsten Nominalisten des Mittelalters ähnlich – die Existenz abstrakter Ideen im Geiste selbst. Der Schein davon entstehe eben durch die Wortbezeichnung; in Wahrheit aber werde auch bei einer solchen stets nur die sinnliche Vorstellung oder die Gruppe sinnlicher Vorstellungen gedacht, die anfänglich zu jener Bezeichnung Anlaß gegeben hat. Jeder Versuch, das Abstrakte allein zu denken, scheitert an der Sinnesvorstellung, welche als der alleinige Inhalt der geistigen Tätigkeit immer bestehen bleibt. Denn auch die erinnerten Vorstellungen und die Teilvorstellungen, die sich daraus ablösen lassen, haben keinen andern Inhalt als die ursprünglichen Sinneseindrücke, weil eine Idee nie etwas anderes abbilden kann als eine andere Idee. Abstrakte Begriffe sind also eine Schulfiktion; in der wirklichen Denktätigkeit bestehen nur sinnliche Einzelvorstellungen, und von diesen können einige wegen der Gleichheit der Sprachbezeichnung auch andere ihnen ähnliche vertreten. Eine solche repräsentative Bedeutung kommt z.B. auch den mathematischen Begriffen zu.801

David Hume machte sich diese Lehre in vollem Umfange zu eigen und schob im Anschluß daran der Lockeschen Unterscheidung äußerer und innerer Wahrnehmung mit veränderter Terminologie einen andern Gegensatz, den des Urbildlichen und des Abbildlichen, unter. Ein Bewußtseinsinhalt ist entweder ursprünglich oder die Kopie eines ursprünglichen, entweder ein Eindruck (impression) oder eine Idee. Alle Ideen also sind Abbilder von Impressionen, und es gibt keine Idee, die anders zustande gekommen wäre als durch Kopie eines Eindrucks, oder die einen andern Inhalt hätte, als den, welchen sie dem Eindruck entnommen hat. Deshalb erschien es als die Aufgabe der Philosophie, auch für die scheinbar abstraktesten Begriffe das Original in einer Impression aufzusuchen und danach den Erkenntniswert der ersteren zu beurteilen. Freilich verstand dann Hume unter den Impressionen keineswegs nur die Elemente der äußeren, sondern auch diejenigen der inneren Erfahrung. Es waren also (nach Lockes Ausdrucksweise) die simple ideas aus sensation und reflection, welche er für Impressionen erklärte: der weite Blick des großen Denkers behütete ihn vor dem Fall in beschränkten Sensualismus.[379]

5. Eine andersartige und doch zu verwandtem Ziel führende Umbildung vollzog sich an der Hand der physiologischen Psychologie. Locke hatte nur die Sensation von der leiblichen Sinnestätigkeit abhängig gedacht, ihre Verarbeitung aber in den der Reflexion unterliegenden Funktionen als eine Leistung der Seele betrachtet; und wenn er auch der Frage nach der immateriellen Substanz auswich, so hatte er doch die im engeren Sinne intellektuellen Tätigkeiten durchaus als etwas Unkörperliches und vom Leibe Unabhängiges behandelt. Daß das anders wurde, daß man den physischen Organismus als den Träger nicht nur der einfachen Ideen, sondern auch der Verknüpfung von solchen zu betrachten anfing, war bei der unentschiedenen Vieldeutigkeit der Lockeschen Lehren leicht möglich, wurde aber noch mehr durch einseitige Konsequenzen aus cartesianischen und spinozistischen Theorien hervorgerufen.

Descartes nämlich hatte das gesamte Seelenleben des Tieres als mechanischen Prozeß im Nervensystem behandelt, das menschliche dagegen der immateriellen Substanz, der res cogitans, zugeschrieben. Je mehr man jetzt im Gefolge der Lockeschen Untersuchung die durchweg sinnliche Bestimmtheit des menschlichen Vorstellens erkannt zu haben meinte, um so näher lag die Frage, ob es sich aufrecht erhalten lasse, daß dieselben Vorgänge, welche beim Tier als Nervenprozeß begreiflich erscheinen, beim Menschen auf die Aktivität einer immateriellen Seelensubstanz zurückgeführt werden sollten. – Von einer anderen Seite her wirkte in derselben Richtung Spinozas Parallelismus der Attribute (vgl. oben § 31, 9). Nach diesem sollte jedem Vorgange des Seelenlebens ein Vorgang des leiblichen Lebens entsprechen, ohne daß (dem Sinne des Philosophen selbst nach) einer des andern Ursache oder einer das Ursprüngliche, der andere das Abgeleitete bedeutete. Dies war nun zunächst von den Gegnern sogleich als Materialismus und dahin aufgefaßt worden, als meine Spinoza, der Grundprozeß sei der leibliche, und der seelische solle nur seine Begleiterscheinung bilden. Aber auch bei den Anhängern, zumal bei Aerzten und Naturforschern, wie dem einflußreichen Boerhave in Leyden, schob sich an der Hand der Erfahrungen der experimentellen Physiologie, die sich nach Descartes' Anregung viel mit Reflexbewegungen beschäftigte, bald eine stark zum Materialismus neigende Vorstellungsweise unter.

