5. Wo ist der Sinn

[230] Meister Ostweiler befragte den Dschuang Dsï und sprach: »Was man den SINN nennt, wo ist er zu finden?«

Dschuang Dsï sprach: »Er ist allgegenwärtig«.

Meister Ostweiler sprach: »Du mußt es näher bestimmen.«

Dschuang Dsï sprach: »Er ist in dieser Ameise.«

Jener sprach: »Und wo noch tiefer?«

Dschuang Dsï sprach: »Er ist in diesem Unkraut.«

Jener sprach: »Gib mir ein noch geringeres Beispiel!«[230]

Er sprach: »Er ist in diesem tönernen Ziegel.«

Jener sprach: »Und wo noch niedriger?«

Er sprach: »Er ist in diesem Kothaufen.«

Meister Ostweiler schwieg stille.

Da sagte Dschuang Dsï: »Eure Fragen berühren das Wesen nicht. Ihr macht es wie der Marktaufseher, der den Büttel fragt, wie fett die Schweine sind. Je weiter unten man noch Fett findet, wenn man ihnen auf die Beine tritt, desto besser. Ihr müßt nur nicht in einer bestimmten Richtung suchen wollen, und kein Ding wird sich Euch entziehen. Denn so ist der höchste SINN. Er ist wie die Worte, die den Begriff der Größe bezeichnen. Ob ich sage: ›allgemein‹ oder ›überall‹ oder ›gesamt‹: es sind nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache, und ihre Bedeutung ist Eine. Versuche es, mit mir zu wandern in das Schloß des Nicht-Seins, wo alles Eins ist. Da wollen wir reden über die Unendlichkeit. Versuche es, mit mir zu kommen zum Nichts-Tun, zur Einfalt und Stille, zur Versunkenheit und Reinheit, zur Harmonie und Ruhe. Dort sind alle Unterschiede verschwunden. Mein Wille hat kein Ziel, und ich weiß nicht, wohin ich komme. Ich gehe und komme und weiß nicht, wo ich Halt mache. Ich wandere hin und her und weiß nicht, wo es endet. Schwebend überlasse ich mich dem unendlichen Raum. Hier findet auch das höchste Wissen keine Grenzen. Der den Dingen ihre Dinglichkeit gibt, ist nicht äußerlich von ihnen abgegrenzt; nur die Einzeldinge haben Grenzen. Was man die Grenzen der Dinge nennt, fängt da an, wo die Dinge aufhören, und hört da auf, wo die Dinge anfangen. Man redet von Fülle und Leere, von Verfall und Abnahme. Das, was Fülle und Leere wirkt, ist nicht selber voll oder leer. Was Verfall und Abnahme wirkt, ist nicht selber Wurzel oder Wipfel. Was Sammeln und Zerstreuen wirkt, ist nicht selber Sammeln und Zerstreuen.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 230-231.
Lizenz: