Max Weber

Nachtrag[360] 1 zu dem Aufsatz über R. Stammlers »Ueberwindung« der materialistischen Geschichtsauffassung

S. 372 heißt es: »Sobald ... die Verursachung menschlicher Handlungen zur Erwägung steht, so sind wir wieder in naturwissenschaftlicher Betrachtung begriffen«, und im Anschluß daran (von Stammler gesperrt!): »Ursachen« des Handelns gibt es nur in physiologischer Art. – Und weiterhin wird dies näher dahin präzisiert, daß die »kausal bestimmenden Gründe des Handelns« – »im Nervensystem liegen«. Diese Behauptung würde heute wohl kaum von irgendeiner der verschiedenen Theorien über die Beziehungen somatischer zu psychischen Vorgängen akzeptiert werden. Sie ist entweder identisch mit »Materialismus« im strikten Sinn des Wortes, – dies dann, wenn sie behauptet, daß das »Handeln« aus physischen Hergängen ableitbar sein müsse, um überhaupt kausal erklärbar zu sein, daß eine solche Ableitung aber auch tatsächlich im Prinzip überall als möglich vorausgesetzt werden dürfe, – oder aber sie will dem Indeterminismus eine Hintertür lassen, indem sie das nicht »materiell«, d.h. aus physischen Hergängen, Ableitbare als überhaupt nicht der kausalen Betrachtung unterliegend hinstellt. Eine im Erfolg gleichartige Zweideutigkeit findet sich auf S. 339 (unten), 340 (oben). Eigene Handlungen, meint Stammler dort, könne man sich auf zweierlei verschiedene Art vorstellen: »entweder als kausal bewirktes Geschehnis in der äußeren (NB.!) Natur oder als von mir zu bewirkende.« »Im ersten Fall habe ich« (? soll heißen: erstrebe ich) »eine sichere naturwissenschaftliche Erkenntnis bestimmter kommender Handlungen als äußerer (NB.!) Vorgänge ... In der zweiten Möglichkeit fehlt die Wissenschaft (wessen?) von der kausalen Notwendigkeit gerade dieser Handlung; dieselbe[360] ist (NB.!) in der Erfahrung möglich, aber an und für sich (?) nicht notwendig ...« Man sieht hier sofort, welche Unklarheit durch die ganz unmotivierte Einschränkung des Begriffes »Handlungen« als lediglich »äußerer« Vorgänge in der ersten Hälfte der Alternative hervorgebracht wird. Die kausale Betrachtung beansprucht für sich auch die »innere« Seite des Hergangs, auch die Vorstellung der Handlung als einer »zu bewirkenden«, die Abwägung der »Mittel«, endlich die Abwägung ihres »Zwecks«: alle diese Vorgänge, und nicht nur die »äußeren« Hergänge, behandelt sie als strikt determiniert. Stammler scheint das im folgenden Absatz (S. 340 Abs. 1) selbst so zu verstehen, indem er von der Betrachtung »menschlichen Tuns als Naturereignis« und weiterhin (Abs. 2) davon spricht, daß der »Hungernde und Dürstende ... Speise begehrt und Nahrungsmittel ..., kausal getrieben, zu sich nimmt«. Denn das »Begehren« ist ja etwas offenbar »Psychisches«, also nichts »Aeußeres« und direkt »Wahrnehmbares«, sondern etwas aus »äußeren« Wahrnehmungen erst zu »Erschließendes«. Und die Beschaffung und Aufnahme der Nahrung ist – nach Stammlers eigener Terminologie – in jedem Falle eine »Handlung«, welche ihrerseits in sehr verschiedenem Grade auf Abwägung von »Mittel und Zweck« beruhen kann. Vom unreflektiertesten »Zugreifen« bis zur raffiniertesten Zusammenstellung eines Menüs aus einer Speisekarte bei Véfour findet ein durch keinerlei scharfe Grenzscheide unterbrochener Uebergang statt, selbstredend aber sind alle denkbaren Nuancen, vom völlig »triebmäßigen« bis zum völlig »durchreflektierten« Handeln, in genau dem gleichen Sinne Objekt kausaler, mit der Voraussetzung restloser Determiniertheit arbeitender, Betrachtung. Stammler selbst weist S. 342/3 gegen Ihering dessen Unterscheidung »mechanischer« und »psychologischer«, d.h. durch Zweckvorstellungen bestimmter, Kausalität zurück, da es keine eindeutige sachliche Grenze zwischen beiden gebe. Aber warum unterscheidet er selbst in seinen eigenen Exemplifikationen nur zwei Seiten vorher geflissentlich2 zwischen »rationalem« und »triebhaftem« Handeln? Ein Lapsus ist das nicht; vielmehr[361] fällt er dabei selbst völlig in die Iheringsche Scheidung zurück. Auf S. 340 heißt es (Absatz 3), daß 1. die »Vorstellung (NB.!) eines zu stillenden menschlichen Hungers« sich dann »in der Richtung kausaler Naturerkenntnis bewege«, wenn »der Vorgang des Einnehmens von Nahrung als kausal notwendig aus instinktivem Triebleben heraus hingestellt« (NB.!) werde, – Beispiel: »der Säugling an der Mutterbrust« –, daß dagegen 2. »die Zurichtung und Erledigung (!) eines feinen Gastmahles – ... als ein Ereignis vorgestellt (NB.!) wird, das durchaus nicht als ein unvermeidlich notwendiges erkannt« (NB.!) werde, »sondern erst von dem Handelnden selbst zu bewirken ist«. Hier liegt wieder die uns schon bekannte »Diplomatie der Unklarheit« klar zutage: der Satz ad 1 erweckt die Vorstellung, daß nur die Vorgänge des »Trieblebens« kausaler Analyse unterliegen, – aber direkt gesagt wird es nicht. Und ebenso ist in Satz 2, der das »Diner« als einen Bestandteil des »Reiches der Freiheit« behandelt, sorgsam vermieden zu sagen, von wessen »Vorstellung«, »Erkenntnis« usw. eigentlich die Rede ist: ist es der Handelnde selbst, der sie im einen Fall hat und im anderen nicht, oder sind »wir«, die Erkenntnissubjekte, es, welche mit verschiedenen Arten von Fragestellungen an die Gebarung des Handelnden als Objekt herantreten? Es scheint, daß bei der »Vorstellung des zu stillenden Hungers« unter Nr. 1 von unserer, der Erkennenden, Vorstellung, im Fall des »feinen Gastmahls« dagegen von der Vorstellung desjenigen, der es (nach St. s Ausdruck) zu »erledigen« begierig ist, geredet wird, – sonst wäre ja der Schlußsatz (»zu bewirken ist«) sinnlos: Wir haben also wieder einmal ein Beispiel der bei Stammler beliebten Ineinandermengung von Objekt und Subjekt der Erkenntnis, durch die er präzisen Formulierungen aus dem Wege geht.

