§ 4. Die Plebejerstadt.

[775] Die Brechung der Geschlechterherrschaft durch die stadtbürgerliche Eidverbrüderung S. 775. – Revolutionärer Charakter des »Popolo« als illegitimer politischer Verband S. 776. – Die Machtverteilung unter den Ständen der italienischen Stadt im Mittelalter S. 777. – Parallele Entwicklung des Demos und der Plebs in der Antike: das römische Tribunat und die Ephoren in Sparta S. 779. – Struktur der antiken »Demokratie« im Vergleich zur mittelalterlichen S. 782. – Die Stadttyrannis im Altertum und Mittelalter S. 784. – Exzeptionelle Stellung der italienischen Stadt des Mittelalters S. 787. – Gesamtlage der mittelalterlichen Städte auf dem Höhepunkt der Stadtautonomie S. 788, – bedingt durch: 1. politische Selbständigkeit S. 788, – 2. autonome Rechtssatzung S. 789, – 3. Autokephalie S. 790, – 4. Steuerautonomie S. 791, – 5. Marktrecht und autonome »Stadtwirtschaftspolitik« S. 791, – 6. das durch die politische und ökonomische Eigenart der mittelalterlichen Stadt bedingte Verhalten gegenüber den nicht-stadtbürgerlichen Schichten S. 793, – insbesondere gegenüber dem Klerus S. 795.


Die Art, wie die Herrschaft der Geschlechter gebrochen wurde, zeigt, äußerlich betrachtet, starke Parallelen zwischen Mittelalter und Antike, namentlich wenn wir für das Mittelalter die großen und speziell die italienischen Städte zugrunde legen, deren Entwicklung ja ebenso wie die der antiken Städte wesentlich eigengesetzlich, d.h. ohne die Einmischung außerstädtischer Gewalten, verlief. In den italienischen Städten nun war die entscheidende nächste Etappe der Entwicklung nach der Entstehung des Podestats die Entstehung des Popolo. Im ökonomischen Sinn setzte sich der Popolo ebenso wie die deutschen Zünfte aus sehr verschiedenen Elementen zusammen, vor allem aus Unternehmern einerseits, Handwerkern andererseits. Führend im Kampf gegen die ritterlichen Geschlechter waren zunächst durchaus die ersteren. Sie waren es, welche die Eidverbrüderung der Zünfte gegen die Geschlechter schufen und finanzierten, während allerdings die gewerblichen Zünfte die nötigen Massen für den Kampf stellten. Der Schwurverband der Zünfte nun stellte sehr oft einen einzelnen Mann an die Spitze der Bewegung,[775] um die Errungenschaften des Kampfes gegen die Geschlechter zu sichern. So wurde Zürich nach Vertreibung der widerspenstigen Geschlechter aus der Stadt 1336 von dem Ritter Rudolf Brun regiert, mit einem zu gleichen Teilen aus den in der Stadt verbliebenen Rittern und Constaffeln, den Unternehmerzünften der Kaufleute, Tuchhändler, Salzhändler, Goldschmiede einerseits und kleingewerblichen Zünften andererseits gebildeten Rat und widerstand so der Belagerung des Reichsheeres. Die Schwureinung der Zunftbürgerschaft war in Deutschland meist nur vorübergehend eine Sondereinung. Die Umgestaltung der Stadtverfassung entweder durch Aufnahme von Zunftvertretern in den Rat oder durch völliges Aufgehen der Bürgerschaft mit Einschluß der Geschlechter in die Zünfte beendet ihr Bestehen. Als eine dauernde Organisation blieb die Verbrüderung nur in einigen Städten Niederdeutschlands und des baltischen Gebietes als Gesamtgilde bestehen. Ihr, gegenüber den Berufsverbänden sekundärer, Charakter geht aus der Zusammensetzung ihres Vorstandes durch die Gildemeister der Einzelverbände hervor. Ohne Zustimmung der Gilden durfte in Münster im 15. Jahrhundert niemand gefangengesetzt werden: die Gesamtgilden fungierten also als ein Schutzverband gegen die Rechtspflege des Rates, dem in Verwaltungssachen Vertreter der Gilden entweder dauernd oder für wichtige Angelegenheiten beigesellt wurden, ohne deren Zuziehung nichts verfügt werden sollte. Weit mächtigere Dimensionen nahm der Schutzverband der Bürgerschaft gegen die Geschlechter in Italien an.

Der italienische Popolo war nicht nur ein ökonomischer, sondern ein politischer Begriff: eine politische Sondergemeinde innerhalb der Kommune, mit eigenen Beamten, eigenen Finanzen und eigener Militärverfassung: im eigentlichsten Wortsinn ein Staat im Staate, der erste ganz bewußt illegitime und revolutionäre politische Verband. Der Grund der Erscheinung lag in der in Italien, infolge der stärkeren Entwicklung der ökonomischen und politischen Machtmittel des Stadtadels, viel stärkeren Ansiedlung ritterlich lebender Geschlechter in den Städten selbst, von deren Folgen wir noch öfter zu reden haben werden. Der Verband des Popolo, der ihnen entgegentrat, beruhte auf der Verbrüderung von Berufsverbänden (arti oder paratici), und die dadurch gebildete Sondergemeinde führte offiziell in den ersten Fällen ihrer Entstehung (Mailand 1198, Lucca 1203, Lodi 1206, Pavia 1208, Siena 1210, Verona 1227, Bologna 1228) den Namen societas, credenza, mercadanza. communanza oder einfach popolo. Der höchste Beamte der Sondergemeinde hieß in Italien meist [capitano del popolo] (capitaneus populi), wurde kurzfristig, meist jährlich gewählt und besoldet, sehr oft nach dem Muster des Podestà der Gemeinde von auswärts herberufen und hatte dann seinen Beamtenstab mit sich zu bringen. Der Popolo stellte ihm eine meist entweder nach Stadtquartieren oder nach Zünften ausgehobene Miliz. Er residierte oft wie der Podestà der Gemeinde in einem besonderen Volkshause mit Turm, einer Festung des Popolo. Ihm zur Seite standen als besondere Organe, namentlich für die Finanzverwaltung, die Vertreter (anziani oder priori) der Zünfte nach Stadtquartieren kurzfristig gewählt. Sie beanspruchten das Recht, die Popolanen vor Gericht zu schützen, Beschlüsse der Kommunalbehörden zu beanstanden, Anträge an sie zu richten, oft einen direkten Anteil an der Gesetzgebung. Vor allem aber wirkten sie bei Beschlüssen des Popolo selbst mit. Dieser hatte, bis er zu voller Entwicklung gelangte, seine eigenen Statuten und seine eigene Steuerordnung. Zuweilen erreichte er, daß Beschlüsse der Kommune nur Geltung haben sollten, wenn auch der Popolo ihnen zugestimmt hatte, so daß neue Gesetze der Kommune in beiden Statuten zu vermerken waren. Für seine eigenen Beschlüsse erzwang er, wo immer möglich, Aufnahme in die kommunalen Statuten, in einzelnen Fällen aber erreichte er, daß die Beschlüsse des Popolo allen anderen, also auch den kommunalen Statuten vorgehen sollten (abrogent statutis omnibus et semper ultima intelligantur in Brescia). Neben die Gerichtsbarkeit des Podestà trat diejenige der mercanzia oder der domus mercatorum, welche insbesondere alle Markt- und Gewerbesachen an sich zog, also ein Sondergericht für[776] Angelegenheiten der Kaufleute und Gewerbetreibenden darstellte. Darüber hinaus gewann sie nicht selten universelle Bedeutung für die Popolanen. Der Podestà von Pisa mußte im 14. Jahrhundert schwören, daß er und seine Richter sich niemals in Streitigkeiten zwischen Popolanen einmischen würden, und zuweilen gewann der Capitan eine allgemeine konkurrierende Gerichtsbarkeit neben dem Podestà, ja in einzelnen Fällen wurde er Kassationsinstanz gegen dessen Urteile. Sehr oft erhielt er das Recht, an den Sitzungen der Kommunalbehörde kontrollierend teilzunehmen und sie zu sistieren, zuweilen die Befugnis, die Bürgerschaft der Kommune zusammenzuberufen, die Beschlüsse des Rats auszuführen, wenn der Podestà es unterließ, das Recht der Verhängung und Lösung des Bannes und die Kontrolle und Mitverwaltung der kommunalen Finanzen, vor allem der Güter der Verbannten. Dem offiziellen Range nach stand er hinter dem Podestà zurück, aber er war in Fällen wie dem zuletzt genannten ein Beamter der Kommune geworden, capitaneus populi et communis, römisch gesprochen ein collega minor, sachlich meist der Mächtigere von beiden. Er verfügte oft auch über die Truppenmacht der Kommune, zumal je mehr diese aus Soldtruppen bestand, für welche die Mittel nur durch die Steuerleistung der reichen Popolanen aufgebracht werden konnten.