Es ist interessant, daß die Konsequenzen dieser Gedankenverbindungen literarisch zuerst in Deutschland hervorgetreten sind. Hier lehrte schon 1697 ein Arzt namens Pancratius Wolff in seinen »Cogitationes medico-legales« daß die Gedanken mechanische Tätigkeiten des menschlichen Leibes, insbesondere des Gehirns seien, und im Jahre 1713 erschien der anonyme »Briefwechsel vom Wesen der Seele«802, worin, gedeckt durch fromme Widerlegungen, die Lehren von Bacon, Descartes und Hobbes zu einem anthropologischen Materialismus fortgeführt werden: zwischen dem Seelenleben des Tieres und dem des Menschen wird nur ein gradueller Unterschied anerkannt, Vorstellungen und Willenstätigkeiten werden ausnahmslos als Funktionen der erregten Gehirnfasern betrachtet und Uebung und Erziehung als die Mittel an[380] gegeben, durch welche die höhere Stellung des Menschen erreicht und erhalten werde.

Vorsichtiger ging man in England zuwege. In der Weise wie Locke das baconische Programm ausgeführt hatte, studierte man zunächst den inneren Mechanismus der Seelentätigkeiten und die Entwicklung der höheren Zustände aus den elementaren nach rein psychologischer Gesetzmäßigkeit: so geschah es von Peter Brown auf erkenntnistheoretischem, von andern auf dem Gebiete der Willenstätigkeiten. In derselben Weise verfuhr auch David Hartley, der für die zwischen den Elementen auftretenden Verknüpfungen und Beziehungen den (schon vorher gebrauchten) Ausdruck Assoziation803 üblich gemacht hat. Er wollte diese von ihm mit aller Sorgfalt des Naturforschers analysierten Verhältnisse lediglich als seelische Vorgänge auffassen und hielt an ihrer völligen Unvergleichlichkeit mit den materiellen Vorgängen, auch mit den feinsten Formen der körperlichen Bewegung fest. Aber auch er war Arzt, und der Zusammenhang des Seelenlebens mit dem Ablauf der Zustände des Leibes war ihm so deutlich, daß er die stetige Korrespondenz beider und das Aufeinanderbezogensein der psychischen Funktionen und der Nervenerregungen, die man damals als »Vibrationen« bezeichnete804, zum Hauptgegenstande seiner Assoziationspsychologie machte. Dabei hielt er die qualitative Differenz zwischen beiden parallelen Erscheinungsreihen aufrecht, und die metaphysische Frage nach der ihnen zu Grunde liegenden Substanz ließ er unentschieden; aber in Bezug auf die Kausalität geriet er unvermerkt in den Materialismus, indem er den Mechanismus der Nervenzustände schließlich doch als das primäre Geschehen und denjenigen der Seelentätigkeiten nur als dessen Begleiterscheinung auffaßte. Einfachen Nervenerregungen entsprechen einfache Empfindungen oder Begierden, zusammengesetzten zusammengesetzte. Freilich verwickelte ihn diese wissenschaftliche Theorie in schwere Widersprüche mit seiner frommgläubigen Ueberzeugung, und die »Observations« zeigen, wie ernst und objektiv erfolglos er zwischen beiden gerungen hat. Ganz dasselbe gilt von Priestley, der sogar dem Materialismus die weitere Konzession machte, daß er die Heterogeneität des seelischen und des leiblichen Vorganges fallen ließ und die Psychologie vollständig durch Nervenphysiologie ersetzen wollte, deshalb auch den von den Schotten verteidigten Standpunkt der inneren Erfahrung ganz preisgab, damit aber doch die warm vertretene Ueberzeugung eines teleologischen Deismus vereinigen wollte.

In der schroffsten Weise ist der anthropologische Materialismus von dem Franzosen Lamettrie ausgebildet worden. Durch ärztliche Beobachtungen an sich und andern von der völligen Abhängigkeit der Seele vom Leibe überzeugt, hat er – den Anregungen Boerhaves folgend – den Mechanismus des Lebens bei Tieren und Menschen studiert, und Descartes' Auffassung der ersteren scheint ihm auch für die letzteren völlig zutreffend. Der nur graduelle Unterschied zwischen beiden erlaubt auch für die menschlichen Seelentätigkeiten keine andere Erklärung als die, daß sie mechanische Funktionen des Gehirns sind. Deshalb aber ist es ein Uebergriff der Metaphysik, dem »Geiste«[381] eine eigene Substantialität neben der Materie zuzuschreiben. Der Begriff der Materie als des an sich toten Körpers, welcher des Geistes als bewegenden Prinzips bedürfe, ist eine willkürliche und falsche Abstraktion: die Erfahrung zeigt, daß die Materie sich bewegt und lebt. Das hat, sagt Lamettrie, gerade Descartes' Mechanik bewiesen, und deshalb ist ihre unabweisbare Konsequenz der Materialismus. Und daß alles seelische Leben nur eine der Funktionen des Leibes ist, ergibt sich daraus, daß sich darin kein einziger Inhalt findet, der nicht aus der Erregung irgend eines Sinnes herstammte. Dächte man sich – so schreibt Lamettrie805 zur Begründung seines aus Locke entwickelten Sensualismus –, wie es schon der Kirchenvater Arnobius vorschlug, den Menschen seit seiner Geburt von allem Zusammenhange mit seinesgleichen ausgeschlossen und auf die Erfahrung weniger Sinne beschränkt, so würde man in ihm keine andern Vorstellungsinhalte als die ihm durch eben diese Sinne zugeführten finden.

