6. Begriff und Sein

[45] Nun gibt es noch eine Theorie. Ich weiß nicht, ob sie mit den eben genannten von derselben Art ist oder nicht. Aber einerlei, ob sie von derselben Art ist oder nicht, sie ist eine Theorie neben andern und daher von jenen andern nicht verschieden. Wie dem auch sei, wir wollen versuchen, sie auszusprechen.

Gibt es einen Anfang, so gibt es auch eine Zeit, da dieser Anfang noch nicht war, und weiterhin eine Zeit, die der Zeit, da dieser Anfang noch nicht war, vorangeht. Gibt es Sein, so geht ihm das Nicht-Sein voran, und diesem Nicht-Sein geht eine Zeit voran, da auch das Nicht-Sein noch nicht angefangen hatte, und weiterhin eine Zeit, da der Nicht-Anfang des Nicht-Seins noch nicht angefangen hatte. Unvermittelt tritt nun das Nicht-Sein in die Existenz, ohne daß man sagen könnte, ob dieses Sein des Nicht-Seins dem Sein zuzurechnen ist oder dem Nicht-Sein. Nun habe ich aber einen Ausdruck dafür, ohne daß man sagen könnte, ob das, was ich damit ausdrücke, in Wahrheit einen Sinn hat oder keinen Sinn hat. Hierher gehören jene Aussprüche wie: »Auf der ganzen Welt gibt es nichts Größeres als die Spitze eines Flaumhaares« und: »Der Große Berg ist klein«. »Es gibt nichts, das ein höheres Alter hätte als ein totgeborenes Kind« und: »Der alte Großvater Pong (der seine sechshundert Jahre gelebt hat) ist in frühester Jugend gestorben«. Himmel und Erde entstehen mit mir zugleich, und alle Dinge sind mit mir eins. Da sie nun Eins sind, kann es nicht noch außerdem ein Wort dafür geben; da sie aber andererseits als Eins bezeichnet werden, so muß es noch außerdem ein Wort dafür geben. Das Eine und das Wort sind zwei; zwei und eins sind drei. Von da kann man fortmachen, daß auch der geschickteste Rechner nicht folgen kann, wieviel weniger die Masse der Menschen! Wenn man nun schon vom Nicht-Sein aus das Sein erreicht bis zu drei, wohin kommt man dann erst, wenn man vom Sein aus das Sein erreichen will! Man erreicht nichts damit. Darum genug davon!

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 45-46.
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