Bei vollem Erfolg des Popolo war also, rein formal betrachtet, der Adel völlig negativ privilegiert. Die Aemter der Kommune waren den Popolanen zugänglich, die Aemter des Popolo dem Adel nicht. Die Popolanen waren bei Kränkungen durch die Nobili prozessual privilegiert, der Capitan und die Anzianen kontrollierten die Verwaltung der Kommune, während der Popolo unkontrolliert blieb. Die Beschlüsse des Popolo allein betrafen zuweilen die Gesamtheit der Bürger. In vielen Fällen war der Adel ausdrücklich [durch Statut] von der Teilnahme an der Verwaltung der Kommune zeitweise oder dauernd ausgeschlossen. Die bekanntesten von ihnen sind die schon erwähnten [Florentiner] Ordinamenti della giustizia des Giano della Bella von 1293. Neben den Capitan, der hier Anführer der Bürgerwehr der Zünfte war, stellte man als außerordentlichen rein politischen Beamten den auf sehr kurze Frist gewählten gonfaloniere della giustizia mit einer speziellen, jederzeit aufgebotsbereiten ausgelosten Volksmiliz von 1000 Mann, eigens für den Zweck des Schutzes der Popolanen, der Betreibung und Vollstreckung von Prozessen gegen Adlige und der Kontrolle der Innehaltung der Ordinamenti. Die politische Justiz mit offiziellem Spionagesystem und Begünstigung anonymer Anklagen, beschleunigter Inquisitionsprozedur gegen Magnaten und sehr vereinfachtem Beweis (durch »Notorietät« ) war das demokratische Gegenstück des venezianischen Prozesses vor dem Rat der Zehn. In sachlicher Hinsicht waren der Ausschluß aller ritterlich lebenden Familien von den Aemtern, ihre Verpflichtung zur Wohlverhaltensbürgschaft, die Haftung des ganzen Geschlechts für jedes Mitglied, besondere Strafgesetze gegen politische Vergehen der Magnaten, speziell für Beleidigung der Ehre eines Popolanen, das Verbot des Erwerbs von unbeweglichem Gut, an welches ein Popolane angrenzte, ohne dessen Zustimmung, wohl die einschneidendsten. Die Garantie der Herrschaft des Popolo übernahm interlokal die Parte Guelfa, deren Parteistatut als Teil der Stadtstatuten behandelt wurde. Niemand, der nicht bei der Partei eingeschrieben war, durfte in ein Amt gewählt werden. Ueber die Machtmittel der Partei wurde schon gesprochen. Schon diese Garantie durch eine wesentlich auf ritterliche Streitkräfte gestützte Parteiorganisation läßt vermuten, daß auch durch die Ordinamenti die soziale und ökonomische Macht der Geschlechter nicht wirklich beseitigt wurde. In der Tat: schon ein Jahrzehnt nach dem Erlaß dieser von zahlreichen toskanischen Städten übernommenen Florentiner Klassengesetze standen die Geschlechterfehden wieder in Blüte, und dauernd blieben kleine plutokratische Gruppen im Besitz der Macht. Selbst die Aemter des Popolo wurden fast immer mit Adligen besetzt, denn Adelsgeschlechter konnten unter die Popolanen ausdrücklich aufgenommen werden. Der wörtliche Verzicht auf ritterliche Lebensführung war nur teilweise effektiv. Im wesentlichen hatte man nur politische Obödienz zu garantieren und sich in eine[777] Zunft einschreiben zu lassen. Der soziale Effekt war wesentlich eine gewisse Verschmelzung der stadtsässigen Geschlechter mit dem »popolo grasso«, den Schichten mit Universitätsbildung oder Kapitalbesitz: denn jene 7 oberen Zünfte, welche die Richter [und] Notare, Wechsler, Händler in fremden Tuchen, Händler in Florentiner Wolltuchen, Seidenhändler, Aerzte [und] Spezereihändler, Pelzhändler umfaßten, führten jenen Namen. Aus diesen oberen Zünften, in welche die Adligen eintraten, mußten ursprünglich alle Beamten der Stadt gewählt werden. Erst mehrere weitere Revolten beteiligten schließlich 14 arti minori des popolo minuto, d.h. der gewerblichen Kleinunternehmer, formell an der Gewalt. Nicht diesen 14 Zünften angehörige Handwerkerschichten haben nur ganz vorübergehend, nach der Revolte der Ciompi (1378), Anteil am Regiment und überhaupt eine selbständige zünftige Organisation errungen. Nur in wenigen Orten und zeitweise ist es den Kleinbürgern, wie in Perugia 1378, gelungen durchzusetzen: daß außer den Nobili auch der Popolo grasso rechtlich von der Beteiligung am Priorenrat ausgeschlossen blieb. Es ist charakteristisch, daß diese unteren besitzlosen Schichten des gewerblichen Bürgertums sich bei ihrem Angriff auf die Herrschaft des Popolo grasso regelmäßig der Unterstützung der Nobili erfreuten, ganz ebenso wie später die Tyrannis mit Hilfe der Massen begründet wurde und wie vielfach schon im 13. Jahrhundert der Adel und diese Unterschichten gegen den Ansturm des Bürgertums zusammengestanden hatten. Ob und wie stark dies der Fall war, hing von ökonomischen Momenten ab. Die Interessengegensätze der kleinen Handwerker konnten bei entwickeltem Verlagssystem sehr schroff mit denen der Unternehmerzünfte kollidieren. In Perugia z.B. schritt die Entwicklung des Verlages so schnell voran, daß 1437 ein Einzelunternehmer neben 28 filatori auch 176 filatrici in Nahrung setzte (wie Graf Broglio d'Ajano nachweist). Die Lage der verlegten Kleinhandwerker war oft prekär und unstet. Auswärtige Arbeiter und tageweise Miete finden sich, und die Unternehmerzünfte suchten die Verlagsbedingungen ihrerseits ebenso einseitig zu reglementieren wie die Zünfte der verlegten Handwerker (so die cimatori in Perugia) die Lohnunterbietung verboten. Ganz naturgemäß erwarteten diese Schichten von der Regierung der Oberzünfte nichts. Aber zur politischen Herrschaft sind sie auf die Dauer nirgends gelangt. Die proletarische Schicht der wandernden Handwerksburschen vollends liegt überall ganz außerhalb jeder Beziehung zur Stadtverwaltung. Erst mit der Beteiligung der unteren Zünfte kam überhaupt ein wenigstens relativ demokratisches Element in die Räte der Städte hinein. Ihr faktischer Einfluß blieb trotzdem normalerweise gering. Die allen italienischen Kommunen gemeinsame Gepflogenheit, für die Wahlen der Beamten besondere Komitees zu bilden, sollte die politische Verantwortung der (in der modernen europäischen Demokratie unverantwortlichen und oft anonymen) Wahlleiter [festlegen] und die Demagogie unterbinden. Sie ermöglichte eine planmäßige Auslese und einheitliche Zusammenfassung der jeweilig amtierenden Räte und Beamten, konnte aber normalerweise nur auf einen Kompromiß der sozial einflußreichen Familien hinauslaufen und vor allem die finanziell ausschlaggebenden Schichten nicht ignorieren. Nur in Zeiten der Konkurrenz verschiedener gleich mächtiger Familien um die Macht oder religiöser Erregungen hat die »öffentliche Meinung« positiven Einfluß auf die Zusammensetzung der Behörden gehabt. Den Medici ist die Beherrschung der Stadt ohne alle eigene amtliche Stellung lediglich durch Einfluß und systematische Wahlbeeinflussung gelungen.

Die Erfolge des Popolo wurden nicht ohne heftige und oft blutige und dauernde Kämpfe erreicht. Der Adel wich aus der Stadt und befehdete sie von seinen Burgen aus. Die Bürgerheere brachen die Burgen, und die Gesetzgebung der Städte sprengte die traditionelle grundherrliche Verfassung des Landes zuweilen durch planmäßige Bauernbefreiung. Die nötigen Machtmittel zur Niederwerfung des Adels aber gewann der Popolo durch die anerkannten Organisationen der Zünfte. Die Zünfte waren von seiten der Kommunen von Anfang an für Verwaltungszwecke benutzt worden. Man hatte die Gewerbetreibenden teils für den Festungswachdienst, zunehmend[778] aber auch für den Felddienst zu Fuß nach Zünften aufgeboten. Finanziell war mit dem Fortschritt der Kriegstechnik vor allem die Hilfe der Unternehmerzünfte zunehmend unentbehrlich geworden. Einen intellektuellen und verwaltungstechnischen Rückhalt aber gaben die Juristen, vor allem die Notare, vielfach auch die Richter und die ihnen nahestehenden fachgelehrten Berufe der Aerzte und Apotheker. Diese in den Kommunen regelmäßig zünftig organisierten intellektuellen Schichten gehörten überall führend zum Popolo und spielten eine ähnliche Rolle wie in Frankreich innerhalb des tiers état die Advokaten und andere Juristen; die ersten Volkscapitane waren regelmäßig vorher Vorsteher einer Zunft oder eines Verbandes von solchen gewesen. Die Mercadanza namentlich, ein zunächst unpolitischer Verband der Handels- und Gewerbetreibenden (denn mercatores bezeichnete auch hier, wie E. Salzer mit Recht betont hat, alle städtischen Gewerbetreibenden und Händler), war die normale Vorstufe der politischen Organisation des Popolo, ihr Vorsteher, der Podestà mercatorum, oft der erste Volkscapitan. Die ganze Entwicklung des Popolo aber bewegte sich zunächst in der Richtung eines organisierten Schutzes der Interessen der Popolanen vor den Gerichten und kommunalen Körperschaften und Behörden. Ausgangspunkt der Bewegung war regelmäßig die oft sehr weitgehende faktische Rechtsverweigerung gegenüber Nichtadligen. Nicht nur in Deutschland (wie für Straßburg überliefert) war es häufig, daß Lieferanten und Handwerker statt der geforderten Zahlung mit Prügeln bedacht wurden und dann kein Recht fanden. Noch mehr aber wirkten anscheinend die persönlichen Beschimpfungen und Bedrohungen von Popolanen durch den militärisch überlegenen Adel, welche überall immer erneut noch ein Jahrhundert nach der Bildung des Sonderverbandes wiederkehren. Das soziale Standesgefühl der Ritterschaft und das naturgemäße Ressentiment des Bürgertums stießen aufeinander. Die Entwicklung des Volkscapitanats knüpfte daher an eine Art von tribunizischem Hilfs- und Kontrollrecht gegenüber den Kommunalbehörden an, entwickelte sich von hier aus zur Kassationsinstanz und schließlich zu einer koordinierten universellen Amtsgewalt. Begünstigt wurde der Aufstieg des Popolo durch die Geschlechterfehden, welche eine Schädigung ökonomischer Interessen der Bürger und oft den ersten Anlaß des Eingreifens ihrer Beamten bedeuteten. Dazu trat der Ehrgeiz einzelner Adliger, mit Hilfe des Popolo zu einer Tyrannis zu gelangen. Ueberall lebte der Adel in steter Besorgnis vor solchen Gelüsten. Ueberall aber gab die Gespaltenheit des Adels dem Popolo die Möglichkeit, militärische Machtmittel eines Teiles der Ritterschaft in seine Dienste zu stellen. – Rein militärisch angesehen, war es die sich verbreitende Bedeutung der Infanterie, welche gegenüber der Ritterkavallerie hier erstmalig ihre Schatten vorauswarf. In Verbindung mit den Anfängen rationaler militärischer Technik: in den Florentiner Heeren des 14. Jahrhunderts finden sich erstmalig die »Bombarden«, die Vorläufer der modernen Artillerie, erwähnt.

Aeußerlich sehr ähnlich war nun in der Antike die Entwicklung des Demos und der Plebs. Vor allem in Rom, wo ganz entsprechend der Sondergemeinde des Popolo die Sondergemeinde der Plebs mit ihren Beamten entstand. Die Tribunen waren ursprünglich gewählte Vorsteher der nichtadligen Bürgerschaft der vier Stadtbezirke, die Aedilen, wie Ed. Meyer annehmen möchte, Verwalter des kultgenossenschaftlichen Heiligtums und zugleich Schatzhauses der nicht adligen Bürgerschaft und im Zusammenhang damit Schatzmeister der Plebs. Die Plebs selbst konstituierte sich als eine Schwurverbrüderung, welche jeden niederzuschlagen gelobte, der ihren Tribunen bei der Wahrnehmung der Interessen der Plebejer in den Weg treten würde: dies bedeutete es, wenn der Tribun als sacro sanctus bezeichnet wurde im Gegensatz zu den legitimen Beamten der römischen Gemeinde, ganz ebenso wie dem italienischen Volkscapitan normalerweise das dei gratia fehlte, welches die Beamten mit legitimer Gewalt, die consules, ihrem Namen noch beizusetzen pflegten.

Ebenso fehlte dem Tribunen die legitime Amtsgewalt und deren Merkmal: der[779] Verkehr mit den Göttern der Gemeinde, die Auspicia, ebenso das wichtigste Attribut des legitimen imperium: die legitime Strafgewalt, an deren Stelle er als Haupt der Plebs die Macht besaß, bei handfester Tat gegen jedermann, der ihn in seinen Amtshandlungen behinderte, eine Art von Lynchjustiz ohne Verfahren und Urteil durch Festnahme und Herabstürzen vom Tarpejischen Felsen zu vollziehen. Wie beim Capitan und den Anzianen, so entwickelte sich auch bei ihm seine spätere Amtsgewalt aus dem Recht, bei Amtshandlungen der Magistrate für Plebejer einzutreten und die Handlung zu inhibieren. Dieses Interzessionsrecht, das allgemeine negative Attribut der römischen Beamten gegen jede gleiche oder niedrigere Amtsgewalt, war seine primäre Befugnis. Ganz wie beim Capitan entwickelte sich seine Macht von hier aus zu einer allgemeinen Kassationsinstanz und damit zur faktisch höchsten Gewalt innerhalb des städtischen Friedensbezirkes. Im Felde hatte der Tribun nichts zu sagen, hier herrschte das Kommando des Feldherrn unbeschränkt. Diese Beschränkung auf die Stadt im Gegensatz zu den alten Amtsgewalten ist für den spezifisch bürgerlichen Ursprung des Tribunen charakteristisch. Kraft dieser Kassationsgewalt allein haben die Tribunen alle politischen Errungenschaften der Plebs durchgesetzt: das Provokationsrecht gegen Kriminalurteile, die Milderung des Schuldrechts, die Rechtsprechung an den Markttagen im Interesse des Landvolks, die gleichmäßige Beteiligung an den Aemtern, zuletzt auch an den Priesterämtern und am Rat und schließlich auch die in italienischen Kommunen gelegentlich erreichte, in Rom durch die letzte Sezession der Plebs durchgesetzte Bestimmung des hortensischen Plebiszites: daß die Beschlüsse der Plebs die ganze Gemeinde binden sollten, im Resultat also die gleiche formale Zurücksetzung der Geschlechter wie im mittelalterlichen Italien. Nach diesem Austrag der älteren Ständekämpfe tritt die politische Bedeutung des Tribunats weit zurück. Ebenso wie der Capitan wurde jetzt der Tribun ein Beamter der Gemeinde, einrangiert sogar in die sich entwickelnde Aemterlaufbahn, nur gewählt von den Plebejern allein, deren historische Scheidung vom Patriziat praktisch fast bedeutungslos wurde und der Entwicklung des Amts- und Vermögensadels (Nobilität und Ritter) Platz machte. In den nun entstehenden Klassenkämpfen traten die alten politischen Befugnisse erst seit der Gracchenzeit noch einmal mächtig hervor als Mittel im Dienst der politischen Reformer und der ökonomischen Klassenbewegung der dem Amtsadel feindlichen politisch deklassierten Bürgerschaft. Dies Wiederaufleben führte dazu, daß schließlich die tribunizische Gewalt neben dem militärischen Kommando das lebenslängliche amtliche Attribut des Prinzeps wurde. Diese immerhin frappanten Aehnlichkeiten der mittelalterlichen italienischen mit der altrömischen Entwicklung finden sich trotz politisch, sozial und ökonomisch grundstürzender Unterschiede, von denen bald zu reden sein wird. Es stehen eben nicht beliebig viele verschiedene verwaltungstechnische Formen für die Regulierung von Ständekompromissen innerhalb einer Stadt zur Verfügung, und Gleichheiten der politischen Verwaltungsform dürfen daher nicht als gleiche Ueberbauten über gleiche ökonomische Grundlagen gedeutet werden, sondern haben ihre Eigengesetzlichkeit. Wir fragen nun noch: ob diese römische Entwicklung innerhalb der Antike selbst gar keine Parallele habe. Eine politische Sonderverbandsbildung wie die Plebs und der italienische Popolo findet sich sonst, soviel bekannt, in der Antike nicht. Wohl aber [finden sich] Erscheinungen innerlich verwandten Charakters. Schon im Altertum (Cicero) hat man die spartiatischen Ephoren als eine solche Parallelerscheinung angesprochen. Dies will freilich richtig verstanden werden.

Die Ephoren (Aufseher) waren, im Gegensatz zu den legitimen Königen, Jahresbeamte, und zwar wurden sie, wie die Tribunen, durch die 5 lokalen Phylen der Spartiaten, nicht durch die gentilizischen 3 Phylen gewählt. Sie beriefen die Bürgerversammlung, hatten in Zivilsachen und (vielleicht nicht unbeschränkt) in Kriminalsachen die Gerichtsbarkeit, forderten selbst die Könige vor ihren Stuhl, zwangen Beamte zur Rechenschaftsablage und suspendierten sie, hatten die Verwaltung in[780] der Hand und besaßen zusammen mit dem gewählten Rat der Gerusía innerhalb der spartanischen Gebiete faktisch die höchste politische Gewalt. Im Stadtgebiet waren die Könige auf Ehrenvorrechte und rein persönlichen Einfluß beschränkt, während im Kriege umgekehrt in ihren Händen die volle, in Sparta sehr strenge Disziplinargewalt ruhte. Wohl erst der Spätzeit gehört es an, daß Ephoren die Könige auch in den Krieg begleiteten. Nicht gegen die Qualität der Ephoren als einer tribunizischen Gewalt spricht, daß sie ursprünglich, angeblich noch nach dem ersten messenischen Kriege, vielleicht einmal von den Königen bestellt worden waren. Denn es ist sehr wohl möglich, daß dies ursprünglich auch für die Tribusvorsteher galt. Und ebenso auch nicht die allerdings gewichtigere Tatsache: daß die den Tribunen charakteristische und ihnen mit den mittelalterlichen Volkscapitanen gemeinsame Interzessionsfunktion bei den Ephoren fehlt. Denn nicht nur ist überliefert, daß sie dem Sinn ihrer Stellung nach ursprünglich die Bürger gegen die Könige zu schützen hatten. Sondern das spätere Fehlen dieser Funktion erklärt sich aus dem unbedingten Siege des spartanischen Demos über seine Gegner und daraus, daß er selbst sich in eine das ganze Land beherrschende, ursprünglich plebejische, später tatsächlich oligarchische Herrscherklasse verwandelt hatte. Ein Adel war in Sparta in historischer Zeit unbekannt. So bedingungslos die Polis ihre Herrenstellung über die Heloten, denen jährlich feierlich »der Krieg erklärt« wurde, um ihre Entrechtung religiös zu motivieren, und ebenso ihre politische Monopolstellung gegen die außerhalb des Wehrverbandes stehenden Periöken wahrte, so unbedingt herrschte nach innen, prinzipiell wenigstens, unter den Vollbürgern die soziale Gleichheit, beides gleichmäßig durch das an Venedig erinnernde Spionagesystem (krypteía) aufrechterhalten. Die Lakedämonier zuerst hatten nach der Tradition die gesonderte adlige Lebensführung in der Tracht beseitigt, die also vorher bestanden hat. Daß dies und die strenge Einschränkung der Königsgewalt Folge eines Kampfes und Kompromisses gewesen war, scheinen die gegenseitig ausgetauschten Eide der Könige und Ephoren, eine Art periodisch erneuerten Verfassungsvertrages, überzeugend zu beweisen. Bedenken erregt nur: daß die Ephoren anscheinend einzelne religiöse Funktionen versahen. Aber sie waren eben noch mehr als die Tribunen legitime Gemeindebeamte geworden. Die entscheidenden Züge der spartanischen Polis machen viel zu sehr den Eindruck einer rationalen Schöpfung, um als Reste uralter Institutionen zu gelten.

In den übrigen hellenischen Gemeinden findet sich eine Parallele nicht. Ueberall dagegen finden wir eine demokratische Bewegung der nichtadligen Bürger gegen die Geschlechter und in einem der Zahl nach überwiegenden Bruchteile zeitweilige und dauernde Beseitigung der Geschlechterherrschaft. Wie im Mittelalter bedeutete diese weder die Gleichstellung aller Bürger in bezug auf Amts-, Ratsfähigkeit und Stimmrecht, noch auch nur die Aufnahme aller persönlich freien und siedlungsberechtigten Familien in den Bürgerverband. Dem Bürgerverband gehörten, im Gegensatz zu Rom, die Freigelassenen überhaupt nicht an. Die Gleichstellung der Bürger aber war durch Abstufung des Stimmrechts und der Amtsfähigkeit, anfänglich nach Grundrenten und Wehrfähigkeit, später nach Vermögen, durchbrochen. Diese Abstufung ist auch in Athen rechtlich niemals ganz beseitigt worden, ebensowenig wie die besitzlosen Schichten in den mittelalterlichen Städten irgendwo dauernd zu gleichem Recht mit dem Mittelstand gelangten.

Das Stimmrecht in der Volksversammlung wurde entweder allen den Demoi angeschlossenen, in den Wehrverband einer Phratrie eingeschriebenen Grundbesitzern – dies war das erste Stadium der »Demokratie« – oder auch den Besitzern anderer Vermögensobjekte gegeben. Entscheidend war zunächst die Fähigkeit zur infanteristischen Selbstausrüstung für das Hoplitenheer, mit dessen Aufstieg diese Umwälzung verknüpft war. Wir werden bald sehen, daß die bloße Abstufung des Stimmrechts keineswegs das wichtigste Mittel war, diesen Effekt zu erreichen. Wie im Mittelalter konnte die formale Zusammensetzung der Bürgerversammlung geordnet[781] sein, wie sie wollte, und ihre formale Kompetenz noch so ausgiebig bemessen sein, ohne daß doch die soziale Machtstellung der Besitzenden dadurch endgültig vernichtet worden wäre. In ihren Ergebnissen führte die Bewegung des Demos im Verlauf der Entwicklung zu untereinander verschiedenartiger Gestaltung. Der nächste und in manchen Fällen dauernde Erfolg war die Entstehung einer Demokratie äußerlich ähnlicher Art, wie sie auch in zahlreichen italienischen Kommunen auftrat. Die vermögendste Schicht der nichtadligen Bürger, nach irgendeinem Zensus eingeschätzt, im wesentlichen Besitzer von Geld, von Sklaven, Ergasterien, Schiffen, Handels- und Leihkapitalien, gewann Anteil an Rat und Aemtern neben den wesentlich auf Grundbesitz gestützten Geschlechtern. Die Masse der Kleingewerbetreibenden, Kleinhändler und Minderbesitzer überhaupt blieb dann von den Aemtern rechtlich oder infolge ihrer Unabkömmlichkeit faktisch ausgeschlossen, – oder die Demokratisierung ging weiter und legte im Ergebnis gerade diesen letztgenannten Schichten die Macht in die Hände. Damit dies geschehen konnte, mußten aber Mittel gefunden werden, die ökonomische Unabkömmlichkeit dieser Schichten zu beheben, wie dies in Gestalt von Tagegeldern geschah, und der Aemterzensus mußte herabgesetzt werden. Dies und die faktische Nichtbeachtung der Klassenabstufung des Demos war aber nur der erst im 4. Jahrhundert erreichte Endzustand der attischen Demokratie. Er trat erst ein, als die militärische Bedeutung des Hoplitenheeres fortgefallen war.

Die wirklich wichtige Folge des ganzen oder teilweisen Sieges der Nichtadligen für die Struktur des politischen Verbandes und seiner Verwaltung beruhte in der ganzen Antike in folgendem:

1. bedeutete er die zunehmende Durchführung des Anstaltscharakters des politischen Verbandes. Einmal in Gestalt der Durchführung des Ortsgemeindeprinzips. Wie im Mittelalter für die Masse der Stadtbürger schon unter der Geschlechterherrschaft die Einteilung in örtliche Stadtbezirke gegolten hatte und der Popolo seine Beamten wenigstens teilweise nach Stadtvierteln wählte, so hatte auch die antike Geschlechterstadt für die nichtadligen Plebejer, vor allem für die Fronden- und Lastenverteilung, örtliche Bezirke gekannt: In Rom, neben den 3 alten, persönlichen, aus Sippen und Kurien zusammengesetzten Tribus, 4 ebenso genannte rein lokale städtische Bezirke, denen mit dem Siege der Plebs die Landtribus zur Seite traten, in Sparta neben den alten 3 persönlichen Phylen die 4, später 5 lokalen Phylen. Im Bereich der eigentlichen Demokratie aber war der Sieg der Demokratie identisch mit dem Uebergang zum »Demos«, dem örtlichen Bezirk, als Unterabteilung des ganzen Gebietes und Grundlage aller Rechte und Pflichten in der Polis. Wir werden die praktische Bedeutung dieser Wandlung bald zu betrachten haben. Ihre Folge aber war die Behandlung der Polis nicht mehr als einer Verbrüderung von Wehr- und Geschlechterverbänden, sondern als einer anstaltsmäßigen Gebietskörperschaft. Anstaltsmäßig wurde sie ferner auch durch die Aenderung der Auffassung von der Natur des Rechts. Das Recht wurde Anstaltsrecht für die Bürger und Insassen des Stadtgebiets als solcher – mit welchen Rückständen, sahen wir früher –, und es wurde zugleich zunehmend rational gesatztes Recht. An Stelle der irrationalen charismatischen Judikatur trat das Gesetz. Parallel mit der Beseitigung der Geschlechterherrschaft begann die Gesetzgebung. Zunächst hatte sie noch die Form charismatischer Satzung durch Aisymneten. Dann aber erwuchs die ständige, schließlich dauernd im Fluß befindliche Schaffung neuen Rechts durch die Ekklesía und die rein weltliche, an Gesetze oder, in Rom, an magistratische Instruktionen gebundene Rechtspflege. In Athen wurde schließlich alljährlich die Frage an das Volk gerichtet: ob die bestehenden Gesetze erhalten oder geändert werden sollten. So sehr verstand es sich jetzt von selbst, daß das geltende Recht etwas künstlich zu Schaffendes sei und sein müsse und auf der Zustimmung derjenigen beruhe, für die es gelten solle. In der klassischen Demokratie freilich, z.B. in Athen im 5. und 4. Jahrhundert, war diese Auffassung noch nicht unbedingt herrschend. Nicht jeder Beschluß[782] (pséphisma) des Demos war ein Gesetz (nómos), auch dann nicht, wenn er generelle Regeln aufstellte. Es gab gesetzwidrige Beschlüsse des Demos, und diese waren dann vor dem Geschworenengericht (heliaía) durch jeden Bürger anfechtbar. Ein Gesetz ging (wenigstens damals) nicht aus Beschlüssen des Demos hervor. Sondern auf Grund des Gesetzesantrags eines Bürgers wurde vor einem besonderen Geschworenenkollegium (den Nomotheten) in der Form eines Rechtsstreites darüber verhandelt: ob das alte oder das neu vorgeschlagene Recht zu gelten habe; ein eigenartiger Rest der alten Auffassung vom Wesen des Rechts, welcher erst spät schwand. Den ersten entscheidenden Schritt aber zu der Auffassung des Rechts als einer rationalen Schöpfung bedeutete in Athen die Abschaffung der religiösen und adligen Kassationsinstanz: des Areiopag, durch das Gesetz des Ephialtes.

2. Die Entwicklung zur Demokratie führte eine Umgestaltung der Verwaltung herbei. An Stelle der kraft Gentil- oder Amtscharisma herrschenden Honoratioren traten kurzfristig gewählte oder erloste verantwortliche und zuweilen absetzbare Funktionäre des Demos oder auch unmittelbar Abteilungen dieses letzteren selbst. Jene Funktionäre waren Beamte, aber nicht im modernen Sinne des Wortes. Sie bezogen lediglich mäßige Aufwandsentschädigungen oder wie die erlosten Geschworenen Tagegelder. Dies, die Kurzfristigkeit des Amts, und das sehr häufige Verbot der Wiederwahl schloß die Entstehung des Berufscharakters im Sinne des modernen Beamtentums aus. Es fehlten Aemterlaufbahn und Standesehre. Die Erledigung der Geschäfte erfolgte als Gelegenheitsamt. Sie nahm bei der Mehrzahl der Beamten nicht die volle Arbeitskraft in Anspruch, und die Einnahmen waren auch für Unbemittelte nur ein, für diese allerdings begehrenswerter, Nebenerwerb. Die großen politischen Amtsstellungen freilich, vor allem die militärischen, nahmen die Arbeitskraft voll in Anspruch, konnten aber eben deshalb auch nur von Vermögenden versehen werden, und für die Finanzbeamten war in Athen statt unserer Amtskautionen ein hoher Zensus vorgesehen. Diese Stellungen aber waren der Sache nach Ehrenämter. Der eigentliche Leiter der Politik, den die voll durchgeführte Demokratie schuf: der Demagoge, war formal im perikleischen Athen regelmäßig der leitende Militärbeamte. Aber seine wirkliche Machtstellung beruhte nicht auf Gesetz oder Amt, sondern durchaus auf persönlichem Einfluß und Vertrauen des Demos. Sie war also nicht nur nicht legitim, sondern nicht einmal legal, obwohl die ganze Verfassung der Demokratie auf sein Vorhandensein ebenso zugeschnitten war wie etwa die moderne Verfassung Englands auf die Existenz des gleichfalls nicht kraft gesetzlicher Kompetenz regierenden Kabinetts. Dem ebenfalls nie gesetzlich festgelegten Mißtrauensvotum des englischen Parlaments entsprach in anderen Formen die Anklage gegen die Demagogen wegen Mißleitung des Demos. Der durch das Los zusammengesetzte Rat wurde jetzt ebenfalls ein einfacher geschäftsführender Ausschuß des Demos, verlor die Gerichtsbarkeit, hatte dagegen die Vorberatung der Volksbeschlüsse (durch Probúleuma) und die Finanzkontrolle in der Hand.

In den mittelalterlichen Städten hatte die Durchführung der Herrschaft des Popolo ähnliche Konsequenzen. Massenhafte Redaktionen von Stadtrechten, Kodifikation des bürgerlichen und Prozeßrechtes, eine wahre Ueberflutung mit Statuten aller Art auf der einen Seite, auf der anderen eine ebenso große Ueberflutung mit Beamten, von denen man selbst in kleineren Städten Deutschlands zuweilen 4-5 Dutzend Kategorien zählte. Und zwar neben dem Kanzlei- und Büttelpersonal auf der einen und den Bürgermeistern auf der anderen Seite eine ganze Schar spezialisierter Funktionäre, welche lediglich gelegenheitsamtlich tätig wurden und für welche die Amtseinkünfte, dem Schwerpunkt nach Sporteln, nur einen begehrenswerten Nebenerwerb bildeten. Den antiken wie den mittelalterlichen Städten, wenigstens den Großstädten, gemeinsam war ferner die Erscheinung, daß zahlreiche Angelegenheiten, welche heute in gewählten Repräsentantenversammlungen behandelt zu werden pflegen, durch gewählte oder erloste Spezialkollegien erledigt wurden. So in der hellenischen Antike die Gesetzgebung, daneben[783] aber auch andere politische Geschäfte, in Athen z.B. die Eidesleistung bei Bundesverträgen und die Verteilung der Bundesgenossentribute. Im Mittelalter sehr oft die Wahl sowohl von Beamten, und zwar gerade der wichtigsten, ebenso aber zuweilen die Zusammensetzung der wichtigsten beschließenden Kollegien. Dies ist eine Art von Ersatz für das moderne Repräsentativsystem, welches, in moderner Form, damals nicht existierte. »Repräsentanten« gab es, dem überkommenen ständischen und Privilegiencharakter aller politischen Rechte entsprechend, nur als Vertreter von Verbandseinheiten, in der antiken Demokratie von kultisch oder staatlich, eventuell bundesstaatlich, zusammengeschlossenen Gemeinschaften, im Mittelalter von Zünften und anderen Korporationen. Nur Sonderrechte von Verbänden wurden »vertreten«, nicht aber: eine wechselnde »Wählerschaft« eines Bezirks, wie im modernen Parlament.

Den antiken wie den mittelalterlichen Städten gemeinsam ist endlich auch das Auftreten der Stadttyrannis oder doch der Versuche zur Errichtung einer solchen. Zwar war sie in beiden Fällen eine lokal beschränkte Erscheinung. Im hellenischen Mutterland ergriff sie im 7. und 6. Jahrhundert nacheinander eine Reihe von großen Städten, darunter Athen, hat aber nur wenige Generationen bestanden. Die Stadtfreiheit ging hier im allgemeinen erst durch Unterwerfung von seiten überlegener Militärmächte zugrunde. Dagegen war ihre Verbreitung im Kolonialgebiet: in Kleinasien, vor allem aber in Sizilien, dauerhafter und teilweise die definitive Form des Stadtstaates bis zu dessen Untergang. Die Tyrannis war überall Produkt des Ständekampfes. Vereinzelt, so in Syrakus, scheinen die vom Demos bedrängten Geschlechter einem Tyrannen zur Herrschaft verholfen zu haben. Im ganzen aber waren es Teile des Mittelstandes und der von den Geschlechtern Bewucherten, auf die er sich stützte, und seine Gegner die Geschlechter, die er verbannte, deren Güter er konfiszierte und die seinen Sturz betrieben. Der typische antike Klassengegensatz: die stadtsässigen wehrhaften Patrizier als Geldgeber, die Bauern als Schuldner, wie er bei den Israeliten und in Mesopotamien ganz ebenso bestand wie in der griechischen und italischen Welt, kam darin zur Geltung. In Babylon ist das platte Land fast ganz in den Besitz der Patrizier gelangt, deren Kolonen die Bauern geworden waren. In Israel war die Schuldknechtschaft Gegenstand der Regelung im »Bundesbuch«. Alle Usurpatoren von Abimelech bis Judas Makkabäus stützten sich auf flüchtige Schuldknechte, die Verheißung des Deuteronomiums geht dahin: daß Israel »Jedermann leihen«, d.h. daß die Bürger Jerusalems Schuldherren und Patrizier, die anderen aber ihre Schuldknechte und Bauern sein werden. Aehnlich lagen die Klassengegensätze in Hellas und Rom. Die einmal an der Macht befindliche Tyrannis hat in der Regel die kleinen Bauern, eine mit ihnen politisch verbündete Koterie des Adels und Teile der städtischen Mittelklassen für sich gehabt. In der Regel stützte sie sich auf Leibwachen, deren Bewilligung für den Volksführer durch die Bürgerschaft hier (z.B. bei Peisístratos) ebenso wie beim Volkscapitan des Mittelalters meist der erste Schritt war, und Söldner. In sachlicher Hinsicht betrieb sie sehr oft eine ähnliche ständische Ausgleichspolitik wie die der »Aisym neten« (Charondas, Solon). Zwischen der Neuordnung des Staats und Rechtes durch diese und der Erhebung eines Tyrannen bestand augenscheinlich oft eine Alternative. Die soziale und ökonomische Politik sowohl der einen wie der anderen sucht, wenigstens im Mutterlande, den Verkauf von Bauernland an den stadtsässigen Adel und die Zuwanderung der Bauern in die Stadt zu verhindern, hie und da den Sklavenankauf, den Luxus, den Zwischenhandel, die Getreideausfuhr zu beschränken, alles Maßregeln, welche wesentlich eine kleinbürgerliche, »stadtwirtschaftliche« Politik bedeuteten entsprechend der »Stadtwirtschaftspolitik« der mittelalterlichen Städte, von der wir noch zu sprechen haben werden.

Ueberall fühlten sich die Tyrannen und galten sie als spezifisch illegitime Herren. Dies unterschied ihre ganze Stellung, die religiöse wie die politische, vom[784] alten Stadtkönigtum. Regelmäßig waren sie Beförderer neuer emotionaler Kulte, so namentlich des Dionysoskults, im Gegensatz zu den ritualistischen Kulten des Adels. In aller Regel suchten sie die äußeren Formen einer kommunalen Verfassung, also den Anspruch der Legalität, zu wahren. Regelmäßig hinterließ ihr Regiment bei seinem Sturze die Geschlechter geschwächt und daher genötigt, die nur durch Mithilfe der Nichtadligen mögliche Vertreibung des Tyrannen durch weitgehende Konzessionen an den Demos zu erkaufen. Die kleisthenische Mittelstandsdemokratie schloß sich an die Vertreibung der Peisistratiden an. Stellenweise hat freilich auch eine Kaufmannsplutokratie die Tyrannen abgelöst. Im Effekt wirkte diese Tyrannis, welche durch ökonomische Klassengegensätze begünstigt war, wenigstens im Mutterland im Sinne des timokratischen oder demokratischen Ständeausgleichs, dessen Vorläufer sie häufig war. Die gelungenen oder mißlungenen Versuche der Errichtung einer Tyrannis in der hellenischen Spätzeit dagegen wuchsen aus der Eroberungspolitik des Demos heraus. Sie hingen mit dessen später zu besprechenden militärischen Interessen zusammen. Siegreiche Heerführer wie Alkibiades und Lysandros erstrebten sie. Im hellenischen Mutterland blieben diese Versuche bis in die hellenistische Zeit erfolglos und zerfielen auch die militärischen Reichsbildungen des Demos aus später zu erörternden Gründen. In Sizilien dagegen wurde sowohl die alte expansive Seepolitik im tyrrhenischen Meer wie später die nationale Verteidigung gegen Karthago von Tyrannen geführt, welche auf Soldheere neben den Bürgeraufgeboten gestützt, mit äußerst rücksichtslosen Maßregeln orientalischen Gepräges: massenhaften Zwangseinbürgerungen von Söldnern und Umsiedlungen unterworferner Bürgerschaften, eine interlokale Militärmonarchie schufen. Rom endlich, wo in altrepublikanischer Zeit die Anläufe zur Tyrannis gescheitert waren, verfiel im Gefolge der Eroberungspolitik aus sozialen und politischen Gründen der Militärmonarchie von innen heraus, wovon ebenfalls gesondert zu sprechen sein wird.

Im Mittelalter blieb die Stadttyrannis wesentlich, wenn auch nicht ganz, auf Italien beschränkt. Die italienische Signorie, auf welche Eduard Meyer als Parallele der antiken Tyrannis hinweist, hat mit dieser das gemein: daß sie überwiegend in der Hand einer begüterten Familie und im Gegensatz gegen die eigenen Standesgenossen entstand, daß sie ferner, als erste politische Macht in Westeuropa, eine rationale Verwaltung mit (zunehmend) ernannten Beamten durchführte, und daß sie dabei doch meist gewisse Formen der übernommenen kommunalen Verfassung aufrechterhielt. Aber im übrigen treten hier wichtige Unterschiede zutage. Namentlich insofern, als sich zwar das direkte Herauswachsen einer Signorie aus dem Ständekampf häufig findet, oft aber auch die Signorie erst am Ende der Entwicklung nach dem Siege des Popolo und zuweilen erst erhebliche Zeit nachher entstand. Ferner darin, daß sie meist aus den legalen Aemtern des Popolo heraus sich entwickelte, während in der hellenischen Antike gerade die Stadttyrannis nur eine der Zwischenerscheinungen zwischen der Geschlechterherrschaft und der Timokratie oder Demokratie darstellte. Die formale Entwicklung der Signo rien vollzog sich verschieden, wie namentlich E. Salzer gut dargelegt hat. Eine ganze Reihe von Signorien entstand ganz direkt als Produkt der Revolten des Popolo aus den neuen Popolanenämtern. Der Volkscapitan oder der Podestà der Mercadanza oder auch der Podestà der Kommune wurden vom Popolo auf zunehmend längere Amtsfristen oder auch auf Lebenszeit gewählt. Solche langfristigen höchsten Beamten finden sich schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Piacenza, Parma, Lodi, Mailand. In der letztgenannten Stadt wurde die Herrschaft der Visconti ebenso wie die der Scaliger in Verona und der Este in Modena schon Ende des 13. Jahrhunderts faktisch erblich. Neben der Entwicklung zur Lebenslänglichkeit und der zuerst faktischen, später rechtlichen, Erblichkeit ging die Erweiterung der Machtbefugnisse des höchsten Beamten her. Von einer arbiträren, rein politischen Strafgewalt aus entwickelte sie sich zur Generalvollmacht (arbitrium generale), konkurrierend[785] mit dem Rat und der Gemeinde beliebige Verfügungen zu treffen, schließlich zum dominium mit dem Recht, die Stadt libero arbitrio zu regieren, die Aemter zu besetzen und Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. Die Maßregel hatte zwei verschiedene, freilich der Sache nach oft identische politische Quellen. Einmal die Parteiherrschaft als solche. Vor allem die stetige Bedrohung des ganzen politischen [Bestandes] und damit indirekt [zumal] des ökonomischen, namentlich auch des Bodenbesitzstandes der unterlegenen Partei. Speziell die kriegsgewohnten Geschlechter und die Angst vor Verschwörungen nötigten zur Einsetzung unumschränkter Parteihäupter. Sodann [aber] die auswärtigen Kriege, die Bedrohung mit Unterwerfung durch Nachbarkommunen oder andere Gewalthaber. Wo dies der wesentliche Grund war, war meist die Schaffung eines außerordentlichen Militärkommandos: der Kriegscapitanat, übertragen entweder einem fremden Fürsten oder einem Kondottiere, die Quelle der Signorie und nicht die Parteiführerstellung des Volkscapitans. Dabei konnte die Ergebung der Stadt in das dominium eines Fürsten zum Zweck des Schutzes gegen äußere Bedrohung in einer Art erfolgen, welche die Befugnisse des dominus sehr eng begrenzte. Innerhalb der Stadt waren es die von der aktiven Beteiligung an der Verwaltung faktisch ausgeschlossenen breiten unteren Schichten der Gewerbetreibenden, welche der Gewalthaber am leichtesten für sich zu gewinnen pflegte, teils weil für sie der Wechsel keinen Verlust bedeutete und die Entstehung eines Herrenhofes ökonomische Vorteile versprach, teils infolge der emotionalen Zugänglichkeit der Massen für persönliche Machtentfaltung. In aller Regel haben daher die Aspiranten auf die Signorie die Parlamente als Instanz für die Gewaltübertragung benutzt. Aber je nach den Umständen haben gelegentlich auch die Geschlechter oder die Kaufmannschaft, bedroht durch politische oder ökonomische Gegner, zu dem Mittel der Signorie gegriffen, welches zunächst nirgends als die dauernde Errichtung einer Monarchie angesehen wurde. Städte wie Genua haben wiederholt mächtigen Monarchen, in deren dominium sie sich begaben, sehr beengende Bedingungen, vor allem: begrenzte Wehrmacht, festbegrenzte Geldzahlungen auferlegt und sie gelegentlich ihrer Stellung entsetzt. Gegenüber auswärtigen Monarchen, z.B. dem König von Frankreich von seiten Genuas, gelang dies. Allein gegenüber einem in der Stadt einmal ansässig gemachten Signore gelang es schwer. Und vor allem kann man beobachten, daß sowohl die Kraft wie auch die Neigung zum Widerstand bei den Bürgern im Lauf der Zeit abnahm. Die Signoren stützten sich auf Soldheere und zunehmend auch auf Verbindungen mit den legitimen Autoritäten. Nach der gewaltsamen Unterwerfung von Florenz mit Hilfe spanischer Truppen war die erbliche Signorie außer in Venedig und Genua in Italien die definitiv durch kaiserliche und päpstliche Anerkennung legitimierte Staatsform. Jener abnehmende Widerstand der Bürgerschaft aber erklärt sich zunächst aus einer Reihe von Einzelumständen: der Hofstaat des Signore schuf beim Adel und Bürgertum wie überall so auch hier mit steigender Dauer zunehmende Schichten von Interessenten, soziale und ökonomische, an seinem Fortbestande. Die steigende Sublimierung der Bedürfnisse und die abnehmende ökonomische Expansion bei steigender Empfindlichkeit der ökonomischen Interessen der bürgerlichen Oberschichten gegen Störungen des befriedeten Verkehrs, ferner das allgemeine mit zunehmender Konkurrenz und wachsender ökonomischer und sozialer Stabilität abnehmende Interesse der Gewerbetreibenden an politischer Aspiration und ihre dadurch erklärliche Hinwendung zu reinen Erwerbszwecken oder friedlichem Rentengenuß und die allgemeine Politik der Fürsten, welche beide Entwicklungen im eigenen Vorteil förderten, führten zu einem rapiden Nachlassen des Interesses am politischen Schicksal der Stadt. Ueberall konnten sowohl die großen Monarchien, wie etwa das französische Königtum, wie die Signorien der einzelnen Städte auf das Interesse der Unterschichten an Befriedung der Stadt und an Regelung des Erwerbs im Sinne kleinbürgerlicher Nahrungspolitik rechnen. Die französischen Städte sind von den Königen mit Hilfe der Interessen der Kleinbürger unterworfen worden, und in Italien haben[786] ähnliche Tendenzen die Signorie gestützt. Wichtiger als alles aber war ein wesentlich politisches Moment: die Befriedung der Bürgerschaft durch ihre ökonomische Inanspruchnahme und Entwöhnung vom Waffendienst und die planmäßige Entwaffnung von seiten des Fürsten. Zwar war diese nicht immer von Anfang an ein Bestandteil der Politik der Fürsten, manche von ihnen haben im Gegenteil gerade erst rationale Rekrutierungssysteme geschaffen. Aber entsprechend dem allgemeinen Typus patrimonieller Heeresbildung waren diese oder wurden sie bald zu einer Aushebung der Unbemittelten und also dem republikanischen Bürgerheere wesensfremd. Vor allem aber hatte der Uebergang zum Soldheer und zur kapitalistischen Deckung des Militärbedarfes durch Unternehmer (Condottieri), bedingt durch steigende Unabkömmlichkeit der Bürger und steigende Notwendigkeit der berufsmäßigen Schulung für den Waffendienst, den Fürsten weitgehend vorgearbeitet. Schon in den Zeiten des Bestandes der freien Kommunen hatte dies der Befriedung und Entwaffnung der Bürger stark vorgearbeitet. Dazu trat dann die persönliche und politische Verbindung der Fürsten mit den großen Dynastien, gegenüber deren Macht der Bürgeraufstand aussichtslos wurde. Es waren also in letzter Instanz die uns in ihrer allgemeinen Bedeutung bekannten Umstände: zunehmende ökonomische Unabkömmlichkeit der Erwerbenden, zunehmende militärische Disqualifikation der gebildeten Schichten des Bürgertums und zunehmende Rationalisierung der Militärtechnik in der Richtung des Berufsheeres, welche in Verbindung mit der Entwicklung ökonomisch oder sozial höfisch interessierter Adels-, Rentner- und Pfründnerstände der Signorie die Chancen gaben, zu einem erblichen patrimonialen Fürstentum sich auszuwachsen. Wurde sie dies, so trat sie damit in den Kreis der legitimen Gewalten ein.

Die Politik der Signorien zeigt nun vor allem in einem Punkte, der hier allein interessiert, eine ihnen mit den antiken Tyrannen gemeinsame Tendenz: in der Sprengung der politischen und ökonomischen Monopolstellung der Stadt gegenüber dem platten Lande. Die Landbevölkerung war es sehr oft, mit deren Hilfe – wie in der Antike – der Gewalthaber die Uebertragung der Herrschaft erzwang (so 1328 in Padua). Die freie Stadtbürgerschaft hatte nach dem Sieg über die Geschlechter sehr oft im eigenen und politischen Interesse die Grundherrschaft gesprengt, die Bauern befreit und die freie Bewegung des Bodens zum kaufkräftigsten Reflektanten gefördert. Der Erwerb massenhaften Grundbesitzes aus den Händen der Feudalherren durch die Bürger und z.B. der Ersatz der Fronhofsverfassung durch die Mezzadria in der Toscana – ein auf das Nebeneinander eines vorwiegend stadtsässigen, mit dem Lande nur durch Villeggiaturen verknüpften Herrn und seiner landsässigen Teilpächter zugeschnittenes Institut – vollzog sich im Gefolge der Herrschaft des Popolo grasso. Von jeglicher Teilnahme an der politischen Gewalt aber war die Landbewohnerschaft ausgeschlossen, auch soweit sie aus freibäuerlichen Eigentümern bestand. Wie die Mezzadria privatwirtschaftlich, so war die Stadtpolitik dem Lande gegenüber organisatorisch auf städtische Konsumenteninteressen und nach dem Siege der Zünfte auf städtische Produzenteninteressen zugeschnitten. Die Fürstenpolitik hat dies keineswegs sofort und überhaupt nicht überall geändert. Die berühmte physiokratische Politik des Großherzogs Leopold von Toscana im 18. Jahrhundert war beeinflußt durch bestimmte naturrechtliche Anschauungen und nicht in erster Linie agrarische Interessenpolitik. Allein in jedem Fall war die im ganzen auf Interessenausgleich und Vermeidung von schroffen Kollisionen hingewiesene Politik der Fürsten jedenfalls nicht mehr die Politik einer das Land lediglich als Mittel zum Zweck benutzenden Stadtbürgerschaft.

Die Herrschaft der Stadtfürsten war mehrfach und schließlich überwiegend Herrschaft über mehrere Städte. Keineswegs aber war dabei die Regel, daß aus diesen bisher selbständigen Stadtterritorien nun ein im modernen Sinne einheitlicher staatlicher Verband geschaffen worden wäre. Im Gegenteil haben die verschiedenen zur Herrschaft eines Herrn zusammengeschlossenen Städte nicht selten[787] nach wie vor durch Gesandte miteinander zu verkehren das Recht und auch den Anlaß gehabt. Ihre Verfassung wurde keineswegs regelmäßig vereinheitlicht. Sie wurden nicht zu Gemeinden, welche kraft Delegation des Staates einen Teil von dessen Aufgaben erfüllten. Diese Entwicklung hat sich vielmehr erst allmählich und parallel mit der gleichartigen Umgestaltung der großen modernen Patrimonialstaaten vollzogen. Ständische Vertretungen, wie sie namentlich das sizilianische Reich schon im Mittelalter, aber auch andere alte patrimoniale Monarchien kannten, fehlten den aus Stadtterritorien entstandenen Herrschaftsgebilden meist gänzlich. Die wesentlichen organisatorischen Neuerungen waren vielmehr: 1. Das Auftreten der herrschaftlichen, auf unbestimmte Zeit angestellten Beamten neben den kurzfristig gewählten Kommunalbeamten; 2. die Entwicklung kollegialer Zentralbehörden, vor allem für Finanz- und Militärzwecke. Dies war allerdings ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Rationalisierung der Verwaltung. Technisch besonders rational konnte die stadtfürstliche Verwaltung deshalb gestaltet werden, weil viele Kommunen in ihrem eigenen finanziellen und militärischen Interesse statistische Grundlagen dafür in einem sonst nicht üblichen Grade geschaffen hatten und weil die Kunst der Buch- und Aktenführung von den Bankhäusern der Städte technisch entwickelt war. Im übrigen wirkte bei der unzweifelhaften Rationalisierung der Verwaltung wohl mehr das Beispiel Venedigs auf der einen Seite, das sizilianische Reich auf der anderen Seite, und zwar wohl mehr durch Anregung als durch Uebernahme.

Der Kreislauf der italienischen Städte von Bestandteilen patrimonialer oder feudaler Verbände durch eine Zeit revolutionär errungener Selbständigkeit und eigenständiger Honoratiorenherrschaft, dann der Zunftherrschaft hindurch zur Signorie und schließlich zu Bestandteilen relativ rationaler patrimonialer Verbände hat in dieser Art kein volles Gegenbild im übrigen Okzident. Vor allem fehlt ein solches für die Signorie, die nur in ihrem Vorstadium, dem Volkskapitanat, in einigen der machtvollsten Bürgermeister nördlich der Alpen Parallelen hat. Dagegen war die kreisläufige Entwicklung in einem Punkt allerdings universell: die Städte waren in der Karolingerzeit nichts oder fast nichts als Verwaltungsbezirke mit gewissen Eigentümlichkeiten der ständischen Struktur, und sie näherten sich im modernen patrimonialen Staat dieser Lage wiederum stark an und zeichneten sich nur durch korporative Sonderrechte aus. In der Zwischenzeit aber waren sie in irgendeinem Grade überall »Kommunen« mit politischen Eigenrechten und autonomer Wirtschaftspolitik. Aehnlich verlief nun auch die Entwicklung in der Antike. Und doch ist weder der moderne Kapitalismus noch der moderne Staat auf dem Boden der antiken Städte gewachsen, während die mittelalterliche Stadtentwicklung für beide, zwar keineswegs die allein ausschlaggebende Vorstufe und gar nicht ihr Träger war, aber als ein höchst entscheidender Faktor ihrer Entstehung allerdings nicht wegzudenken ist. Trotz aller äußerlichen Aehnlichkeiten der Entwicklung müssen danach doch auch tiefgreifende Unterschiede festzustellen sei. Diesen müssen wir uns nun zuwenden. Wir werden am ehesten die Chance haben, sie zu erkennen, wenn wir die beiderseitigen Städtetypen in ihren charakteristischsten Formen einander gegenüberstellen. Dazu müssen wir uns aber zunächst klar machen, daß auch innerhalb der mittelalterlichen Städte sehr starke, von uns vorerst nur in einigen Punkten beobachtete Strukturunterschiede obwalten. Zunächst aber verdeutlichen wir uns noch einmal die Gesamtlage der mittelalterlichen Städte zu jener Zeit ihrer höchsten Selbständigkeit, welche uns hoffen läßt, ihre spezifischen Züge am vollsten entwickelt zu finden.

Während der Höhezeit der Stadtautonomie bewegten sich die Errungenschaften der Städte untereinander in außerordentlicher Vielgestaltigkeit in folgenden Richtungen:

1. Politische Selbständigkeit und, teilweise, um sich greifende Außenpolitik, derart, daß das Stadtregiment dauernd eigenes Militär hielt, Bündnisse schloß,[788] große Kriege führte, große Landgebiete und unter Umständen andere Städte in voller Unterwerfung hielt, überseeische Kolonien erwarb. Dies ist, was überseeische Kolonien anlangt, dauernd nur zwei italienischen Seestädten, was die Gewinnung großer Territorien und internationaler politischer Bedeutung anlangt, einigen Kommunen im nördlichen und mittleren Italien und in der Schweiz zeitweise gelungen, in weit geringerem Maß den flandrischen und einem Teil der norddeutschen Hansestädte und wenigen anderen. Dagegen die süditalienischen und sizilianischen, nach kurzem Intermezzo die spanischen, nach längerem die französischen, von Anfang an die englischen Städte und die deutschen, mit Ausnahme namentlich der erwähnten nordischen und flandrischen Städte und einiger schweizerischer und süddeutscher, nur während des kurzen Intermezzos der Städtebünde auch eines größeren Teils der westdeutschen, kannten ein über die unmittelbare ländliche Umgebung und einige Kleinstädte hinausreichendes politisches Herrschaftsgebiet im allgemeinen nicht. Sehr viele von ihnen haben zwar dauernd Stadtsoldaten gehalten (so noch spät in Frankreich), oder sie haben – und das war die Regel – eine auf der Wehrpflicht der Stadtinsassen ruhende Bürgermiliz gehabt, welche ihre Mauern verteidigte und zeitweilig die Kraft besaß, im Bunde mit anderen Städten den Landfrieden durchzusetzen, Räuberburgen zu brechen und in inneren Fehden des Landes Partei zu ergreifen. Aber eine internationale Politik, wie die italienischen und die Hansestädte, haben sie dauernd nirgends zu treiben versucht. Sie haben meist, je nachdem zu den ständischen Vertretungen des Reichs oder zu denen des Territorialgebiets Vertreter geschickt und dann nicht selten, infolge ihrer finanziellen Potenz, auch bei formal untergeordneter Stellung, die maßgebende Stimme darin gewonnen: Das größte Beispiel dafür sind die englischen Commons, die freilich nicht sowohl eine Vertretung von Stadtcommunen, als von ständischen Körperschaften darstellten. Aber viele Bürgerschaften haben auch ein solches Recht nie ausgeübt (die rechtshistorischen Einzelheiten würden hier zu weit führen). Der moderne patrimonialbürokratische Staat des Kontinents aber hat dann den meisten von ihnen jede eigenpolitische Betätigung und auch die Wehrhaftigkeit, außer zu Polizeizwecken, überall genommen. Nur wo er, wie in Deutschland, lediglich in Partikulargebilden sich entwickelte, mußte er einen Teil von ihnen als politische Sonderbildung neben sich bestehen lassen. Einen besonderen Gang hat die Entwicklung noch in England genommen, weil hier die Patrimonialbürokratie nicht entstand. Die einzelnen Städte hatten hier innerhalb der straffen Organisation der Zentralverwaltung niemals eigene politische Ambitionen gehabt, da sie ja geschlossen im Parlament auftraten. Sie hatten Handelskartelle geschlossen, aber nicht politische Städtebünde, wie auf dem Kontinent. Sie waren Korporationen einer privilegierten Honoratiorenschicht, und ihre Gutwilligkeit war finanziell unentbehrlich. In der Tudorzeit hatte das Königtum ihre Privilegien zu vernichten gesucht, aber der Zusammenbruch der Stuarts machte dem ein Ende. Sie blieben von da an Korporationen mit dem Recht der Parlamentswahl, und sowohl das »Kingdom of Influence« wie die Adelssektionen benutzten politisch die zum Teil lächerlich kleinen und leicht zu gewinnenden Wahlgremien, welche viele von ihnen darstellten, um für sich gefügige Parlamentsmehrheiten zu erzielen.

2. Autonome Rechtssatzung der Stadt als solcher und innerhalb ihrer wieder der Gilden und Zünfte. In vollem Umfang haben dies Recht die politisch selbständigen italienischen, zeitweise die spanischen und englischen, ein beträchtlicher Teil der französischen und der deutschen Städte ausgeübt, ohne daß immer eine ausdrückliche Verbriefung dieses Rechts bestanden hätte. Für städtischen Grundbesitz, Marktverkehr und Handel wenden die mit Stadtbürgern als Schöffen besetzten Stadtgerichte ein gleichmäßiges, durch Gewohnheit oder autonome Satzung, Nachahmung, Uebernahme oder Verleihung nach fremdem Muster bei der Gründung entstehendes, allen Stadtbürgern gemeinsames spezifisches Recht an. Sie schalteten im Prozeßverfahren zunehmend die irrationalen und magischen Beweismittel:[789] Zweikampf, Ordal und Sippeneid zugunsten einer rationalen Beweiserhebung aus, eine Entwicklung, die man sich übrigens nicht allzu geradlinig vorstellen darf: gelegentlich bedeutete die Festhaltung der prozessualen Sonderstellung der Stadtgerichte auch eine Konservierung älterer Prozeduren gegenüber den rationalen Neuerungen der Königsgerichte – so in England (Fehlen der Jury) – und des mittelalterlichen gegenüber dem Vordringen des römischen Rechts: so vielfach auf dem Kontinent, wo die kapitalistisch verwertbaren Rechtsinstitute gerade den Stadtrechten, als der Stätte der Autonomie der Interessenten, entstammten, und nicht dem römischen (oder deutschen) Landrecht. Das Stadtregiment suchte seinerseits nach Möglichkeit darauf zu halten, daß die Gilden und Innungen ohne seine Zustimmung überhaupt keine Satzungen oder doch nur solche erließen, welche sich auf das ein- für allemal ihnen zugewiesene Gebiet beschränkten. Sowohl der Umfang der städtischen Autonomie war bei allen Städten, die mit einem politischen oder grundherrlichen Stadtherrn zu rechnen hatten, also bei allen außer den italienischen, labil und Machtfrage, wie ebenso die Verteilung der Satzungsgewalt zwischen Rat und Zünften. Der entstehende patrimonialbürokratische Staat hat ihnen dann diese Autonomie überall zunehmend beschnitten. In England haben die Tudors zuerst systematisch den Grundsatz vertreten, daß die Städte ebenso wie die Zünfte korporativ organisierte Staatsanstalten für bestimmte Zwecke seien mit Rechten, welche sachlich nicht über die im Privileg bezeichneten Schranken hinausgingen, und mit einer Satzungsgewalt, welche nur die als Bürger Beteiligten binde. Jeder Verstoß gegen diese Schranken wurde zum Anlaß genommen, im »Quo warranto« -Prozeß die Charten kassieren zu lassen (so für London noch unter Jakob II.). Die Stadt galt dieser Auffassung nach, wie wir sahen, im Prinzip überhaupt nicht als »Gebietskörperschaft«, sondern als ein privilegierter ständischer Verband, in dessen Verwaltung sich der Privy Councii fortwährend kontrollierend einmischte. In Frankreich ward den Städten im Lauf des 16. Jahrhunderts die Gerichtsbarkeit außer für Polizeisachen ganz genommen und für alle finanziell wichtigen Akte die Genehmigung der Staatsbehörde verlangt. In Zentraleuropa wurde die Stadtautonomie der Territorialstädte in aller Regel gänzlich vernichtet.

3. Autokephalie, also: ausschließlich eigene Gerichts- und Verwaltungsbehörden. Nur ein Teil der Städte, vor allem die italienischen, haben dies voll durchgesetzt, die außeritalienischen vielfach nur für niedere Gerichtsbarkeit und auf die Dauer meist mit dem Vorbehalt der Appellation an die königlichen oder höchsten Landesgerichte. In der Gerichtsbarkeit war da, wo die aus den Bürgern genommenen Schöffen das Urteil fanden, die Persönlichkeit des Gerichtsherrn ursprünglich nur von vorwiegend fiskalischem Interesse, und deshalb hat sich die Stadt zuweilen gar nicht veranlaßt geglaubt, sich die formelle Gerichtsherrlichkeit anzueignen oder durch Kauf an sich zu bringen. Für sie war aber das wichtigste: daß die Stadt ein eigener Gerichtsbezirk war mit Schöffen aus ihrer Mitte. Dies wurde mindestens für die niedere Gerichtsbarkeit, teilweise für die höhere schon sehr früh durchgesetzt. Eigene Schöffenwahl oder Kooptation ohne Einmischung des Herrn erlangten die Bürger zum erheblichen Teil. Wichtig war ferner die Erlangung des Privilegs, daß ein Bürger nur vor dem Gericht der Stadt Rede stand. Die Art der Entwicklung der eigenen städtischen Verwaltungsbehörde, des Rats, kann hier unmöglich verfolgt werden. Daß ein solcher, mit weitgehenden Verwaltungsbefugnissen ausgestattet, bestand, war auf der Höhe des Mittelalters Kennzeichen jeder Stadtgemeinde in West- und Nordeuropa. Die Art seiner Zusammensetzung variierte unendlich und hing namentlich ab von der Machtlage zwischen dem Patriziat der »Geschlechter«, also den Grundrenten- und Geldbesitzern, Geldgebern und Gelegenheitshändlern, ferner den bürgerlichen, oft zünftigen Kaufleuten, je nachdem mehr Fernhändlern oder (in ihrer Masse) mehr Großdetaillisten und Verlegern gewerblicher Produkte, und den wirklich rein gewerblichen Zünften. Andererseits bestimmte sich das Maß, in welchem der politische oder Grund-Herr an der Ernennung[790] des Rats beteiligt, die Stadt also partiell heterokephal blieb, nach der ökonomischen Machtlage zwischen Bürgern und Stadtherrn. Zunächst nach dessen Geldbedarf, der den Auskauf seiner Rechte ermöglichte. Umgekehrt also auch durch die Finanzkraft der Städte. Aber der Geldbedarf des Stadtherrn und der Geldmarkt der Stadt allein entschieden nicht, wenn der Stadtherr politische Machtmittel besaß. In Frankreich hatte das unter Philipp [II.] August [zunächst] mit den Städten verbündete Königtum ([und hatten] teilweise auch andere Stadtherren) schon im 13. Jahrhundert durch stark steigenden [städtischen] Geldbedarf »pariage« -Anteil an der Besetzung der Verwaltungsstellen, Kontrollrecht über die Verwaltung des Magistrats, namentlich die den König interessierende Finanzverwaltung, Bestätigungsrecht der gewählten Konsuln, bis zum 15. Jahrhundert Vorsitz des königlichen Prévôt in der Bürgerversammlung erlangt. Im ludovicianischen Zeitalter vollends werden die Städte in der Aemterbesetzung vollständig von den königlichen »Intendanten« beherrscht und die Finanznot des Staats führte dazu, die Stadtämter ebenso wie die Staatsämter durch Verkauf zu besetzen. Der patrimonialbürokratische Staat verwandelte die Verwaltungsbehörden der Stadt in privilegierte Korporationsvertretungen mit ständischen Privilegien, mit Zuständigkeit nur im Umkreis ihrer korporativen Interessen, jedoch ohne Bedeutung für staatliche Verwaltungszwecke. Der englische Staat, der den Städtekorporationen, da sie Parlamentswahlkörper waren, die Autokephalie lassen mußte, schritt, als er diejenigen Aufgaben, welche unsere heutigen Kommunalverbände zu erfüllen haben, durch lokale Verbände lösen lassen wollte, rücksichtslos über die Stadt hinweg und machte entweder die einzelne Parochie, der nicht nur die privilegierten Korporationsmitglieder, sondern alle qualifizierten Einwohner angehörten, oder andere neugeschaffene Verbände zu deren Trägern. Meist aber hat der Patrimonialbürokratismus die Magistrate ganz einfach in eine landesherrliche Behörde neben anderen verwandelt.