6. Prinzipiell weniger belangreich, aber literarisch um so ausgebreiteter waren die übrigen Umbildungen, welche Lockes Lehre in Frankreich erfuhr. Schon Voltaire, der sie durch seine »Lettres sur les Anglais« bei seine Landsleuten heimisch machte, gab ihr ein durchaus sensualistisches Gepräge und zeigte sich sogar obschon mit skeptischer Reserve – nicht abgeneigt, dem Schöpfer die Macht zuzutrauen, daß er das Ich, welches Körper ist, auch mit der Fähigkeit ausstattete, zu denken. Dieser skeptische Sensualismus, dem Gassends wissenschaftliche Auffassung (vgl. oben § 30, 6) nahestand, ist zum Grundton der französischen Aufklärung geworden.806 Zu ihm bekannte sich Condillac, der anfangs nur Lockes Lehre dargestellt und andern Systemen gegenüber verteidigt hatte, in seinem einflußreichen Traité des sensations. Was auch die Seele sein mag, der Inhalt ihrer Bewußtseinstätigkeiten stammt allein aus der Sinneswahrnehmung. Condillac entwickelte die assoziationspsychologische Theorie an der Fiktion der Bildsäule, welche, nur mit Empfindungsfähigkeit ausgerüstet, hintereinander die Erregungen der verschiedenen Sinne zugeführt erhält und dadurch allmählich ein menschenähnliches intellektuelles Leben entfaltet. Dabei ist die Grundvorstellung die, daß das bloße Beieinandersein verschiedener Empfindungen in demselben Bewußtsein von selbst die Empfindung des Verhältnisses und der Beziehung zwischen ihnen mit sich bringt. Nach diesem Prinzip wird geschildert, wie sich aus der Wahrnehmung die ganze Mannigfaltigkeit der seelischen Tätigkeiten entfalte: in der theoretischen Reihe erwachsen vermöge der Verschiedenheiten hinsichtlich der Intensität und der Wiederholung der Empfindungen nacheinander Aufmerksamkeit, rekognoszierende Erinnerung, Unterscheidung, Vergleichung, Urteil, Schluß, Einbildung und Erwartung des Zukünftigen, endlich mit Hilfe der Zeichen, besonders der sprachlichen, die Abstraktion und die Fassung allgemeiner Sätze. Aber die Wahrnehmung hat neben der Empfindung auch noch das Gefühlsmoment der Lust und Unlust, und aus[382] diesem entwickelt sich an der Hand der Vorstellungsbewegung Begierde, Liebe und Haß, Hoffnung, Frucht807 und durch alle solche Wandlungen des praktischen Bewußtseins hindurch schließlich der moralische Wille. So wachsen Erkenntnis und Sittlichkeit auf dem Boden der Sinnlichkeit.

Dieser systematische Aufbau hatte einen großen Erfolg. Der Systemtrieb, der auf dem metaphysischen Gebiet zurückgedrängt war (vgl. § 34, 7), warf sich zum Ersatz mit desto größerer Energie auf diese »Analyse des menschlichen Geistes«, und wie schon Condillac selbst manche feine Beobachtungen in die Darstellung des Entwicklungsprozesses verwoben hatte, so fand eine ganze Schar von Anhängern Gelegenheit, durch kleine Aenderungen und Verschiebungen der Phasen, durch Neuerungen in der Nomenklatur und durch mehr oder minder gehaltreiche Ausführung sich an der Vervollständigung dieses Gebäudes zu beteiligen. Die Regierung der Revolution erkannte nur dies Studium der empirischen Entwicklung der Intelligenz als Philosophie an, und Destutt de Tracy gab ihm später den Namen »Ideologie«.808 So kam es, daß man in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts die Philosophen meist Ideologen nannte.

7. Hinsichtlich des Seelenwesens, in welchem sich diese Umbildungen des Empfindens (sentir) abspielen sollten, blieb ein großer Teil der Ideologen bei Condillacs positivistischer Zurückhaltung; andere gingen von Voltaires problematischem zu Lamettries assertorischem Materialismus mit, – erst in der Weise Hartleys mit Betonung der durchgängigen Abhängigkeit der Ideenverbindungen von Nervenbewegungen, dann mit ausdrücklicher Behauptung der Materialität der Seelentätigkeiten. Am deutlichsten ist diese Entwicklung bei Diderot zu sehen. Von Shaftesbury und Locke ging er aus, aber die sensualistische Literatur wurde in dem Herausgeber der Enzyklopädie von Schritt zu Schritt mächtiger; er verfolgte809 die Hypothesen des Hylozoismus (vgl. unten § 34, 9) und schließlich beteiligte er sich an der Abfassung des Systéme de la nature. Das letztere stellte in dem Rahmen seiner Metaphysik auch die menschlichen Seelentätigkeiten als die feinen unsichtbaren Bewegungen der Nerven dar und behandelte ihren genetischen Prozeß gerade so wie Lamettrie. Unter den späteren Ideologen ragt in dieser Hinsicht durch Neuheit des physiologischen Gesichtspunktes Cabanis hervor; er trägt den Fortschritten der Naturwissenschaft insofern Rechnung, als er die Zustände der Nerven, auf welche die Seelenzustände (le moral) des Menschen zurückgeführt werden müssen, nicht mehr bloß in mechanischen Bewegungen, sondern in chemischen Veränderungen sucht. Das Vorstellen ist Sekret des Gehirns, ebenso wie andere Organe andere Sekrete liefern.

Im Gegensatz dazu hielt eine andere Richtung der Ideologie an dem Lockeschen Prinzip fest, daß zwar aller Inhalt des Vorstellens aus den Sinnen stamme, daß aber in den auf die Verknüpfung gerichteten Funktionen die Eigenart des Seelenwesens sich betätige. Der Führer dieser Richtung ist [383] Bonnet. Auch er macht sich die von Lamettrie mit Verweis auf Arnobius empfohlene Betrachtung ähnlich wie Condillac zu eigen, aber er ist ein viel zu klar geschulter Naturforscher, um zu verkennen, daß die Empfindung sich niemals in Bewegungselemente auflösen läßt, daß ihr Verhältnis zu den physischen Zuständen synthetisch, aber nicht analytisch ist. Daher sieht er in dem Mechanismus des Nervensystems nur die causa occasionalis für die selbsttätige Reaktion der Seele, deren Substantialität ihm durch die Einheit des Bewußtseins bewiesen erscheint. Er verbindet mit dieser Ansicht allerlei phantastische Hypothesen.810 Religiöse Vorstellungen sprechen bei ihm in der Annahme der immateriellen Seelensubstanz mit; aber der Sensualismus läßt eine Tätigkeit dieser Substanz nur in Verbindung mit einem Leibe zu: deshalb hilft sich Bonnet zur Erklärung der Unsterblichkeit und der ununterbrochenen Tätigkeit der Seele durch die Hypothese eines ätherischen Leibes, der mit der Seele wesentlich verbunden sei und sich je nach ihrem Aufenthalte einen gröberen materiellen Außenorganismus gestalte.811

Diese Vereinigung des Sensualismus mit der Behauptung selbständiger Substantialität und Reaktionsfähigkeit der Seele ist auf Bonnets Landsmann Rousseau übergegangen, der damit die psychologischen Theorien der Enzyklopädisten bekämpfte. Er fand, daß diese Eigenheit der Seele, die Einheitlichkeit ihrer Funktion, sich im Gefühl (sentiment) betätige, und spielte diese ursprüngliche Natürlichkeit ihres Wesens gegen den kalten und gleichgültigen Mechanismus der Ideen aus, der sie zur unbedingten Abhängigkeit von der Außenwelt erniedrige. Das Gefühl der Individualität empörte sich bei ihm gegen eine Lehre, nach der sich im Bewußtsein des Menschen nur eine zufällig zusammenkommende Masse fremder Inhalte wie auf einem indifferenten Schauplatze abspielen, vereinigen und wieder trennen sollte. Er wollte zum Ausdruck bringen, daß das geistige Leben nicht nur in uns geschieht, sondern daß wir selbst dabei sind als die tätig bestimmenden Persönlichkeiten. Diese Ueberzeugung diktierte Rousseaus Gegensatz gegen die verstandesmäßige Aufklärung, welche in dem Sensualismus Condillacs und der Enzyklopädisten das Innenleben des Menschen nur als ein mechanisches Produkt der von außen erregten Empfindungselemente betrachten wollte: dem psychologischen Atomismus hält Rousseau das Prinzip der Monadologie entgegen.

In derselben Weise, und den Argumenten nach wohl nicht ohne Einfluß von Rousseau, bat später St. Martin812 seine Stimme gegen den herrschenden Condillacismus erhoben: er trat sogar aus seiner mystischen Vereinsiedelung heraus, um in den Sitzungen der Écoles normales813 gegen die Oberflächlichkeit des Sensualismus zu protestieren. Die Ideologen, sagt er, reden so viel von der menschlichen Natur; aber statt sie zu beobachten, mühen sie sich, sie »zusammenzusetzen« (composer).

