§ 46. Das Problem der Werte.

[556] Findet uns so der Beginn des neuen Jahrhunderts in dem noch ungeschlichteten Streite zwischen historischem und naturwissenschaftlichem Denken, so zeigt sich gerade in diesem Fortbestand des überkommenen Gegensatzes, wie wenig die Philosophie des 19. Jahrhunderts einen prinzipiellen Fortschritt zu gewinnen vermocht hat. Ihre vielgeschäftige Arbeit hat mehr an der Peripherie stattgefunden und in der Auseinandersetzung mit den besonderen Wissenschaften bestanden, während die zentrale Entwicklung einer gewissen Stagnation verfallen ist, die als eine geschichtlich wohl begreifliche Tatsache einfach hingenommen werden muß. Die Erschöpfung der metaphysischen Energie und die Hochflut der empirischen Interessen gehen eine völlig genügende Erklärung dafür. Deshalb ist es wohl zu verstehen, daß die Philosophie des 19. Jahrhunderts zwar eine reiche Entfaltung auf den Grenzgebieten aufweist, an denen sie sich mit den empirischen Disziplinen berührt, wie in der Psychologie, Naturphilosophie, Anthropologie und Geschichtsphilosophie, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie, – daß sie dagegen in den fundamentalen Disziplinen durchgängig einen eklektischen und unselbständigen Eindruck macht. Sicherlich ist dies die unvermeidliche Folge davon, daß sie unter dem erdrückenden Reichtum der zu vollem historischen Bewußtsein gelangten Traditionen leidet, wie denn keine frühere Zeit ein so üppiges und ertragreiches Wachstum der philosophiegeschichtlichen Studien gesehen hat; aber doch wird es einer zentralen Neugestaltung bedürfen, wenn die Philosophie den Bedürfnissen, die ihr in der letzten Zeit wieder aus dem allgemeinen Bewußtsein und den besonderen Wissenschaften entgegenkommen, in einer befriedigenden Weise entsprechen soll.1077 Die Richtung, in der die Lösung dieser Aufgabe zu[556] suchen sein wird, bestimmt sich einerseits durch die Vorherrschaft jenes Voluntarismus, der sich aus der Psychologie in die allgemeinen metaphysischen Anschauungen erstreckt (§ 44), anderseits durch den Umstand, daß die beiden Formen des Entwicklungsprinzips (§ 45), die historische und die naturwissenschaftliche, sich durch ihr verschiedenes Verhältnis zu den Bestimmungen des Werts voneinander unterscheiden. Es kommt hinzu, daß der mächtige Umschwung der Lebensverhältnisse, den die europäischen Völker in diesem Jahrhundert erfahren haben, zerstörend und aufbauend zugleich auf die allgemeinen Ueberzeugungen eingewirkt hat. Die in rapider Steigerung und Ausbreitung begriffene Kultur treibt ein tieferes Bedürfnis nach ihrer Selbstverständigung hervor, und aus dem schon in der Aufklärung hervorgetretenen Kulturproblem (vgl. oben § 37) hat sich eine Bewegung entwickelt, für welche die »Umwertung aller Werte« zum Schlagwort geworden ist.

1. Der charakteristische Grundzug ist dabei der, daß im Vordergrunde aller ethischen Ueberlegungen in viel bewußterer und ausgeprägterer Weise als je zuvor das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft steht – sei es in der positiven Form, daß die Unterordnung des ersteren unter die letztere als die Norm aller Wertung in irgend einer Art vorgetragen und begründet wird – sei es in der negativen Form, daß die Auflehnung des einzelnen gegen das erdrückende Uebergewicht der Gattung gepriesen und gerechtfertigt wird.

Die erstere Form ist diejenige, welche man aus der Philosophie der Revolution und aus dem Utilismus, namentlich in der ihm von Bentham gegebenen Gestalt (vgl. oben § 37, 2) übernommen hatte. Dieser Utilismus zieht sich als ein breiter Strom gemeinnütziger Selbstverständlichkeit durch die populäre Literatur des Jahrhunderts hin; er charakterisiert sich am meisten dadurch, daß er die Sorge für »das größte Glück der größten Anzahl« auf die irdische Wohlfahrt des Menschen beschränkt, die geistigen Güter zwar nicht leugnet, aber doch als Maßstab aller Wertung lediglich den Grad von Lust, bezw. Unlust ansieht, die ein Gegenstand, eine Beziehung, eine Handlung, eine Gesinnung hervorzurufen vermag. Theoretisch beruht diese Lehre auf der unglücklichen Reflexion der Assoziationspsychologie, daß, weil jedes erfüllte Begehren mit Lust verbunden ist, darum auch die Erwartung der Lust das letzte Motiv alles Wollens sei und jeder besondere Gegenstand nur als Mittel für den Gewinn dieser Lust gewollt und gewertet werde. Dieser formale Eudämonismus sah sich früher genötigt, die altruistischen Triebe entweder als gleich ursprünglich wie die egoistischen anzusehen oder sie aus den letzteren durch die Erfahrungen hervorgehen zu lassen, die das Individuum im gesellschaftlichen Leben macht. Demgegenüber besteht die bemerkenswerte Umwandlung, die der Utilismus in der neueren Zeit erfahren hat, darin, daß er mit dem Evolutionsprinzip verbunden wurde (wie dies oben – § 45, 7 – schon bei Spencers Lehre erwähnt worden ist). Die sozialethische Wertung des Altruismus erscheint danach als Ergebnis des Entwicklungsvorganges, indem nur diejenigen gesellschaftlichen Gruppen sich im Kampf ums Dasein erhalten haben sollen, deren Individuen in verhältnismäßig hohem Grade altruistisch gesonnen sind und handeln.1078[557] Die Geschichte der Moral ist ein Kampf der Werte oder »Ideale«, woraus teils die Relativität der geschichtlichen Moralsysteme, teils ihre konvergierende Entwicklung zu einer allgemeinen humanen Ethik erklärt werden. Diese Grundgedanken der evolutionistischen Moral sind in sehr mannigfachen Einzeldarstellungen ausgeführt worden: unter ihren Vertretern mögen in Frankreich Fouillée, in Deutschland Paul Rée1079, dessen entwicklungsgeschichtliche Theorie des Gewissens eine Zeitlang Aufsehen erregte, und G. H. Schneider1080 erwähnt sein.