4. Steuergewalt über die Bürger, Zins- und Steuerfreiheit derselben nach außen. Das erste wurde sehr verschieden weitgehend, unter verschieden wirksamer, oder auch ganz wegfallender Erhaltung des Kontrollrechts durch den Stadtherrn, durchgesetzt. In England haben die Städte wirkliche Steuerautonomie nie besessen, sondern für alle neuen Steuern stets des Konsenses des Königs bedurft. Zins- und Steuerfreiheit nach außen wurde ebenfalls nur stellenweise vollständig erreicht. Von den politisch nicht autonomen Städten nämlich nur da, wo sie die Steuerpflicht pachteten und dann den Stadtherrn durch einmalige oder, häufiger, durch regelmäßige Pauschalzahlungen abfanden und die königlichen Steuern in eigene Regie nehmen konnten (firma burgi in England). Am vollständigsten gelang die Durchsetzung der Lastenfreiheit nach außen überall für die persönlichen, aus gerichts- oder leibherrlichen Verhältnissen der Bürger stammenden Pflichtigkeiten. – Der normale patrimonialbürokratische Staat schied nach seinem Siege Stadt und Land zwar rein steuertechnisch: er suchte Produktion und Konsum gleichmäßig durch seine spezifische Städtesteuer, die Akzise, zu treffen. Die eigene Steuergewalt aber nahm er den Städten praktisch so gut wie ganz. In England bedeutete die korporative Besteuerung der Städte wenig, da die neuen Verwaltungsaufgaben anderen Gemeinschaften zufielen. In Frankreich eignete sich der König seit Mazarin die Hälfte des städtischen Oktroi an, nachdem alle städtischen Finanzoperationen und die Selbstbesteuerung schon vorher unter Staatskontrolle gestellt waren. In Mitteleuropa wurden die städtischen Behörden auch in dieser Hinsicht oft fast reine staatliche Steuerhebestellen.

5. Marktrecht, autonome Handels- und Gewerbepolizei und monopolistische Banngewalten. Der Markt gehört zu jeder mittelalterlichen Stadt, und die Markt aufsicht hat der Rat überall in sehr starkem Maße den Stadtherren abgenommen. Die polizeiliche Aufsicht über Handel und Gewerbe lag später, je nach den Machtverhältnissen, mehr in den Händen der städtischen Behörden oder mehr in denen der Berufsinnungen, unter weitgehender Ausschaltung des Stadtherrn. Vermöge[791] der gewerblichen Polizei wird die Qualitätskontrolle der Waren geübt: teils im Interesse des guten Rufs, also der Exportinteressen des Gewerbes, teils in dem der städtischen Konsumenten, wesentlich im Interesse der letzteren die Preiskontrolle; ferner die Erhaltung der kleinbürgerlichen Nahrungen, also: die Beschränkung der Lehrlings- und Gesellenzahl, unter Umständen auch der Meisterzahl und, mit Engerwerden des Nahrungsspielraums, die Monopolisierung der Meisterstellen für die Einheimischen, speziell die Meistersöhne, gesteigert; andererseits wird, sofern die Zünfte selbst die Polizei in ihre Hand brachten, durch Verbote des Verlags und Kontrolle der Kapitalleihe, Regulierung und Organisation des Rohstoffbezugs und zuweilen der Absatzart, der Entstehung kapitalistischer Abhängigkeiten von Außenstehenden und Großbetrieben entgegengearbeitet. Vor allem aber erstrebte die Stadt den Ausschluß des ihrer Herrschaft unterworfenen flachen Landes von der gewerblichen Konkurrenz, suchte also den ländlichen Gewerbebetrieb zu unterdrücken und den Bauern im städtischen Produzenteninteresse zum Einkauf seines Bedarfs in der Stadt zu zwingen und [ihnen] im städtischen Konsumenteninteresse den Verkauf ihrer Produkte auf dem Markt der Stadt und nur dort aufzuzwingen, ebenso im Interesse der Konsumenten und gelegentlich der gewerblichen Rohstoffverbraucher den »Vorkauf« von Waren außerhalb des Marktes zu hindern, im Interesse der eigenen Händler endlich Umschlags-und Zwischenhandelsmonopol durchzusetzen, andererseits Privilegien im freien Handel auswärts zu gewinnen. Diese Kernpunkte der sog. »Stadtwirtschaftspolitik«, durch ungezählte Kompromißmöglichkeiten kollidierender Interessen variiert, finden sich in den Grundzügen fast überall wieder. Die jeweilige Richtung der Politik wird dabei außer durch die innerstädtische Machtlage der Interessenten durch den jeweiligen Erwerbsspielraum der Stadt bedingt. Seine Erweiterung in der ersten Periode der Besiedlung brachte eine auf Erweiterung des Markts, seine Verengung nach Ende des Mittelalters eine auf Monopolisierung gerichtete Tendenz mit sich. Im übrigen hat jede einzelne Stadt ihre eigenen, mit den Konkurrenten kollidierenden Interessen, und speziell unter den Fernhandelsstädten des Südens herrscht Kampf auf Leben und Tod.

Der patrimonialbürokratische Staat nun dachte nach Unterwerfung der Städte durchaus nicht an ein grundsätzliches Brechen mit dieser »Stadtwirtschaftspolitik«. Ganz im Gegenteil. Die ökonomische Blüte der Städte und ihrer Gewerbe und die Erhaltung der Volkszahl durch Erhaltung der Nahrungen lag ihm im Interesse seiner Finanzen ganz ebenso am Herzen, wie andererseits die Stimulierung des Außenhandels im Sinn einer merkantilistischen Handelspolitik, deren Maßregeln er, mindestens zum Teil, der städtischen Fernhandelspolitik absehen konnte. Er suchte die kollidierenden Interessen der in seinem Verband vereinigten Städte und Gruppen auszugleichen, insbesondere den Nahrungsstandpunkt mit kapitalfreundlicher Politik zu vereinigen. An die überkommene Wirtschaftspolitik rührte er bis fast an den Vorabend der französischen Revolution nur da, wo die lokalen Monopole und Privilegien der Bürger der von ihm selbst inaugurierten, zunehmend kapitalistisch orientierten Privilegien- und Monopolpolitik im Wege standen: Schon dies freilich konnte im Einzelfall zu einer sehr drastischen Durchbrechung der ökonomischen Bürgerprivilegien führen, aber es bedeutete doch nur in lokalen Ausnahmefällen ein prinzipielles Verlassen der überkommenen Bahn. Die Autonomie der Wirtschaftsregulierung durch die Stadt aber ging verloren, und das konnte indirekt freilich erhebliche Bedeutung gewinnen. Aber das Entscheidende lag doch in der an sich bestehenden Unmöglichkeit für die Städte, militärisch-politische Machtmittel nach Maß und Art der patrimonialbürokratischen Fürsten in den Dienst ihrer Interessen zu stellen. Sie konnten im übrigen auch nur ausnahmsweise den Versuch machen, in der Art, wie die Fürsten es taten, als Verbände an den kraft der Politik des Patrimonialismus sich neu auftuenden Erwerbschancen teilzunehmen. Das konnte der Natur der Sache nach nur der Einzelne, vor allem der sozial privilegierte Einzelne, und speziell an den typischen, monopolistisch privilegierten inländischen[792] und überseeischen Unternehmungen des Patrimonialismus sind in England wie in Frankreich neben den Königen selbst (verhältnismäßig) viele grundherrliche oder dem Großbeamtentum angehörige, (verhältnismäßig) wenige bürgerliche Elemente beteiligt gewesen. Gelegentlich haben zwar auch so manche Städte, wie z.B. Frankfurt, in zuweilen umfassender Art, sich auf Stadtrechnung an spekulativen auswärtigen Unternehmungen beteiligt. Meist aber zu ihrem Schaden, da ein einziger Mißerfolg sie nachhaltiger als ein großes politisches Gebilde treffen mußte.

Der ökonomische Niedergang zahlreicher Städte, namentlich in der Zeit seit dem 16. Jahrhundert, ist – da er sich eben damals auch in England vollzog – nur teilweise durch Verschiebung der Handelsstraßen, und auch nur teilweise durch das Entstehen von großen Hausindustrien, die auf außerstädtischer Arbeitskraft ruhten, direkt begründet. Zum größten Teil vielmehr durch andere allgemeine Bedingungen: vor allem dadurch, daß die traditionellen, in die Stadtwirtschaft eingegliederten Unternehmungsformen jetzt nicht mehr diejenigen waren, welche die ganz großen Gewinne abwarfen, und daß, wie einst die feudale Kriegstechnik, so jetzt sowohl die politisch orientierten, wie die händlerischen und gewerblichen kapitalistischen Unternehmungen, auch wo sie formal stadtsässig waren, doch nicht mehr in einer städtischen Wirtschaftspolitik ihre Stütze fanden und nicht mehr von einem lokal, an den einzelnen Bürgerverband, gebundenen Unternehmertum getragen werden konnten. Die neuen kapitalistischen Unternehmungen siedelten sich in den für sie geeigneten neuen Standorten an. Und der Unternehmer rief für seine Interessen jetzt nach anderen Helfern – soweit er solche überhaupt brauchte – als einer lokalen Bürgergemeinschaft. Ebenso wie in England die Dissenters, welche in der kapitalistischen Entwicklung eine so wichtige Rolle spielten, infolge der Test-Akte nicht zur herrschenden Stadtkorporation gehörten, entstanden die großen modernen Handels- und Gewerbestädte Englands gänzlich außerhalb der Bezirke, und damit auch der lokalen Monopolgewalten, der alten privilegierten Korporationen und zeigten daher in ihrer juristischen Struktur vielfach ein ganz archaistisches Gepräge: die alten Grundherrengerichte: court baron und court leet bestanden in Liverpool [bis ins späte 17. Jahrhundert] und [in] Manchester bis zur modernen Reform, nur war der Grundherr als Gerichtsherr ausgekauft.