8. Die ausgesprochensten Gegner des Sensualismus in allen seinen Formen sind die schottischen Philosophen. Der gemeinsame Boden, auf dem sich[384] dieser Kontrast entwickelte, ist der Psychologismus. Denn auch Reid und seine Schüler suchen die Aufgabe der Philosophie in der Untersuchung des Menschen und seiner geistigen Fähigkeiten; ja sie haben den methodischen Gesichtspunkt, daß alle Philosophie empirische Psychologie sein müsse, noch viel energischer und einseitiger bestimmt, als die verschiedenen Schulen ihrer Gegner. Aber ihre Ansicht von der menschlichen Seelentätigkeit und deren Entwicklung ist diametral von derjenigen der Sensualisten verschieden. Diese halten das Einfache, jene das Zusammengesetzte, diese die Einzelvorstellungen, jene die Urteile, diese das Sinnliche, jene das Innerliche, diese das Einzelne, jene das Allgemeine für den ursprünglichen Inhalt der Seelentätigkeit. Reid erkennt an, daß Berkeleys Idealismus und Humes Skeptizismus ebenso korrekte Folgerungen aus dem Lockeschen Prinzip seien wie Hartleys und Priestleys Materialismus; aber gerade die Absurdität dieser Konsequenzen widerlege jenes Prinzip.

Im Gegensatz dazu will nun Reid die baconische Methode der Induktion auf die Tatsachen der inneren Wahrnehmung anwenden, um durch deren Analyse zu den ursprünglichen Wahrheiten zu gelangen, die mit dem Wesen der menschlichen Seele von vornherein gegeben sind und sich in der Entwicklung ihrer Tätigkeiten als die bestimmenden Grundsätze geltend machen, und so soll mit Ablehnung jeder Hilfe der Physiologie die psychologische Grundwissenschaft als eine Art Naturforschung der inneren Beobachtung ausgebildet werden. Bei der Lösung dieser Aufgabe hat Reid selbst und nach ihm besonders Dugald Stewart eine bedeutende Umsicht in der Auffassung innerer Vorgänge und eine große Feinheit in der Analyse ihres wesentlichen Inhalts entwickelt: eine Fülle wertvoller Beobachtungen über die genetischen Prozesse des Seelenlebens steckt in ihren weitschichtigen Untersuchungen. Und doch fehlt es diesen an ideeller Fruchtbarkeit ebenso wie an energisch zusammenfassender Beweiskraft. Denn sie vermischen überall den Nachweis dessen, was in den seelischen Funktionen als allgemeingültiger Inhalt aufgefunden werden kann, mit der Voraussetzung, daß dies auch genetisch das Ursprüngliche und Bestimmende sei: und da diese Philosophie kein anderes Prinzip als das der psychologischen Tatsächlichkeit hat, so gilt ihr kritiklos alles, was sich in dieser Weise als wirklicher Inhalt der Seelentätigkeit nachweisen läßt, als selbstverständliche Wahrheit. Die Gesamtheit dieser Grundsätze ward als common sense, als gesunder Menschenverstand bezeichnet und soll als solcher die oberste Richtschnur für alle philosophische Erkenntnis bilden.

9. In der deutschen Aufklärungsphilosophie mischen sich alle diese Richtungen mit den Nachwirkungen des cartesianischen und leibnizschen Rationalismus. Die methodische Doppelrichtung des letzteren814 hatte durch Christian Wolff eine feste, systematische Gestalt angenommen. Alle Gegenstände sollten nach ihm sowohl unter dem Gesichtspunkt der ewigen Wahrheiten als auch unter dem der zufälligen Wahrheiten betrachtet werden; für jedes Gebiet der Wirklichkeit gab es eine Erkenntnis durch Begriffe und eine andere durch Tatsachen, eine apriorische Wissenschaft aus dem Verstande und eine aposteriorische Wissenschaft aus der Wahrnehmung. Dabei sollten beide im Resultat derartig zusammenkommen, daß z.B. die empirische Psychologie die Tatsächlichkeit[385] aller derjenigen Zustände und Funktionen erweisen mußte, welche in der rationalen Psychologie aus dem metaphysischen Begriff der Seele und deren daraus sich ergebenden »Vermögen« abgeleitet wurden. Anderseits wurde dabei nach Leibnizens Vorgange der Wertunterschied beider Erkenntnisweise insofern festgehalten, als nur das Verstandeswissen als klare und deutliche Einsicht, die empirische (oder wie man damals sagte historische) Kenntnis dagegen als eine mehr oder minder dunkle und verworrene Vorstellung der Sachen galt.