2. Die Lebensauffassung, welche dieser utilistischen Sozialethik entspringt, ist durchweg eine optimistische Weltbejahung. Das Leben als Entwicklungsprozeß ist der Inbegriff aller Güter, und der Fortschritt zum Vollkommeneren ist die natürliche Notwendigkeit des Wirklichen: die Verstärkung und Verbreiterung des Lebens ist ebenso das Moralgesetz wie das Naturgesetz. Diese Konsequenz ist am feinfühligsten und wärmsten, nicht ohne eine religiöse Wendung, von Guyau ausgeführt worden: er findet den höchsten Sinn und Genuß des individuellen Daseins in der bewußten Lebensgemeinschaft mit der Gesellschaft und darüber hinaus mit dem Universum.

Aber schon ohne die evolutionistische Beigabe hatten Naturalismus und Materialismus ihren lebensfreudigen Optimismus geltend gemacht und gegen jede Art weltflüchtiger und weltablehnender Moral, insbesondere deren religiöse Formen, gerichtet. Das zeigt sich schon bei Feuerbach, der seinem philosophischen Wirken die Aufgabe stellte, die Menschen zu »freien, selbstbewußten Bürgern der Erde« zu machen.1081 Der Wille ist ihm identisch mit dem Glückseligkeitstriebe, und Glückseligkeit ist nichts anderes als »mangelloses, gesundes, normales Leben«. Daher ist der Glückseligkeitstrieb die Grundlage der Moral, ihr Ziel aber besteht in der lebendigen und tätigen Verknüpfung des Strebens nach der eigenen Glückseligkeit mit dem nach der fremden. In diesem positiven Wollen des fremden Wohls liegt auch die Wurzel des Mitleids. Die Tugend steht nur mit derjenigen Glückseligkeit in Widerspruch, die auf Kosten anderer glückselig sein will. Anderseits aber hat auch die Tugend ein gewisses Maß von Glückseligkeit zu ihrer unerläßlichen Voraussetzung; denn die Not drängt den Glückseligkeitstrieb unwiderstehlich und einseitig auf die egoistische Seite. Eben deshalb kann die Moralität der Menschheit nur durch Verbesserung ihrer äußeren Lage befördert werden, ein Gedanke von dem aus Feuerbach zu sehr weitgehenden sozialen Forderungen fortschritt. Sein moralischer Sensualismus ist aber von der festen Ueberzeugung getragen, daß die geschichtliche Entwicklung in der Richtung seiner Postulate liegt, und mit aller pessimistischen, oft bitteren Beurteilung der Gegenwart verbindet er einen glaubensstarken Optimismus für die Zukunft. Der Mensch als leibliche Persönlichkeit mit seinem sinnlichen Empfinden und Wollen ist ihm die alleinige Wahrheit, der gegenüber alle philosophischen Theorien, die ja doch nur Nachklänge der theologischen sind, in nichts zerfallen.[558]

Ein optimistischer Materialist ist auch E. Dühring, der eine eigenartige »Wirklichkeitsphilosophie« zur Basis seiner Schätzung vom »Wert des Lebens« gemacht hat. Der antireligiöse Charakter dieser Art von Weltbejahung tritt hier noch viel deutlicher hervor als bei Feuerbach. Dühring sieht in dem mit bitterer Rücksichtslosigkeit von ihm bekämpften Pessimismus der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts die romantische Fortsetzung der weltfeindlichen Stimmungen des Christentums und des Buddhismus: er betrachtet die »abergläubischen« Jenseitigkeitsvorstellungen als den eigentlichen Grund der Entwertung der Wirklichkeit, und erst wenn aller »Zauberglaube an übermaterielle Wesenheiten« verbannt ist, wird der wahre und immanente Wert des Lebens vollauf genossen. Die wahre Erkenntnis faßt die Wirklichkeit genau so auf wie sie ist, wie sie unmittelbar vor der menschlichen Erfahrung liegt; es ist Wahn, dahinter noch ein anderes zu suchen. Und wie das Wissen, so hat sich auch das Werten mit diesem Gegebenen zu bescheiden; das einzig Vernünftige ist die Wirklichkeit selbst. Schon in dem Unendlichkeitsbegriffe wittert Dühring – so unrichtig nicht! – ein Hinausgehen über das Gegebene: ihm ist deshalb die wirkliche Welt an Größe und Zahl begrenzt. Aber sie trägt in sich alle Bedingungen der selbstgenügsamen Glückseligkeit; auch den Mangel ausreichender Lebensbedingungen, auf den Darwin seine Lehre vom Kampf ums Dasein und die Selektionstheorie gegründet hat, bestreitet Dühring auf das lebhafteste, während er an sich der Deszendenzlehre und dem Evolutionismus nicht feindlich ist. Auf dem Boden dieser »finitistischen« Anschauungen will Dühring den Pessimismus durch den Nachweis widerlegen, daß der Genuß des Lebens dem Menschen nur durch die schlechten Einrichtungen und Gewohnheiten vergällt wird, die den supranaturalistischen Vorstellungen ihren Ursprung verdanken: die Wirklichkeitsphilosophie allein soll berufen sein, aus gesundem Denken gesundes Leben zu erzeugen und die Selbstgenügsamkeit einer auf edles Menschentum gestellten Gesinnung zu schaffen, deren Anlagen die Natur selbst in den »sympathischen Affektionen« gegeben hat. So scharf und gereizt deshalb Dühring wider das gegenwärtige Gesellschaftssystem geeifert hat, so energisch tritt er trotzdem für die Vernünftigkeit des Wirklichen in seiner Totalität ein: wie er theoretisch die Identität der Formen menschlichen Anschauens und Denkens mit den Gesetzen der Wirklichkeit behauptet hat, so ist er auch überzeugt, daß dieselbe Wirklichkeit alle Bedingungen enthält, um die Wertbestimmungen des vernünftigen Bewußtseins schließlich zu realisieren. Denn dieses unser vernünftiges Bewußtsein ist ja in letzter Instanz doch nichts weiter als die höchste Form des Naturlebens selbst.

3. Alle diese Arten des positivistischen Optimismus variieren in der lehrreichsten Weise den Hegelschen Satz von der Identität des Wirklichen und des Vernünftigen (vgl. oben § 42, 10, S. 617); sie zeigen außerdem alle einen Rousseauschen Zug des Glaubens an die Güte der Natur, und sie haben es leicht, in ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft des Menschengeschlechts dem Gedanken von der unbegrenzten Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, den die Philosophie der französischen Revolution erzeugt hatte (vgl. oben § 37, 4), ein evolutionistisches Gepräge zu geben. Um so charakteristischer ist es, daß das letztere Moment auch der entgegengesetzten Auffassung, dem Pessimismus, eine wesentlich veränderte Gestalt gegeben hat.[559]

An sich sind ja Optimismus und Pessimismus als Antworten auf die hedonische Frage, ob die Welt mehr Lust oder Leid enthalte, gleichmäßig pathologische Erscheinungen, und sie sind dies namentlich in der Art, wie sie als Momente der allgemeinen Literatur auftreten. Für die Wissenschaft ist diese Frage ebenso unnötig wie unbeantwortbar. Eine philosophische Bedeutung erhält die Kontroverse nur dadurch, daß sie mit der Frage nach der Rationalität oder Irrationalität des Weltgrundes in Beziehung gebracht wird, wie dies von Leibniz in der einen Richtung und von Schopenhauer in der andern geschehen ist. Aber in beiden Fällen ist es völlig unmöglich gewesen, den hedonistischen Ursprung des Problems durch seine metaphysische Umgestaltung vergessen zu machen.

Die pessimistische Stimmung, die während der ersten Jahrzehnte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland herrschte, hatte ihre allgemeinen Gründe in politischen und sozialen Verhältnissen, und die begierige Aufnahme der Schopenhauerschen Lehre, unterstützt durch die glänzenden Eigenschaften des Schriftstellers, pflegt deshalb als leichtverständlich betrachtet zu werden: verwunderlicher und bedenklicher ist es, daß diese Stimmung das Jahr 1870 überdauert, ja daß sie sich gerade während des folgenden Jahrzehnts in einer uferlosen Ausbreitung popularphilosophischer Tiraden entladen und die allgemeine Literatur zeitweilig völlig beherrscht hat. Die kulturgeschichtliche Betrachtung wird hier wohl eine Erschlaffungs- und Uebersättigungserscheinung zu konstatieren haben: der philosophiegeschichtliche Anteil an dieser Bewegung bleibt wesentlich an die blendende und verblendende Erscheinung der »Philosophie des Unbewußten« geknüpft. E. v. Hartmann fand auf Grund seiner Metaphysik, die den Weltgrund als eine Syzygie des »alogischen« Willens und des »logischen« Bewußtseins ansah (vgl. oben § 44, 9), zwischen Leibniz und Schopenhauer die witzige Synthesis, diese Welt sei zwar die beste unter den möglichen, aber immer doch noch so schlecht, daß es besser wäre, es gäbe überhaupt keine Welt. Das Durcheinander von teleologischer und dysteleologischer Naturansicht, das sich von Schelling auf Schopenhauer vererbt hatte (vgl. oben § 43, 2), erscheint hier bei Hartmann in grotesker und phantasievoller Ausgewachsenheit: und der Widerspruch soll dadurch gelöst werden, daß, nachdem einmal der unvernünftige Wille den Fehltritt begangen hat, sich als Leben und Wirklichkeit zu manifestieren, dieser Lebensprozeß den vernünftigen Inhalt hat, in seiner fortschreitenden Entwicklung den Akt der Weltentstehung rückgängig zu machen: das reifste Ergebnis dieser Entwicklung soll die Hinsicht in die Unvernunft des Willens, seine Verneinung, seine Erlösung von sich selbst sein.