6. Aus der spezifischen politischen und ökonomischen Eigenart der mittelalterlichen Städte folgte auch ihr Verhalten zu den nichtstadtbürgerlichen Schichten. Dies zeigt nun bei den einzelnen Städten allerdings ein sehr verschiedenes Gesicht. Gemeinsam ist allen zunächst der wirtschaftsorganisatorische Gegensatz gegen die spezifisch außerstädtischen politischen, ständischen und grundherrlichen Strukturformen: Markt gegen Oikos. Diesen Gegensatz darf man sich freilich nicht einfach als einen ökonomischen »Kampf« zwischen politischen oder Grund-Herren und Stadt denken. Ein solcher bestand natürlich überall da, wo die Stadt im Interesse ihrer Machterweiterung politisch oder grundherrlich abhängige Leute, die der Herr festhalten wollte, in ihre Mauern oder vollends, ohne daß sie in die Stadt zogen, als Außenbürger in den Bürgerverband aufnahm. Das letztere ist wenigstens den nordischen Städten nach kurzer Zwischenzeit durch Fürstenverbände und Verbote der Könige unmöglich gemacht worden. Die ökonomische Entwicklung der Städte rein als solche ist aber nirgends prinzipiell bekämpft worden, sondern die politische Selbständigkeit. Ebenso wo sonst spezielle ökonomische Interessen der Herren in Kollision gerieten mit den verkehrspolitischen Interessen und Monopoltendenzen der Städte, was oft der Fall war. Und natürlich betrachteten die Interessenten des feudalen Wehrverbandes, die Könige an der Spitze, die Entwicklung autonomer Festungen im Bereich ihrer politischen Interessensphäre mit dem allergrößten Mißtrauen. Die deutschen Könige haben von diesem Mißtrauen mit ganz kurzen Unterbrechungen niemals gelassen. Dagegen sind die französischen und englischen zeitweise stark städtefreundlich gewesen aus politischen,[793] durch den Gegensatz der Könige gegen ihre Barone bedingten Gründen und außerdem wegen der finanziellen Bedeutung der Städte. Ebenso ist die auflösende Tendenz, welche die Marktwirtschaft der Stadt als solche auf den grundherrlichen und indirekt auch auf den feudalen Verband ausüben konnte und den sie mit sehr verschiedenem Erfolge tatsächlich ausgeübt hat, keineswegs notwendig in Form eines »Kampfes« der Städte gegen andere Interessenten verlaufen. Im Gegenteil herrschte auf weite Wegstrecken eine starke Interessengemeinschaft. Den politischen sowohl wie den Grund-Herren waren Geldeinnahmen, die sie von ihren Hintersassen erheben konnten, äußerst erwünscht. Die Stadt erst gab aber diesen letzteren einen Lokalmarkt für ihre Produkte und damit die Möglichkeit, Geld statt Fronden oder Naturalabgaben zu zahlen; ebenso gab sie den Herren die Möglichkeit, ihre Naturaleinnahmen, statt sie in natura zu verzehren, je nachdem auf dem Lokalmarkt oder durch den zunehmend kapitalkräftigen Handel auswärts zu Geld machen zu lassen. Von diesen Möglichkeiten machten die politischen wie die Grund-Herren energisch Gebrauch, entweder indem sie den Bauern Geldrenten abverlangten oder indem sie deren durch den Markt gewecktes Eigeninteresse an erhöhter Produktion durch Schaffung vergrößerter Wirtschaftseinheiten, welche einen größeren Anteil am Naturalertrag als Rente abgeben konnten, ausnutzten und diesen Mehrertrag ihrer Naturalrenten ihrerseits versilberten. Und daneben konnte der politische und Grund-Herr, je mehr sich der lokale und interlokale Verkehr entwickelte, desto mehr Geldeinnahmen aus den verschiedensten Arten von Tributen von eben diesem Verkehr suchen, wie dies im deutschen Westen schon im Mittelalter geschehen ist. Die Stadtgründung war daher nebst ihren Konsequenzen vom Gesichtspunkt ihrer Gründer aus ein geschäftliches Unternehmen zur Erlangung von Geldeinnahmechancen. Aus diesem ökonomischen Eigeninteresse heraus erfolgten noch in der Zeit der Judenverfolgungen im Osten, speziell in Polen, seitens des Adels die mannigfachen Gründungen von »Städten«, oft Fehlgründungen, deren oft nur nach Hunderten zählende Einwohnerschaft zuweilen noch im 19. Jahrhundert zu 90% aus Juden bestand. Diese spezifisch mittelalterlich-nordeuropäische Art der Städtegründung ist also faktisch ein Erwerbs »geschäft«, – wie wir sehen werden, im schärfsten Gegensatz gegen die militärische Festungsstadtgründung, welche die antike Polis darstellt. Die Umwandlung fast aller persönlichen und dinglichen Ansprüche des Grund- und Gerichtsherrn in Rentenforderungen und die daraus sich ergebende, teils rechtliche, teils immerhin weitgehende faktische ökonomische Freiheit der Bauern – die überall da ausblieb, wo die Entwicklung der Städte schwach war – entstand als Folge davon, daß die politischen und grundherrlichen Einnahmen im Gebiet intensiver Städteentwicklung zunehmend aus Marktabsatz der Bauernprodukte oder der Bauernabgaben und im übrigen jedenfalls aus anderen verkehrswirtschaftlichen Quellen gespeist werden konnten, und auch wurden, als aus der Ausnutzung der Fronpflicht der Abhängigen oder in der Art der alten oikenwirtschaftlichen Umlegung des Haushaltsbedarfs auf sie, und daß der Herr, und ebenso, wenn auch in geringerem Maß, die Abhängigen, zunehmende Teile des Bedarfs geldwirtschaftlich deckten. Im übrigen war sie sehr wesentlich durch den Auskauf des landsässigen Adels durch die Stadtbürger bedingt, welche nun zu einer rationellen Bewirtschaftung des Landbesitzes übergingen. Dieser Prozeß fand jedoch seine Schranke da, wo der Lehensverband zum Besitz adliger Güter die Lehensfähigkeit verlangte und diese, wie nördlich der Alpen fast überall, dem Stadtpatriziat fehlte. Aber jedenfalls bestand lediglich auf Grund der »Geldwirtschaft« als solcher keine ökonomische Interessenkollision zwischen politischen oder Grund-Herren und Städten, sondern sogar Interessengemeinschaft. Eine rein ökonomische Kollision entstand erst da, wo Grundherren zur Erhöhung ihrer Einnahmen zu einer erwerbswirtschaftlichen gewerblichen Eigenproduktion überzugehen suchten, was freilich nur da möglich war, wo geeignete Arbeitskräfte dafür zur Verfügung standen. Wo dies der Fall war, ist der Kampf der Städte gegen diese gewerbliche Produktion[794] der Grundherren auch entbrannt und hat sich gerade in der Neuzeit, noch innerhalb des Verbandes des patrimonialbürokratischen Staats, oft sehr intensiv entwickelt. Im Mittelalter dagegen ist davon noch kaum die Rede, und eine faktische Auflösung des alten grundherrlichen Verbandes und der Gebundenheit der Bauern ist oft durchaus kampflos mit Vordringen der Geldwirtschaft als deren Resultat erfolgt. So in England. Anderwärts haben die Städte allerdings direkt und bewußt diese Entwicklung gefördert. So, wie wir sahen, im Machtgebiet von Florenz.

Der patrimonialbürokratische Staat suchte die Interessengegensätze von Adel und Städten auszugleichen, legte dabei aber, weil er den Adel für seine Dienste, als Offiziere und Beamte, brauchen wollte, die Unzulässigkeit des Erwerbs adliger Güter durch Nichtadlige, also auch [durch] die Bürger, fest.

Im Mittelalter waren stärker als die weltlichen in diesem Punkt die geistlichen, namentlich die klösterlichen Grundherrschaften in der Lage, in Konflikt mit der Stadt zu geraten. Neben den Juden war die Geistlichkeit ja überhaupt, zumal seit der Trennung von Staat und Kirche im Investiturstreit, der spezifische Fremdkörper in der Stadt. Ihr Besitz nahm als geistliches Gut weitgehende Lastenfreiheit und Immunität, also Ausschluß jeder Amtshandlung, auch der Stadtbehörden, in Anspruch. Sie selbst entzogen sich als Stand den militärischen und sonstigen persönlichen Pflichten der Bürger. Dabei aber schwoll jener lastenfreie Besitz, und dadurch wiederum die Zahl der der vollen Stadtgewalt entzogenen Personen, durch fortgesetzte Stiftungen frommer Bürger [an]. Die Klöster ferner hatten in ihren Laienbrüdern Arbeitskräfte, welche keine Familie zu versorgen brauchten, also alle außerklösterliche Konkurrenz schlagen konnten, wenn sie, wie dies vielfach geschah, zum eigengewerblichen Betrieb verwendet wurden. Massenhaft hatten sich ferner Klöster und Stifter, ganz wie die Wakufs im mittelalterlichen Islâm, in den Besitz gerade der geldwirtschaftlichen Dauerrentenquellen des Mittelalters: Markthallen, Verkaufsstätten aller Art, Fleischscharren, Mühlen u. dgl. gesetzt, die nun nicht nur der Besteuerung, sondern auch der Wirtschaftspolitik der Stadt sich entzogen, oft überdies Monopole in Anspruch nahmen. Selbst militärisch konnte die Immunität der ummauerten Klausuren bedenklich werden. Und das geistliche Gericht mit seiner Gebundenheit an die Wucherverbote bedrohte überall das bürgerliche Geschäft. Gegen die Anhäufung von Bodenbesitz in der toten Hand suchte sich die Bürgerschaft durch Verbote ebenso zu sichern, wie Fürsten und Adel durch die Amortisationsgesetze. Auf der anderen Seite aber bedeuteten die kirchlichen Feste, vor allem der Besitz von Wallfahrtsorten mit Ablässen für einen Teil der städtischen Gewerbe starke Verdienstchancen, und die Stifte, soweit sie Bürgerlichen zugänglich waren, auch Versorgungsstellen. Die Beziehungen zwischen Geistlichkeit und Klöstern einerseits, der Bürgerschaft andererseits, waren daher auch zu Ende des Mittelalters trotz aller Kollisionen keineswegs so durchweg unfreundliche, daß etwa dies Moment allein zu einer »ökonomischen Erklärung« der Reformation ausreichen würde. Die kirchlichen und klösterlichen Anstalten waren der Sache nach nicht so unantastbar für die Stadtgemeinde wie nach dem kanonischen Recht. Es ist zutreffend darauf hin gewiesen worden, daß speziell in Deutschland die Stifte und Klöster, nachdem seit dem Investiturstreit die Königsmacht zunehmend zurückging, damit ihres interessiertesten Schirmherrn gegen die Laiengewalt verlustig gingen und daß die von ihnen abgeworfene Vogteigewalt in indirekter Form sehr leicht wieder erstehen konnte, wenn sie sich ökonomisch stark engagierten. In vielen Fällen hatte der städtische Rat es verstanden, sie faktisch unter eine der alten Vogtei ganz ähnliche Vormundschaft zu stellen, indem er ihnen für ihre Geschäftsführung unter den verschiedensten Vorwänden und Namen Pfleger und Anwälte aufdrängte, welche dann die Verwaltung den bürgerlichen Interessen entsprechend führten. – Die ständische Stellung des Klerus innerhalb des Bürgerverbandes war sehr verschieden. Zum Teil stand er rechtlich einfach ganz außerhalb der Stadtkorporation, aber auch wo dies nicht der Fall war, bildete er mit seinen unaustilgbaren[795] ständischen Privilegien eine unbequeme und unassimilierbare Fremdmacht. Die Reformation machte diesem Zustand innerhalb ihres Bereichs ein Ende, aber den Städten, welche nun sehr bald dem patrimonialbürokratischen Staat unterworfen wurden, kam dies nicht mehr zugute.

In diesem letzteren Punkt war die Entwicklung in der Antike gänzlich anders verlaufen. Je weiter zurück, desto mehr ähnelt die ökonomische Stellung der Tempel in der Antike derjenigen der Kirchen und namentlich der Klöster im frühen Mittelalter, wie sie besonders in den venezianischen Kolonien zutage trat. Aber die Entwicklung verlief hier nicht wie im Mittelalter in der Richtung einer zunehmenden Trennung von Staat und Kirche und steigenden Selbständigkeit des kirchlichen Herrschaftsgebiets, sondern gerade umgekehrt. Die Stadtadelsgeschlechter bemächtigten sich der Priestertümer als einer Sportel- und Machtquelle, und die Demokratie verstaatlichte sie vollends und machte sie zu Pfründen, welche meist versteigert wurden, vernichtete den politischen Einfluß der Priester und nahm die ökonomische Verwaltung in die Hand der Gemeinde. Die großen Tempel des Apollon in Delphoí oder der Athena in Athen waren Schatzhäuser des hellenischen Staates, Depositenkassen von Sklaven, und ein Teil von ihnen blieben große Grundbesitzer. Aber eine ökonomische Konkurrenz mit bürgerlichen Gewerben kam innerhalb der antiken Städte nicht in Frage. Eine Säkularisation des Sakralguts hat es nicht gegeben und konnte es nicht geben. Aber der Sache, wenn auch nicht der Form nach, war in den antiken Städten die »Verweltlichung« des einst in den Tempeln konzentrierten Gewerbes ungleich radikaler durchgeführt als im Mittelalter. Das Fehlen der Klöster und der selbständigen Organisation der Kirche als eines interlokalen Verbandes überhaupt war der wesentliche Grund dafür.

Die Konflikte des Stadtbürgertums mit den grundherrlichen Gewalten waren der Antike ebenso bekannt wie dem Mittelalter und der beginnenden Neuzeit. Die antike Stadt hat ihre Bauernpolitik und ihre den Feudalismus sprengende Agrarpolitik gehabt. Die Dimensionen dieser Politik sind aber so viel größer und ihre Bedeutung innerhalb der Stadtentwicklung [war] dabei so heterogen gegenüber dem Mittelalter, daß hier der Unterschied deutlich hervortritt. Er muß im allgemeinen Zusammenhang erörtert werden.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 775-796.
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