Psychologisch verteilten sich die beiden Erkenntnisarten nach cartesianischem Muster auf die ideae innatae und die ideae adventiciae. Doch legte Wolff selbst, der metaphysischen Richtung seines Denkens gemäß, auf das genetische Moment wenig Gewicht. Um so mehr war das bei seinen Anhängern und seinen Gegnern der Fall, die schon unter dem Einfluß der französischen und der englischen Theorien standen. Dabei war der Gang der Entwicklung im allgemeinen der, daß die Bedeutung, welche Leibniz und Wolff dem Empirismus eingeräumt hatten, durch das Eindringen der Lockeschen Prinzipien immer mehr erweitert wurde. Die psychologische Methode überwucherte Schritt für Schritt die metaphysisch-ontologische, und innerhalb der psychologischen Methode wurden dem Sensualismus derartig wachsende Konzessionen gemacht, daß schließlich nicht nur ernste Männer der Wissenschaft wie Rüdiger und Lossius, sondern namentlich auch ein großer Teil der Popularphilosophen vollständig die Lehre vertraten, alle menschlichen Vorstellungen stammten aus der Sinneswahrnehmung. Das bunte Durcheinander der Abstufungen, in denen sich dieser Prozeß vollzog, hat nur literarhistorisches Interesse815, weil dabei keine neuen Argumente zutage traten.

Das gilt in der Hauptsache auch von Heinrich Lambert, der als ein tüchtiger Mathematiker und Naturforscher unter diesen Methodologen des 18. Jahrhunderts eine achtbare Stellung einnimmt. Denn wenn er unter den oft wunderlichen Aufstellungen seines »Neuen Organon« gelegentlich auch von Form und Inhalt der Erkenntnis redet, so bleibt er damit doch sachlich ganz im Rahmen der Wolffschen Vorstellungsweise und dringt nicht816 bis zu der Bedeutung vor, die Kant später diesem Gegensatz gegeben hat (vgl. unten No. 12). Dagegen ist es ein Verdienst von Lambert, daß er den Begriff des Apriori – im Gegensatz zu dem herrschenden Psychologismus – rein logisch und erkenntnistheoretisch zu fassen suchte. Er verstand unter Erkenntnis a priori eine solche, welche nicht durch Erfahrung zu begründen ist – hier redete aus ihm der Mathematiker –, und es schwebte ihm eine Metaphysik vor, die aus solchen apriorischen Elementen ihr ganzes Begriffssystem ableiten sollte. Hieraus erwuchs für die »Verbesserung der Metaphysik« die Aufgabe, diese ersten Wahrheiten aus dem Gesamtbestande der Erfahrung herauszulösen. Dafür aber suchte Lambert vergebens nach einem einheitlichen Prinzip817, und seine »Architektonik« begnügte sich schließlich mit einer äußerlichen Zusammenraffung.[386]

10. Während alle diese Ansichten über den Ursprung der menschlichen Vorstellungen sich auf dem literarischen Markte tummelten, war das versöhnende Wort über das Problem der eingeborenen Ideen längst gesprochen, harrte aber in einem Manuskripte auf der Hannoverschen Bibliothek der mächtigen Wirkung, die seine Veröffentlichung haben sollte. Leibniz hatte in seinen »Nouveaux essais« die Lockesche Ideologie Schritt für Schritt mit einem kritischen Kommentar versehen und darin die tiefsten Gedanken seiner Philosophie und die feinsten Folgerungen seiner Monadologie niedergelegt.

Unter den Argumenten, mit denen Locke das Eingeborensein der Ideen bestritt, war auch dasjenige gewesen, womit er behauptete, es könne nichts in der Seele sein, wovon sie nichts wisse. Dies Prinzip war von ihm818 auch nach der Seite hin ausgesprochen worden, daß die Seele nicht immer denke. Damit war die cartesianische Definition der Seele als einer res cogitans in Frage gestellt: denn das wesentliche Merkmal einer Substanz darf ihr in keinem Momente abgesprochen werden. In diesem Sinne war die Frage zwischen den Schulen mehrfach verhandelt worden. Leibniz aber war durch seine Monadologie in eine eigentümliche Zwischenstellung gewiesen. Da ihm die Seele, wie jede Monade, eine »vorstellende« Kraft war, so mußte sie in jedem Momente Vorstellungen (perceptions) haben: wenn aber alle Monaden, auch diejenigen, welche die Materie konstituieren, Seelen sind, so können diese Vorstellungen unmöglich alle klar und deutlich sein. Die Lösung des Problems liegt also wieder in dem Begriffe der unbewußten Vorstellungen oder petites perceptions (vgl. oben § 31, 11). Die Seele hat (wie jede Monade) immer Vorstellungen, aber nicht immer bewußte, nicht immer klare und deutliche Vorstellungen: allein ihr Leben besteht in der Entwicklung der unbewußten zu bewußten, der dunklen und verworrenen zu klaren und deutlichen Vorstellungen.

