Auswandererhallen

[333] Auswandererhallen werden die unter behördlicher Aufsicht stehenden Herbergen genannt, die in den bedeutenderen Einschiffungshäfen Europas für jene Auswanderer errichtet sind, die dorthin zureisen und auf ihre Einschiffung nach Überseeplätzen aus irgend einem Grunde zuwarten müssen. Sie sind teils den mit der Beförderung von Auswanderern sich befassenden Reedereien angegliederte Unternehmungen, wie z.B. in Triest, Bremen und Hamburg, teils sind sie staatliche Einrichtungen, wie z.B. in Fiume und in Neapel.

Die Auswandererhallen sind aus den privaten Herbergswirtschaften hervorgegangen; ihre Errichtung war mit dem gewaltigen Anwachsen der europäischen Auswanderung aus gesundheitlichen und sittlichen Gründen zur unumgänglichen Notwendigkeit geworden. Zwar wurden die ursprünglich ganz sich selbst überlassenen privaten Auswandererherbergen schon in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts unter staatliche Aufsicht gestellt, aber besonders in den deutschen Häfen reichte diese Maßregel zur wirksamen Durchführung des Auswandererschutzes bald nicht mehr aus. Die Hamburg-Amerika-Linie baute daher auf Veranlassung und unter Aufsicht des Staates im Jahre 1891 am Amerikakai eine eigene Auswandererherberge und nannte diese zuerst Auswandererhallen. Diese erste Anlage stellte eine Art Massenquartier dar; sie stand unter staatlicher und ärztlicher Oberaufsicht und war mit Bade- und Desinfektionsanstalten versehen. Kurze Zeit nach ihrer Eröffnung mußten letztere Anstalten erweitert werden; bei dieser Gelegenheit wurde auch für größere Bequemlichkeit der Auswanderer vorgesorgt. Die immer mehr steigende Zahl der Auswanderer ließ jedoch auch mit dieser Erweiterung nicht lange ein Auskommen finden und so entschloß sich denn die Hamburg-Amerika-Linie bereits im Jahre 1900/1901 zu einer Neuanlage, die ganz außer der Stadt auf der Veddel zur Ausführung gelangte. Nach wenigen Jahren war aber auch dieser Neubau zu enge und erfuhr daher im Jahre 1906/1907 eine Erweiterung, so daß gegenwärtig die A. über eine Fläche von 60.000 m2 ausgedehnt sind und bei einem Kostenaufwand von 3 Mill. M. für den Bau gleichzeitig 4000–5000 Menschen untergebracht werden können.

In ähnlicher Weise entwickelten sich in den meisten Einschiffungshäfen die A., wie denn überhaupt die geschilderten Anlagen überall vorbildlich geworden sind. Nur die Vereinigte Österreichische Schiffahrts-Aktien-Gesellschaft, vormals Austro-Amerikana in Triest, stellte sich von vornherein nach Aufnahme der Auswandererbeförderung von Triest nach Häfen der Vereinigten Staaten von Nordamerika im Jahre 1904 in dieser Hinsicht ein großzügiges Programm. Gleich im darauffolgenden Jahre erwarb sie das durch die Erweiterungsbauten des Triester Hafens seinem ursprünglichen Zweck entzogene Seehospiz neben dem Holzlagerplatz unterhalb Servola bei Triest und adaptierte dieses derart, daß es bei vollständiger Trennung der Männer- und Frauenabteilung einen normalen Belegraum für 900 Personen erhielt, im Notfalle aber bis zu[333] 1200 Auswanderer beherbergen kann. Die hygienischen Einrichtungen sind so gehalten, daß die neuangekommenen Passagiere in eigene Isolierräume aufgenommen und erst nach eingehender Untersuchung ihres Gesundheitszustandes in die Anstalt eingelassen werden. Auch das Reisegepäck wird unterschiedlos einer gründlichen Revision unterzogen, so daß in jeder Hinsicht die Gefahr der Einschleppung ansteckender Krankheiten geradezu ausgeschlossen ist.

Entschieden die modernsten A. besitzt gegenwärtig Fiume. Nachdem man sich dortselbst seit der im Jahre 1903 erfolgten Aufnahme der Auswanderung mit einer Notherberge behalf, baute die ungarische Regierung nach Abschluß der Auswanderungsgesetzgebung ein Auswandererhaus, das am 5. April 1908 dem Betrieb übergeben wurde. Es umfaßt eine Baufläche von 3840 m2 und kostete rund 1,300.000 K, die aus dem Auswandererfonds bestritten wurden. Die hygienischen und administrativen Einrichtungen folgen ganz dem Hamburger System; es befinden sich in dem mit Lufthöfen ausgestatteten Gebäude das Amtslokal der Schiffahrtsgesellschaft, das der Auswanderungskommission, ferner ein Post- und Telegraphenamt, eine Tabaktrafik, ein Warenlager etc. Die Aufnahmsfähigkeit reicht bis an 2000 Personen; die Dimensionen des Speisesaales sind so gehalten, daß 1200 Personen auf einmal abgespeist werden können.

Sehr spät kam Bremen, obwohl der bedeutendste Auswanderungshafen Europas, zu A. Lange Jahre schon reichten die Bremer Auswanderergasthäuser für die Beherbergung der Auswanderer nicht mehr aus; es wurden zwar ständig Notquartiere in Anspruch genommen, aber die ungeheure Masse der Auswanderer konnte oft doch nur zum Teil untergebracht werden. Der Norddeutsche Lloyd und die Firma F. Mißler errichteten daher die »Bremer Auswandererhallen, G.m.b.H.« und bauten endlich die »Bremer Auswandererhallen«, die am 9. März 1907 in Betrieb genommen wurden. Zunächst wurden zwei Gebäude mit Unterkunft für insgesamt 1232 Personen errichtet, doch mußten, veranlaßt durch die große Auswandererbewegung, bereits wenige Monate später 8 Logierhallen hinzugebaut werden, in denen weitere 1876 Personen, unter Zugrundelegung von 10 m3 für den Auswanderer, beherbergt zu werden vermögen. Zu den vorgenannten Hallen kommt noch das von der Genossenschaft erworbene Gasthaus »Stadt Warschau« mit Belegräumen für 274 Auswanderer, so daß einschließlich der den gleichen Zwecken zur Verfügung stehenden 27 Gasthäuser des Wirtevereins in Bremen gleichzeitig 4894 Auswanderer untergebracht werden können. Wenn auch die Einrichtungen der Bremer A. vollständig mustergültige sind, so erscheint doch der Grundsatz, alle Auswanderer ausschließlich in den A. unterzubringen, nicht vollständig durchgeführt. Es bleibt sohin in Bremen eine einheitliche Zusammenfassung erst der Zukunft vorbehalten.

Großartige Anlagen besitzen auch Antwerpen und Havre, die gleichfalls das Hamburger System angenommen haben, während Neapel wohl die hübschesten A. besitzt, die jedoch, um nicht private Interessen zu verletzen, nicht benützt werden dürfen.

v. Frey.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 1. Berlin, Wien 1912, S. 333-334.
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