Deshalb fand Hartmann das Wesen des, »vernünftigen« Bewußtseins in dem Durchschauen der »Illusionen«, mit denen der unvernünftige Drang des Willens gerade das hervorbringt, was ihn unglücklich machen muß, und er entwickelte aus diesem Verhältnis die sittliche Aufgabe, daß ein jeder durch die Verneinung der Illusionen an der Selbsterlösung des Weltwillens mitzuarbeiten habe: das ergab ihm den geschichtsphilosophischen Grundgedanken, daß alle Kulturarbeit auf dieses Ziel der Erlösung gerichtet sei. Ja, seine Religionsphilosophie will das tiefste Wesen der Erlösungsreligion darin sehen, daß durch den Weltprozeß Gott selbst von dem »alogischen« Momente seines Wesens[560] erlöst wird. Die Entwicklung des unvernünftigen Willens soll seine eigene Vernichtung zu ihrem vernünftigen Ziele haben. Deshalb bejaht Hartmann alle Kulturarbeit, weil ihr letzter Zweck die Verneinung des Lebens und die Erlösung des Willens von der Unseligkeit des Seins ist. In dieser Hinsicht berührt er sich mit Mainländer, der neben und nach ihm Schopenhauers Lehre zu einer asketischen »Philosophie der Erlösung« ausbildete; aber bei Hartmann nehmen diese Gedanken die Färbung eines evolutionistischen Optimismus an, der für den Ernst und den Reichtum der historischen Entwicklung ein sehr viel tieferes Verständnis zeigt als Schopenhauer. Und wie E. v. Hartmann dereinst selbst die beste Kritik seiner »Philosophie des Unbewußten« anonym »vom Standpunkt der Deszendenztheorie« gegeben hat, so ist in seiner eigenen Entwicklung allmählich die Eierschale des Pessimismus abgestreift und das positive Prinzip der Entwicklung als das Wesentliche herausgeschält worden: auch bei ihm hat Hegel über Schopenhauer gesiegt.

4. Alle diese Lebensansichten, deren typische Extreme hier einander gegenübergestellt wurden, variieren zwar vielfach hinsichtlich der Anerkennung und Abstufung der einzelnen Werte und Willensziele, aber sie kommen doch darin überein, daß sie im großen und ganzen den herrschenden Moralkodex und insbesondere seinen altruistischen Hauptbestand anerkennen. Ihre Differenzen betreffen mehr die allgemeine Formulierung oder die Sanktion oder die Motive der Moral, als diese selbst. Auch die radikaleren Richtungen wollen doch nur die wahrhaft humane Ethik von den Entstellungen befreien, die sie in gewissen historischen Lebenssystemen oder in deren Resten und Nachwirkungen erfahren haben soll, und durch alle jene Lehrformen geht ein stark demokratischer Zug, der das Wohl des Ganzen über alles stellt und den Eigenwert des Individuums jedenfalls viel geringer veranschlagt, als es in der großen Zeit der deutschen Philosophie geschehen war. Eine Mahnung wie die Carlyles zum Heroenkult (vgl. oben § 45,5) steht im 19. Jahrhundert sehr vereinzelt: weit eher herrschte jene Theorie des Milieu, welche Taine für die Geistesgeschichte in Umlauf gebracht hat, und die gegenüber der Massenwirkung den Anteil des Individuums an der historischen Bewegung auf ein Minimum zu beschränken geneigt ist.

Je weniger es sich verkennen läßt, daß solche Theorien gewissen politischen, sozialen, literarischen und künstlerischen Zuständen und in die Augen fallenden Erscheinungen des modernen Lebens durchaus entsprechen, um so begreiflicher ist es, wenn hie und da eine Reaktion des Individualismus in besonders leidenschaftlicher Form zu Tage getreten ist. Zunächst freilich muß festgestellt werden, daß gegenüber dem Strebertum, das sich von allen Strömungen treiben läßt, doch das individualistische Bildungsideal jener großen Zeit, die man wohl gern etwas abschätzig als Romantik zu bezeichnen pflegte, keineswegs in dem Grade ausgestorben ist, wie es wohl angenommen wird. Es lebt in zahlreichen hochentwickelten Persönlichkeiten fort, die es nur nicht nötig finden, sich damit literarisch breit zu machen; denn es hat seine Theorie in Fichte, Schiller und Schleiermacher. Und gerade deshalb macht es nicht gemeinsame Sache mit den paradoxen Kunststücken, die der radikale Individualismus gelegentlich vorzuführen liebt.

