2. Vom höchsten Gut

[129] Mein Meister sprach: Der SINN schirmt und trägt alle Wesen; unendlich ist seine Größe. Ihm gegenüber muß der Edle alles eigne Streben aus seinem Herzen verbannen. Was wirkt, ohne zu handeln, heißt der Himmel; was Begriffe erzeugt, ohne zu handeln, heißt das LEBEN. Die Menschen[129] lieben und den Dingen nützen, das heißt Güte. Das Nicht-Übereinstimmende übereinstimmend machen, das heißt Größe. Die Grenzen und Verschiedenheiten zu überwinden, das heißt Weitherzigkeit. Zahllose Widersprüche besitzen, das heißt Reichtum. Festhalten an den Prinzipien des LEBENS, das heißt Herrschaft. Verwirklichtes LEBEN, das heißt Beständigkeit. Anschluß haben an den SINN, das heißt Vollkommenheit. Der Edle, der in diesen zehn Dingen erleuchtet ist, zeigt die Größe seines Herzens darin, daß er über seinen Werken steht. Sein Einfluß übt auf alle Wesen eine anziehende Macht aus. Wer also ist, der läßt das Gold verborgen liegen in den Bergen und die Perlen verborgen liegen in der Tiefe. Nicht Güter und Besitz sind ihm Gewinn. Er hält sich fern von Reichtum und Ansehen. Langes Leben ist ihm nicht Grund zur Freude; frühzeitiger Tod ist ihm nicht Grund zur Trauer. Erfolg bedeutet für ihn keine Ehre; Mißerfolg bedeutet für ihn keine Schande. Und würden ihm alle Schätze der Welt, er hält sie nicht fest als sein eigenes Teil. Und wäre er Herrscher der ganzen Welt, er sieht darin nicht eine persönliche Auszeichnung. Seine Auszeichnung ist es, daß er erschaut, wie alle Dinge eine Heimat haben und Leben und Tod gemeinsame Zustände sind.

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Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 129-130.
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