In dieser Hinsicht führte nun Leibniz einen äußerst bedeutsamen Begriff in die Psychologie des Erkennens ein. Er unterschied nämlich zwischen den Zuständen, in welchen die Seele Vorstellungen nur hat, und solchen, in denen sie sich derselben bewußt ist.819 Die ersteren bezeichnete er als perception, die letzteren als apperception.820 Er verstand also unter Apperception den Vorgang, durch den unbewußte, dunkle und verworrene Vorstellungen in das klare und deutliche Bewußtsein erhoben, damit aber von der Seele als ihre eigenen erkannt und vom Selbstbewußtsein angeeignet werden. Der genetische Prozeß des Seelenlebens besteht in der Verwandlung unbewußter in bewußte Vorstellungen, in der Aufnahme von Perceptionen in die Klarheit und Deutlichkeit des Selbstbewußtseins. Im Lichte der Monadologie nahm damit Leibniz' methodologische Ansicht von den empirischen oder zufälligen Wahrheiten (vgl. § 30, 7) eine eigentümliche Färbung an. Die Fensterlosigkeit der Monaden verbietet, die Wahrnehmung metaphysisch als Wirkung der Dinge auf die Seele aufzufassen821: die Sinnesvorstellungen müssen vielmehr als Tätigkeiten gedacht werden, welche die Seele vermöge der prästabilierten[387] Harmonie in dunkler und verworrener Weise (als petites perceptiones) entwickelt, und die Umbildung, die an ihnen stattfindet, kann nur als Verdeutlichung und Aufklärung, als Aufnahme in das Selbstbewußtsein, als Apperception betrachtet werden.

Sinnlichkeit und Verstand, deren Unterschied bei Leibniz mit den verschiedenen Graden der Klarheit und Deutlichkeit zusammenfiel, haben daher nach ihm denselben Inhalt, nur daß in der ersteren dunkel und verworren vorgestellt ist, was der andere klar und deutlich besitzt. In die Seele kommt nichts von außen hinein, sondern was sie bewußt vorstellt, ist schon vorher unbewußt in ihr enthalten gewesen und anderseits kann die Seele nicht in ihren bewußten Vorstellungen hervorbringen, was nicht von vornherein in ihr gewesen ist. Daher muß Leibniz dahin entscheiden, daß in gewissem Sinne, nämlich unbewußt, alle Vorstellungen eingeboren sind, und daß in anderem Sinne, nämlich bewußt, der menschlichen Seele keine Vorstellung eingeboren ist. Er bezeichnet dies in den Prinzipien der Monadologie vorgezeichnete Verhältnis mit dem Namen des virtuellen Eingeborenseins der Ideen.

Die Nouveaux essais führen diesen Gedanken, der als der leitende Gesichtspunkt gleich im Anfange behandelt wird, besonders hinsichtlich der allgemeinen oder ewigen Wahrheiten aus. Das war ja die brennende Frage: hier behaupteten die einen (die Neuplatoniker und zum Teil die Cartesianer), sie seien »aktuell«, als »fertige« Wahrheiten eingeboren; die andern (Hobbes und zum Teil Locke) wollten sie aus der Zusammenwirkung von Empfindungselementen erklären. Leibniz aber führt aus, daß solche Sätze bereits in der Wahrnehmung, als petites perceptions, nämlich als die unwillkürlichen Formen des beziehenden Denkens enthalten sind, daß sie aber nach dieser unbewußten Anwendung appercipiert, d.h. zu klarer und deutlicher Vorstellung erhoben und so an der Hand der Erfahrung erkannt werden. Schon in der sinnlichen Vorstellung steckt unklar und verworren die Tätigkeitsform der Seele, welche nachher als allgemeiner Grundsatz, als ewige Wahrheit zur Klarheit und Deutlichkeit der Verstandesauffassung gebracht wird. Damit war die Unbestimmtheit, die bei Locke hinsichtlich der »Seelenvermögen« geherrscht hatte, nach der entgegengesetzten Richtung aufgehoben, als es bei den Sensualisten geschehen war. Wenn diese jede selbständige Reaktion der Seele in der Verknüpfung der Sinnesdaten leugneten, so verlegte Leibniz diese Eigenart der psychischen Aktivität in die unbewußten Funktionen, womit die Seele ihre immanente Gesetzmäßigkeit entfaltet.822 Wenn daher Locke sich den scholastischen Satz angeeignet hatte Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, so fügte Leibniz hinzu: nisi intellectus ipse.823

11. Als die Nouveaux essais 1765 gedruckt wurden, erregten sie großes Aufsehen: Lessing war daran, sie zu übersetzen. Daß das Leben der Seele weit über alles klar und deutlich Bewußte hinaus in dunkel geahnten Tiefen wurzle, war für die Literatur, die eben aus aufklärerischer Verstandestrockenheit und schaler Regelrechtigkeit zu genialer Entfaltung aufrang, eine Einsicht von[388] höchstem Werte, und um so wertvoller, wenn sie von demselben Denker herrührte, den Deutschland als den Vater und den Heros seiner Aufklärung verehrte. In dieser Richtung hat Leibniz auch namentlich auf Herder gewirkt: man sieht das nicht nur in dessen ästhetischen Anschauungen,824 sondern mehr noch in der Preisschrift »vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele«.