Die robusteste Art, wie dies geschehen ist, hat schon die Hegelsche[561] »Linke« zuwege gebracht in dem wunderlichen Buche von M. Stirner (Kaspar Schmidt, 1806-1866): »Der Einzige und sein Eigentum« (1844). Er verhält sich zu Feuerbach wie dieser zu Hegel: er zieht die Konsequenz, welche die Prämisse auf den Kopf stellt. Feuerbach hatte den »Geist«, die »Idee« als das »Anderssein der Natur«, als das Abstrakte und Unwirkliche, als das »theolologische Gespenst« angesehen, und für das einzig Wirkliche den Menschen, den lebendigen, sinnlichen Menschen von Fleisch und Blut erklärt; aber seine Ethik galt der Humanität, der tätigen Liebe zur Menschheit. Was ist, fragt Stirner, die Menschheit? Ein Gattungsbegriff, ein Abstraktum – der letzte Schatten des alten Gespenstes, das auch noch bei Feuerbach umgeht. Das wahrhaft Konkrete ist der einzelne, die selbstherrliche Persönlichkeit. Sie schafft ihre Welt in ihrer Vorstellung und in ihrem Willen: deshalb reicht ihr Eigentum so weit als sie will. Sie erkennt nichts über sich an: sie kennt kein anderes Wohl als das eigene und dient keinem fremden Gesetz oder fremden Willen. Denn es gibt für sie in Wahrheit nichts als sie selbst. So gelangt Stirner durch eine Verdrehung der Fichteschen Lehre vom »allgemeinen Ich« zum »Egoismus« im theoretischen und im praktischen Sinne des Wortes: er spielt den Solipsisten1082 und predigt die skrupellose Selbstsucht – »Ich hab' mein' Sach' auf nichts gestellt.« Das alles schmeckte nach einem gemachten Cynismus, und es blieb zweifelhaft, ob das Buch ernst genommen sein wolle. Jedenfalls verlor es das Interesse, das es momentan erregte1083, sehr schnell und verfiel einer Vergessenheit, aus der es erst neuerdings wieder ausgegraben wurde. Aber wenn man jetzt darin einen ersten Notschrei des von der Masse er drückten Individuums zu sehen geneigt ist, so sollte man doch nicht verkennen, daß der »einzige«, der sich hier von der Gemeinschaft emanzipieren wollte, durch nichts einen Wert erkennen ließ, der ihn dazu berechtigt hätte. Seine einzige Eigenart bestand in dem Mute der Paradoxie.

5. Eine andere verzerrte Form des Individualismus hat sich aus der Schopenhauerschen Willensmetaphysik bei Jul. Bahnsen1084 entwickelt. Hier wird mit der »Unvernunft« des Willens voller Ernst gemacht, zugleich aber auch die pantheistische Spitze des »alleinen Willens« abgebrochen. Wir kennen nur die wollenden Individuen, und so sieht Bahnsen in ihnen die selbständigen Urpotenzen der Wirklichkeit, über die hinaus ein höheres Prinzip nicht zu setzen ist. Die Aseität der endlichen Persönlichkeiten (Bahnsen nennt sie auch Henaden) ist nie 80 scharf ausgesprochen worden wie in diesem atheistischen Willensatomismus. Jeder dieser »Willen« aber ist in sich selbst entzweit, und darin besteht seine Unvernunft und seine Unseligkeit. Dieser Widerspruch gehört zum Wesen des Willens; der Wille ist der »gesetzte Widerspruch«, und dies ist die wahre Dialektik, die »Realdialektik«. Dieser Widerspruch ist aber für das logische Denken unfaßbar; deshalb ist alle Anstrengung, die der Wille macht, die Welt zu erkennen, vergeblich; das logische Denken, das den Widerspruch aus schließt, ist unfähig, eine Welt zu begreifen, die aus den in sich[562] widerspruchsvollen Willen besteht. Der Widerspruch zwischen der Welt und dem Intellekt macht auch die partielle Erlösung, die Schopenhauer anerkannt hat (vgl. oben § 43, 4), unmöglich, und der unzerstörbare Individualwille wird daher das Leid der Selbstzerfleischung in immer neuen Existenzen endlos zu erdulden haben. So teuer wird die metaphysische Dignität erkauft, welche die Persönlichkeit hier als »intelligibler Charakter« erhält. Sein Ausleben, so zwecklos es eigentlich ist, bildet das Problem aller Werte.

Die Phantasien dieses »Miserabilismus« machen schließlich, da die Erkenntnistheorie der »Realdialektik« ja die Inkommensurabilität zwischen dem logischen Denken und der widerspruchsvollen Realität behauptet, nicht den Anspruch auf wissenschaftliche Geltung, sondern sind nur der Ausdruck der düsteren Stimmung des in den Konflikten seines eigenen Wollens wühlenden Individuums: sie bilden somit das melancholische Gegenstück zu der kecken Frivolität des »Einzigen«. Beide aber beweisen, wohin man gelangt, wenn die »Philosophie« die Stimmungen, die das eigentliche Wesen von Optimismus und Pessimismus ausmachen, zu Lehrgegenständen machen will.

