2. Kapitel. Die praktischen Fragen.

[418] Wenn die Naturreligion des 18. Jahrhunderts den Halt, den ihr die naturwissenschaftliche Metaphysik nicht dauernd gewähren konnte, bei der Moral suchte, so war dies dadurch ermöglicht, daß inzwischen auch dieser Zweig der philosophischen Untersuchungen seine völlige Unabhängigkeit von der positiven Religion gewonnen hatte. Und in der Tat war diese Ablösung, die schon im Gefolge der religiös indifferenten Metaphysik des 17. Jahrhunderts begonnen hatte, Verhältnismäßig schnell und einfach vollzogen worden: dabei aber machte sieh die Eigentümlichkeit des neuen Zeitalters auch darin geltend, daß der Schwerpunkt dieser Untersuchungen sehr bald auf das psychologische Gebiet verlegt wurde, und hierin kam der Philosophie die literarische Neigung des Zeitalters entgegen, die auf eine vertiefte Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, auf ein Durchwühlen seiner Gefühle, ein Zergliedern seiner Motive, auf die »sentimentale« Pflege persönlicher Beziehungen gerichtet war. Das in seinem Innenleben schwelgende Individuum, die sich selbst genießende Monade ist die charakteristische Erscheinung der Aufklärungszeit. Der Individualismus der Renaissance, welcher im 17. Jahrhundert durch die äußeren Mächte zurückgedrängt war, brach nun aus der steifen Grandezza zeremoniösen Formelwesens mit verinnerlichter Gewalt wieder hervor: die Schranken sollten durchbrochen, die Aeußerlichkeiten abgeworfen, das reine, natürliche Leben des Menschen herausgekehrt werden.

Je wichtiger aber so der einzelne sich selbst wurde und je vielseitiger er die Fragen nach dem Inhalt seiner wahren Glückseligkeit erwog, um so mehr wurden ihm Moralität, Gesellschaft und Staat zum Problem. Wie kommt so lautet die praktische Grundfrage der Aufklärungsphilosophie – das Individuum zu einem Lebenszusammenhange, der über es selbst hinausgreift? Durch alle die lebhaften Diskussionen dieser Probleme geht als stillschweigende Voraussetzung[418] die Ansicht hindurch, daß das Einzelwesen in seiner (wie immer aufgefaßten) natürlichen Bestimmtheit das Ursprüngliche, Gegebene, das einfach Selbstverständliche sei und daß aus ihm erst alle jene übergreifenden Beziehungen zu erklären seien. Insofern bildet, hier mehr nach Analogie des Atomismus, dort mehr nach derjenigen der Monadologie gedacht, die naturalistische Metaphysik des 17. Jahrhunderts den Hintergrund für die Moral des achtzehnten.

Die stetig fortschreitende Verdeutlichung dieser Voraussetzungen hat es mit sich gebracht, daß die Prinzipien der Ethik in den Verhandlungen dieser Zeit eine wertvolle Klärung fanden. Denn indem das sittliche Leben als etwas zu dem natürlichen Wesen des Individuums Hinzutretendes, erst zu Erklärendes angesehen wurde, mußte einerseits durch eine genaue Scheidung festgestellt werden, was denn eigentlich dies zu Erklärende sei und wie es erkannt werde, und anderseits die Untersuchung sich darauf richten, worauf sein Wert und seine Geltung beruhe: und je mehr dabei die Sittlichkeit als etwas dem natürlichen Wesen des Individuums Fremdes erschien, um so mehr machte sich neben der Frage nach dem Grunde der Geltung der sittlichen Gebote diejenige nach den Beweggründen geltend, welche den Menschen zu ihrer Befolgung veranlassen So treten, anfangs noch viel verschlungen und dann sich von neuem verschlingend, vier Hauptfragen heraus: was ist der Inhalt der Sittlichkeit? wie erkennen wir ihn? worauf beruht die Geltung der sittlichen Gebote? was bringt den Menschen zum sittlichen Handeln? Die Prinzipien der Moral legen sich auseinander nach den vier Gesichtspunkten des Kriteriums, der Erkenntnisquelle, der Sanktion und des Motivs. Diese Auseinanderlegung aber bestand darin, daß sich zeigte, die verschiedenen Antworten auf diese gesonderten Fragen seien in der mannigfachsten Weise miteinander kombinierbar: so ergibt sich jene Klärung und Sonderung gerade aus der bunten Mannigfaltigkeit und dem schillernden Ineinanderspielen der moralphilosophischen Lehren des 18. Jahrhunderts. Als der allseitig anregende, vielfach beherrschende Geist steht hier Shaftesbury im Mittelpunkte der Bewegung: einen Abschluß dagegen findet diese gerade wegen des Auseinandergehens der Fragestellungen in diesem Zeitraum nicht (vgl. § 39).

Typisch für den individualistischen Grundzug dieser Ethik war die immer neu gewendete Abwägung des Verhältnisses von Tugend und Glückseligkeit; ihr mehr oder minder scharf ausgesprochenes Endergebnis war, daß die Triebbefriedigung des Individuums zum Wertmaß der ethischen Funktionen erhoben wurde. Das auf diesem Prinzip aufgebaute System der praktischen Philosophie ist der Utilitarismus, dessen vielspältige Ausbildung den Drehpunkt in den verschlungenen Kreisläufen dieser Ueberlegungen ausmacht.

Daraus aber ergab sich die in Bezug auf die politische und soziale Wirklichkeit viel brennendere Frage nach dem Glückseligkeitswerte des gesellschaftlichen Zusammenhanges, der öffentlichen Einrichtungen und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Das Bestehende und historisch Gewordene verlor wiederum seine unmittelbare Geltung und seine unbefangene Würdigung: es sollte sich vor dem kritischen Bewußtsein rechtfertigen und sein Existenzrecht durch die Vorteile bewähren, die es für die Glückseligkeit der Individuen abwirft. Von diesem Gesichtspunkte her entwickelte sich die Staats- und Gesellschaftsphilosophie des 18. Jahrhunderts, von hier aus nahm sie ihre kritische[419] Stellung zu der historischen Wirklichkeit, und nach diesem Maßstabe prüfte sie schließlich auch den Ertrag des geschichtlichen Fortschritts der menschlichen Zivilisation. Der Wert der Kultur selbst und das Verhältnis von Natur und Geschichte wurden so zu einem Problem, das, am eindrucksvollsten von Rousseau formuliert, in dem Gegensatze der von diesem angeregten Richtungen und im Verein mit den erschütternden Ereignissen der Revolution die Anfänge der Geschichtsphilosophie bestimmte.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 418-420.
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