Unter dem Vorwiegen des methodologischen Gesichtspunktes hatte die Leibniz-Wolffsche Schule den Gegensatz zwischen rationaler und empirischer Erkenntnis so weit als möglich ausgespannt und Verstand und Sinnlichkeit als zwei verschiedene »Vermögen« behandelt. Das Verhältnis dieser beiden getrennten Kräfte zueinander und den Anteil einer jeden von beiden am menschlichen Wissen hatte die Berliner Akademie untersucht wissen wollen: Herder spielte den wahren Leibniz, wie er sich in den Nouveaux essais entwickelt hatte, gegen das herrschende Schulsystem aus, wenn er in seiner Abhandlung die lebendige Einheit des menschlichen Seelenlebens hervorhob und zeigte, daß Sinnlichkeit und Verstand nicht zwei verschiedene Quellen des Wissens, sondern nur die verschiedenen Stufen einer und derselben Lebenstätigkeit seien, womit die Monade des Weltall in sich begreift. Als innere Kräfte sind der Seele alle die Vorstellungen eingeboren, mit denen sie in ihrer Entwicklung Schritt für Schritt sich vom Bewußtsein ihrer nächsten Umgebung zu der Erkenntnis der Weltharmonie erhebt. Diese tiefere Einheit von Sinnlichkeit und Verstand nannte Herder das Gefühl: und darin fand er auch bei seiner Forschung nach dem »Ursprung der Sprache« die einheitliche, alle Sinne umfassende Funktion, vermöge deren der psychologische Mechanismus des »Tönenst« und »Hörens« zum Ausdruck des Gedankens erhoben wird.

12. Bedeutsamer noch war eine andere Wirkung des Leibnizschen Werkes. Es war kein Geringerer als Kant, der die Lehre der Nouveaux esssais zu einem System der Erkenntnistheorie auszubauen unternahm (vgl. § 34, 12). Der Königsberger Philosoph wurde durch jenes Werk zu einer der wichtigsten Wendungen seiner Entwicklung angeregt und vollzog sie in seiner Inauguraldissertation.825 Er war, aus der Wolffschen Schulmetaphysik herausgewachsen, lange mit der Prüfung der empiristischen Theorien beschäftigt gewesen und hatte sich doch nicht bei ihnen befriedigen können826, ging vielmehr noch immer auf eine Neubegründung der Metaphysik aus und verfolgte den Gedanken, damit bei der Unterscheidung von Form und Inhalt der Erkenntnis anzusetzen. Nun zeigte gerade Leibniz von den »ewigen Wahrheiten«, daß sie als unwillkürliche Beziehungsformen schon in der sinnlichen Erfahrung selbst stecken, um durch die Reflexion des Verstandes zu klarem und deutlichem Bewußtsein herausgehoben zu werden. Dies Prinzip des virtuellen Eingeborenseins ist der Nerv der kantischen Inauguraldissertation: die metaphysischen Wahrheiten liegen in der Seele als Gesetze ihrer Tätigkeit827, um bei Gelegenheit der Erfahrung in Funktion zu treten und dann zum Gegenstand und Inhalt der Verstandeserkenntnis zu werden.[389] Kant wendet nun diesen Gesichtspunkt in neuer und fruchtbarer weise auf die sinnliche Erkenntnis an. Er stellte diese aus methodischen Gründen der Verstandeserkenntnis viel schärfer noch als die Wolffianer gegenüber: für ihn aber war deshalb die Frage, ob sich in der Sinnenwelt etwa eben solche ursprüngliche Formbeziehungen finden, wie sie Leibniz in der Verstandeswelt nachgewiesen und Kant selbst sie anerkannt hatte828: und so entdeckte er die »reinen Formen der Sinnlichkeit« – Raum und Zeit. Sie sind in dem gewöhnlichen Sinne nicht eingeboren, sondern erworben, aber nicht aus den Daten der Sinnlichkeit abstrahiert, sondern ab ipsa mentis actione secundum perpetuas lege sensa sua coordinante: und wie die Verstandesformen, so werden sie durch Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit des Geistes bei Gelegenheit der Erfahrung erkannt; dies ist das Geschäft der Mathematik, und darauf allein beruht deren notwendige und allgemeine Geltung.

Eine andere Formulierung gab dem Prinzip des virtuellen Eingeborenseins Tetens. Er schrieb seine »Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung« bereits auch unter dem Eindruck der kantischen Inauguraldissertation. Auch er erklärt, die »Aktus des Denkens« seien die ersten, ursprünglichen »Verhältnisgedanken«: wir erfahren sie dadurch, daß wir sie anwenden, wenn wir denken; und damit erweisen sie sich als die Naturgesetze des Denkens. Die allgemeinen Sätze, die aller philosophischen Erkenntnis zugrunde liegen, sind danach »subjektivische Notwendigkeiten«, in denen das Wesen der denkenden Seele selbst zum Bewußtsein kommt.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 376-390.
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