6. Noch mehr erkennbar ist dies an der großen Wirkung, die in den letzten Dezennien der Dichter F. Nietzsche auf die Lebensanschauung und ihren literarischen Ausdruck ausgeübt hat. Vieles vereinigt sich zu dieser Wirkung: die faszinierende Schönheit der Sprache, die auch da noch berückt und berauscht, wo der Inhalt in rätselhafte Andeutung übergeht – sodann gerade dieser ahnungsvolle Symbolismus selber, der namentlich in der Zarathustradichtung ein dämmeriges Schwelgen im Unbestimmten gestattet – weiterhin die aphoristische Form der Darstellung, die vom Leser niemals ein zusammenhangendes begriffliches Denken verlangt, vielmehr ihm selber die Dosis geistreichster Anregung zu bestimmen überläßt, worin er jedesmal die überraschenden Einfälle, die glänzenden Formulierungen, die glücklichen Vergleiche, die paradoxen Kombinationen zu genießen sich zumuten will. Aber alles dies tritt weit zurück gegen den unmittelbaren Eindruck der Persönlichkeit des Dichters: ein Individuum tritt uns entgegen von gesteigertstem Kulturinhalt und von durchweg eigenartiger Prägung, das alle Strebungen der Zeit miterlebt und an demselben ungelösten Widerspruch krankt wie diese Zeit selbst. Daher das Echo, das seine Sprache gefunden hat, – daher aber auch die Gefahr seiner Wirkung, die jene Krankheit nicht heilt, sondern verstärkt.

Die beiden Momente des inneren Antagonismus in seinem eigenen Wesen hat Nietzsche selbst als das »Dionysische« und das »Apollinische« bezeichnet: es ist der Gegensatz von Voluntarismus und Intellektualismus, der Gegensatz des Schopenhauerschen Willens und der Hegelschen Idee. Er tritt hier in einem Individuum auf von höchster intellektueller Bildung und ästhetischer Produktivität, das mit unsäglicher Feinfühligkeit Geschichte und Leben im Gedanken aufzufassen und poetisch wiederzugestalten vermag; aber dies Individuum ist durch Wissenschaft und Kunst nicht geheilt von dem dunklen Willen zum Leben; in seiner Tiefe wühlt ein leidenschaftlicher Drang nach wilder Tat, nach Machterwerb und Machtentfaltung. Es ist der nervöse Professor, der gern ein wüster Tyrann sein möchte, – und der nun hin- und hergeworfen wird zwischen dem stillen Genuß der höchsten Kulturgüter und jenem geheimen, brennenden Verlangen nach leidenschaftlichem Leben. Bald schwelgt er[563] in der heiteren Seligkeit des Schauens und Gestaltens, – bald wirft er all dies fort und bejaht die Triebe, die Instinkte, die Leidenschaften. Niemals, das zeigt die Höhe und Reinheit seines Wesens an, ist ihm der Sinnengenuß als solcher ein Wert gewesen: der Genuß, den er sucht, liegt entweder im Erkennen an sich oder in der Macht an sich. Im Kampfe zwischen beiden ist er zusammengebrochen, – das Opfer eines Zeitalters, das, von den unpersönlichen und überpersönlichen Werten der intellektuellen, ästhetischen und moralischen Kultur nicht mehr befriedigt, wieder einmal nach schrankenloser Tatentfaltung des Individuums dürstet und im Streite zwischen seiner überlieferten Vernunft und seiner zukunftsgierigen Leidenschaft sich und seine Wertsubstanz zerreibt. Der künstlerische Ausspruch dieses zerrissenen Zustandes ist der Zauber von Nietzsches Schriften.

In seiner ersten Periode, welche die folgenden im Keime enthält, ist der Widerstreit jener beiden Momente noch nicht zum Durchbruch gekommen: vielmehr erscheint hier in der Anwendung der Grundgedanken von Schopenhauers Philosophie auf die Entstehung der griechischen Tragödie und auf das Richard-Wagnersche Musikdrama, die Kunst als die Erlösung von der Qual des Willens. Aber schon damals soll aus dieser tragischen Gesinnung eine neue, eine höhere Kultur heraufgeführt werden, ein stolzeres Geschlecht von kühnem, ins Ungeheure strebendem Wollen, das die Enge des jetzigen Geisteslebens siegreich sprengt: und schon damals wirft dieser Drang nach Ursprünglichkeit und Selbstherrlichkeit den Ballast des Historischen über Bord. Keine Tradition und keine Autorität soll diese künstlerische Kultur bedrücken, die ästhetische Freiheit soll weder durch das Wissen noch durch das Leben beengt sein.

Es ist nicht schwer zu verstehen, daß der philosophische Dichter, als sich diese Gedanken zu klären begannen, zuerst eine Zeitlang auf die Bahn des Intellektualismus geriet. Der freie Geist, der sich aller Fesseln entledigt und nichts über sich anerkennt, ist die Wissenschaft; aber sie ist es nur dann, wenn sie den »wirklichen« Menschen frei auf sich selbst stellt, ihn von allem Uebersinnlichen und Unsinnlichen unabhängig macht. Diese Wissenschaft, die jetzt für Nietzsche das Wesen der Kultur tragen soll, ist positive Wissenschaft, keine Metaphysik, auch nicht mehr die des Willens. Daher widmet er sein Buch »für freie Geister« dem Andenken Voltaires, und nähert sich der Feuerbachschen Lebensphilosophie. Er verträgt sich mit der utilistischen Ethik P. Rées, er glaubt an die Möglichkeit einer rein wissenschaftlichen Kultur, er geht sogar so weit, in der Erkenntnis den höchsten und besten Zweck des Lebens zu sehen; sie ist ihm die wahre Freude, und die ganze Frische weltbejahender Lebensfreudigkeit der theôria ein zugleich ästhetisches und theoretisches Genießen der Wirklichkeit, ist die Grundstimmung dieser Zeit, – der glücklichsten, die ihm vergönnt war.

