2. Die Reise ins Jenseits

[209] Meister I Liau Am Markt besuchte den Fürsten von Lu. Der Fürst von Lu machte ein betrübtes Gesicht. Der Meister Am Markt sprach: »Eure Hoheit blickt betrübt; warum das?«

Der Fürst von Lu sprach: »Ich lerne den SINN der früheren Könige; ich pflege das Erbe der früheren Herrscher; ich ehre die Manen und achte die Würdigen. Es ist mir ernst mit diesem Tun, und keinen Augenblick lasse ich ab davon. Aber dennoch kann ich dem Leid nicht entgehen. Das ist's, worüber ich betrübt bin.«

Der Meister Am Markt sprach: »Die Mittel, wodurch Eure Hoheit das Leid beseitigen will, sind zu oberflächlich. Der prächtige Fuchs und der schöngefleckte Leopard hausen in Bergwäldern und ducken sich in Felsenklüfte: ganz still. Bei Nacht nur wagen sie sich hervor; bei Tage bleiben sie in ihrer Höhle: ganz vorsichtig. Selbst wenn sie hungrig oder durstig sind, so dulden sie ihre Not: ganz im Stillen. Scheu halten sie sich zurück und suchen ihre Nahrung an Flüssen und Seen: ganz entschlossen. Und dennoch entgehen sie nicht dem Leid der Netze und Fallen. Womit haben sie das verschuldet? – Ihr Fell ist es, das sie ins Unglück bringt. Ist nicht das Reich Lu das Fell Eurer Hoheit? Ich würde wünschen, daß Eure Hoheit sich entkleide und dieses Fells entrate, das Herz besprenge, die Begierden abtöte und wandere nach den Gefilden jenseits der Menschenwelt! Im fernen Süd, da ist ein[209] Land, das heißt: das Reich der Erbauung des Lebens. Das Volk dort ist einfältig und gerade, ohne Selbstsucht und frei von Begierden. Sie verstehen Dinge zu machen, aber wissen sie nicht aufzuspeichern. Sie geben und suchen keinen Lohn dafür; sie kennen nicht die Gebote der Pflicht; sie kennen nicht die Erfordernisse höfischer Sitten. Unbekümmert dem Zug des Herzens folgend wandeln sie und treffen doch das Rechte. Bei ihrer Geburt werden sie freudig begrüßt; bei ihrem Tode werden sie beerdigt (ohne heftige Trauer). Ich würde wünschen, daß Eure Hoheit das Reich abtue, der Welt entsage und vertrauensvoll den Weg dorthin einschlage!«

Der Fürst sprach: »Jener Weg ist weit und steil; auch gibt es Ströme und Berge. Ich habe nicht Schiff und Wagen. Was soll ich tun?«

Der Meister Am Markt sprach: »So machet Selbstlosigkeit und Entsagung zu Eurem Wagen!«

Der Fürst sprach: »Jener Weg ist einsam und menschenleer, wen soll ich zum Genossen nehmen? Ich habe nicht Nahrung, um mich zu nähren; wie kann ich hingelangen?«

Der Meister Am Markt sprach: »Verringert Euren Aufwand, beseitigt Eure Begierden, so werdet Ihr Genüge haben auch ohne Zehrung! Wenn Ihr in Flüssen watet und auf dem Meere schwimmt und haltet Ausschau, so seht Ihr nicht das Ufer. Je weiter Ihr reist, desto weniger kommt Ihr ans Ende. Die Euch das Geleite geben, bleiben alle am Ufer stehen und kehren um. Von da ab seid Ihr in der Ferne. Darum: Wer Menschen besitzt, kommt in Verwicklung; wer von Menschen besessen wird, kommt in Betrübnis. So wollte denn der heilige Yau nicht Menschen besitzen und nicht von Menschen besessen werden. Und ich möchte Eure Verwicklungen lösen und Euch von der Betrübnis heilen, also daß Ihr allein mit dem SINN wandelt ins Reich des großen Nichts.

Wenn ein Boot den Fluß durchkreuzt und es kommt ein leeres Schiff und stößt ans Boot, so wird auch ein jähzorniger Mensch nicht böse. Steht aber ein Mensch auf jenem Schiffe, so ruft er, damit er ausweiche. Er ruft einmal, und jener hört nichts. Er ruft ein zweites Mal, und jener hört nichts. Er ruft ein[210] drittes Mal, und sicher werden üble Worte folgen. Im ersten Fall wurde er nicht böse; im zweiten Fall wurde er böse. Denn im ersten Fall war das Schiff leer; im zweiten Fall war jemand darin. Wenn ein Mensch sich selbst entleeren kann bei seinem Wandel in der Welt: wer mag ihm dann noch schaden?«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 209-211.
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