4. Der Weg zum Leben

[211] Kung Dsï war (von Feinden) umringt zwischen Tschen und Tsai. Sieben Tage lang hatte er kein gekochtes Essen.

Der Kanzler Jen ging zu ihm, um ihm sein Beileid auszudrücken, und sprach: »Meister, Ihr seid hart am Tode.«

Jener antwortete: »Ja.«

»Haßt Ihr den Tod?«

Er sagte: »Ja«.

Jen sprach: »Dann will ich Euch ein Mittel sagen, wie man dem Tode entgeht. An der Ostsee leben Vögel, die heißen Schwalben. Diese Vögel fliegen niedrig und langsam, als könnten sie es nicht recht. Sie fliegen hinter einander her und setzen sich in dicht gedrängten Scharen. Keine will die erste sein und keine die letzte. Vom Futter will keine den ersten Bissen; alle begnügen sich mit dem, was übrig bleibt. Darum bilden sie ununterbrochene Züge, und die Menschen draußen können ihnen nichts tun. So entgehen sie allem Leid. Ein gerader Baum wird zuerst gefällt; ein frischer Brunnen wird zuerst ausgeschöpft. Eure Gedanken stehen darauf, das Wissen zu verherrlichen, um die Toren zu schrecken; Eure Person zu pflegen, um den Schmutz ans Licht zu bringen. So geht Ihr leuchtend einher, als hättet Ihr Sonne und Mond im Arm. Darum könnt Ihr (dem Unglück) nicht entgehen. Vor alters habe ich einen Mann, der Großes vollbrachte, sagen hören:


Wer sich selbst rühmt, bringt das Werk nicht zustand.

Fertiges Werk muß mißraten,

Fertiger Ruhm kommt zu Schaden.


Wer kann Werk und Ruhm abtun und zurückkehren unter die große Menge? Er fließt wie der SINN, und man sieht nicht sein Weilen; er wandert wie das LEBEN, und man sieht nicht, wo er bleibt. Einfältig ist er und gewöhnlich; man könnte ihn für närrisch halten. Er verwischt seine Spuren, entsagt der Macht und sucht nicht Werke noch Namen. Darum, weil er keine Ansprüche an die Menschen stellt, stellen die Menschen auch keine Ansprüche an ihn. Der höchste[212] Mensch ist nicht berühmt. Warum denn nur habt Ihr solche Freude daran?«

Kung Dsï sprach: »Vortrefflich!«

Darauf verabschiedete er seine Wegegenossen und tat ab seine Jünger. Er entfloh an einen großen Sumpf, kleidete sich in wollne und härene Gewänder und aß Eicheln und Kastanien. Er konnte sich unter die Tiere mischen, ohne ihre Herden zu stören. Vögel und Tier haßten ihn nicht; wieviel weniger die Men schen.

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 211-213.
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