Dann aber kam die dionysische Leidenschaft zum Durchbruch, die Unbezwingbare Sehnsucht nach machtvollem, herrschendem, mitleidlos niederwerfendem Ausleben der Persönlichkeit. Der stärkste Instinkt des Menschen ist der Wille zur Macht: ihn gilt es zu bejahen. Diese bedingungslose Bejahung sprengt aber das Regelsystem, in das sich die bisherige Kultur eingesponnen hat; das neue Ideal ist in diesem Sinne »jenseits von gut und böse«.[564] Der Wille zur Macht kennt keine Grenzen des »Erlaubten«: ihm ist alles gut, was aus der Macht stammt und die Macht erhöht, alles schlecht, was aus der Schwäche stammt und die Macht schwächt. Und ebenso kommt es bei unseren Urteilen, in der Erkenntnis und in der Ueberzeugung, nicht darauf an, ob sie »wahr« sind, sondern ob sie uns helfen, ob sie unser Leben fördern und unsere Macht erhöhen. Nur dann haben sie Wert, wenn sie uns stark machen.1085 Deshalb wird in der wechselnden Lebensentfaltung auch die Ueberzeugung wechseln dürfen und müssen (wie es ja z. T. bei Nietzsche selbst der Fall war): der Mensch wählt die, die er braucht. Auch der Wert des Erkennens liegt jenseits von wahr und falsch. »Nichts ist wahr – Alles ist erlaubt.« Hier beginnt daher die »Umwertung aller Werte« – hier wird der »Philosoph« zum Reformator der Moral, zum Gesetzgeber, zum Schöpfer einer neuen Kultur. Mit dem Bewußtsein dieser Aufgabe erfüllte sich Nietzsche in der dritten Periode seiner Entwicklung.

Von hier aus stellt er dem gewöhnlichen, dem alltäglichen Menschen, diesem Herdentier, das Ideal des »Uebermenschen« gegenüber. Denn Wille zur Macht ist Wille zum Herrschen, und die vornehmste Herrschaft ist die des Menschen über den Menschen. Hegel hat einmal gesagt, von allem Großen, das die Weltgeschichte zeigt, sei das Größte die Herrschaft des einen freien Willens über die andern. An dieses Wort wird man erinnert, wenn Nietzsche sein neues Kulturideal aus dem Gegensatz der »Herrenmoral« gegen die »Sklavenmoral« entwickelt. Alle Brutalität des Niedertretens, alle Entfesselung der elementaren »Bestie« erscheint hier als Recht und Pflicht des Starken: er entfaltet, er verteidigt die Energie des Lebens gegen die Kümmerlichkeit der Entsagung und der Demut. Deshalb fällt die »Sklavenmoral« wesentlich mit dem weltflüchtigen Wesen des Supranaturalismus zusammen, den Nietzsche schon vorher bekämpft hatte, und der positive Zusammenhang der Uebergangszeit mit seiner dritten Periode besteht in der »fröhlichen« Bejahung welterobernden Lebensdurstes.

Dennoch bleibt das Ideal des »Uebermenschen« in poetischer Verschwommenheit und Unbestimmtheit. In der einen – wohl der ursprünglichen – Richtung ist es die große Individualität, die der Masse gegenüber ihr Urrecht geltend macht. Das Herdenvieh der »Viel-zu-Vielen« ist nur dazu da, daß sich aus ihm als seltene Glücksfälle die Uebermenschen erheben, die von Jahrhundert zu Jahrhundert sich zuwinken als Träger des Sinns, der all diesem wüsten Getriebe innewohnt. Das Genie ist der Zweck der Geschichte, und darin wurzelt sein Herrenrecht gegenüber dem Philister. Anderseits aber erscheint der »Uebermensch« als ein höherer Typus der Menschengattung, der herangezüchtet werden soll, – als das starke Geschlecht, das, frei von den Hemmungen und Selbststörungen der Sklavenmoral, seine Herrengewalt in mächtiger Lebensentfaltung genieße. In beiden Fällen ist Nietzsches Ideal des Uebermenschen gleich aristokratisch und exklusiv, und es ist eine empfindliche Strafe für die poetische Unbestimmtheit und symbolistische Vieldeutigkeit seiner Aphorismen, daß seine Bekämpfung der »Sklavenmoral« und ihrer[565] supranaturalistischen Grundlagen ihn gerade bei denen populär gemacht hat, welche die ersten sein würden, dem »Uebermenschen« den Kopf abzuschlagen, um den er die, »Viel-zu-Vielen« überragt.

Zwischen den beiden Richtungen, in denen sich das Ideal des »Uebermenschen« entwickelt, ist der Dichter nicht zu einer klaren Entscheidung gekommen. Zarathustra mischt sie mit bunt schillernden Uebergängen ineinander. Es ist klar, daß die eine Form ebenso nach der romantischen Genialität (vgl. oben § 42, 5) schmeckt, wie die andere nach dem soziologischen Evolutionismus. Abel der Gedanke an eine Erhöhung des menschlichen Gattungstypus durch die Philosophie erinnert, wie einerseits an die Hoffnungen der französischen Revolution und ihre Theorie (CONDORCET), so anderseits an die Postulate des deutschen Idealismus. Sehr richtig ist bemerkt worden, daß von dieser Fassung der Lehre vom Uebermenschen der Schritt zu Fichte nicht weit gewesen wäre: daß ihn Nietzsche nicht machen konnte, lag daran, daß in ihm zu viel von Schlegels ironischer Genialität steckte, als daß er den Weg von dem individuellen Machtwillen zu dem »allgemeinen Ich«, zu einer übergreifenden Geltung der Werte hätte zurückfinden können.

7. Die Empörung des schrankenlosen Individualismus gipfelt in der Behauptung der Relativität aller Werte. Nur der Machtwille des Uebermenschen bleibt als der absolute Wert bestehen und sanktioniert jedes Mittel, das er in seinen Dienst stellt. Es gibt für den »höheren« Menschen keine Norm mehr, weder eine logische noch eine ethische. An die Stelle der Autonomie der Vernunft ist die Willkür des Uebermenschen getreten, – das war der Weg von Kant zu Nietzsche, den das 19. Jahrhundert beschrieben hat.

Eben damit bestimmt sich die Aufgabe der Zukunft. Der Relativismus ist die Abdankung der Philosophie und ihr Tod. Deshalb kann sie nur weiterleben als die Lehre von den allgemeingültigen Werten. Sie wird sich nicht mehr in die Arbeit der besonderen Wissenschaften drängen, zu denen nun auch die Psychologie gehört. Sie hat weder den Ehrgeiz, das was diese erkannt haben, von ihrer Seite her noch einmal erkennen zu wollen, noch die Lust der Kompilation, aus den »allgemeinen Ergebnissen« der Sonderdisziplinen allgemeinste Gebilde zusammenzuflicken. Sie hat ihr eigenes Feld und ihre eigene Aufgabe an jenen ewigen und an sich gültigen Werten, die den Grundriß aller Kulturfunktionen und das Rückgrat alles besonderen Wertlebens bilden. Aber auch diese wird sie beschreiben und erklären nur, um über ihre Geltung Rechenschaft zu geben: sie behandelt sie nicht als Tatsachen, sondern als Normen. Auch sie wird deshalb ihre Aufgabe als eine »Gesetzgebung« zu entwickeln haben, aber nicht als das Gesetz der Willkür, das sie diktiert, sondern als das Gesetz der Vernunft, das sie vorfindet und begreift.

Auf dem Wege zu diesem Ziele scheint die gegenwärtige, freilich noch vielfach in sich gespaltene Bewegung die dauernden Errungenschaften aus der großen Zeit der deutschen Philosophie zurückgewinnen zu wollen. Seit der Lotze den Begriff des Wertes energisch hervorgehoben und ihn an die Spitze auch der Logik und der Metaphysik gestellt hat, regen sich vielfach die Ansätze zu einer »Theorie der Werte« als einer neuen Art von philosophischer Grundwissenschaft. Es kann nichts schaden, daß diese sich zunächst, den Denkgewohnheiten der letzten Jahrzehnte gemäß, zum Teil auf psychologischem und[566] soziologischem Gebiete bewegen, wenn man nur nicht aus den Augen verliert, daß in solchen Feststellungen und genetischen Erklärungen nur das Material gewonnen wird, an dem die Philosophie selbst ihre kritische Aufgabe zu erfüllen hat.

Aber eine nicht minder wertvolle Grundlage für diese zentrale Arbeit der Philosophie bildet ihre Geschichte, die, wie es zuerst Hegel erkannt hat, in diesem Sinne als ein integrierender Teil der Philosophie selbst angesehen werden muß. Denn wenn sie (vgl. oben S. 8) den Prozeß darstellt, durch den die europäische Menschheit ihre Weltauffassung und Lebensbeurteilung in wissenschaftlichen Begriffen niedergelegt hat, so zeigt sie eben damit, wie auf Veranlassung der einzelnen Erlebnisse und an der Hand der besonderen Erkenntnisprobleme Schritt für Schritt mit immer klarerem und sichererem Bewußtsein sich die Besinnung auf die Kulturwerte vollzogen hat, deren Allgemeingültigkeit der Gegenstand der Philosophie ist. Dasjenige an dem menschlichen Wesen, wodurch es in eine höhere und übergreifende Vernunftwelt emporragt, steckt nicht in den formalen Notwendigkeiten der psychischen Gesetzmäßigkeit, sondern in den werthaften Inhalten, die von den geschichtlichen Lebensgemeinschaften zu bewußter Gestaltung herausgearbeitet werden. Der Mensch als Vernunftträger ist nicht natürlich gegeben, sondern historisch aufgegeben. Alles aber, was er in den konkreten Gebilden seiner übrigen Betätigungen an Kulturwerten erwirbt, wird zu begrifflicher Klarheit und Reinheit durch die Wissenschaft und in letzter Instanz durch die Philosophie gesteigert. Dabei jedoch besitzen deren Errungenschaften ihre Geltung nicht in dieser ihrer geschichtlichen Tatsächlichkeit und Begreiflichkeit, sondern es muß immer und immer wieder versucht werden, sie mit kritischer Umgestaltung auf die zeitlosen Rechtsgründe zurückzuführen, mit denen sie in der Vernunft wurzeln. Darum ist die Geschichte der Philosophie das wahre Organon der Philosophie, aber nicht die Philosophie selbst.[567]


Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912.
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