Diese Art von Konfusion zieht sich aber durch das ganze Kapitel »Kausalität und Telos« hin. Für alles, was in diesem Abschnitt des Vierten Buchs an Richtigem gesagt wird, hätten die Ausführungen auf S. 374, letzter Absatz bis S. 375, Mittelabsatz vollkommen genügt. Die Frage, ob und aus welchen »Gründen« eine, sei es empirisch-wissenschaftliche, sei es ethische oder ästhetische Einsicht ihrem Inhalt nach zu billigen ist, muß von der Frage, wie, d.h. aus welchen »Ursachen«, sie kausal entstanden ist, gänzlich getrennt werden. Allein wenn es sich,[362] wie Stammler selbst hier ganz richtig sagt, um zwei gänzlich verschiedene Fragestellungen handelt, – was soll es dann heißen, wenn S. 375 (Mitte) alsbald wieder gesagt wird, »die letztere« (die Frage der »systematischen Bedeutung«, d.h. der Geltung einer Einsicht) sei »die sachlich bevorzugte und ausschlaggebende«? Für wen denn? Und weiter: das Recht streng empirischer Untersuchung der Genesis auch aller »ideellen« Lebensinhalte scheint zugestanden, wenn (S. 374 Absatz 1) gesagt wird, daß bei »vollständiger« Kenntnis der empirischen Bedingungen für das Vorhandensein einer »Idee« es »möglich« sei, daß »der empirische (von Stammler gesperrt!) Effekt – daß dieses und jenes geschieht oder unterbleibt – sich daraus so sicher, wie irgendein sonstiger Vorgang der Natur, aus den gegebenen Bedingungen herausrechnen lassen würde.« Aber schon die Ausdrucksweise erscheint seltsam gewunden: trotz »vollständiger« Kenntnis erscheint die Berechnung nur »möglich«, und ferner ist statt der einfachen Feststellung, daß die empirische Existenz der »Idee« selbst eindeutig determiniert sei, der Begriff »empirischer Effekt« eingeschoben und zweideutig erläutert. Zweideutig deshalb, weil der Ausdruck an die schon zitierte Einschränkung auf »äußere« (physiologische) Vorgänge erinnert, und weil durch eine ganze Serie von Aeußerungen des gleichen Kapitels und ebenso der folgenden das mehrfach gemachte Zugeständnis, daß die streng empirische Fragestellung für das Gebiet der »Ideen« genau so zu Recht besteht, wie für irgendwelche anderen Wirklichkeitsausschnitte, immer wieder in ähnlicher Weise verklausuliert und gelegentlich ganz zurückgenommen wird. Die Aeußerungen über Sinn und Schranken empirisch-kausaler Erkenntnis menschlichen Handelns leiden überdies aber durchweg an den unerträglichsten Unklarheiten und Widersprüchen.

Von der »Naturerkenntnis« wird S. 355, letzter Absatz, behauptet, sie führe stets »von der einen Ursache« zurück »auf eine höhere Ursache, von der die erstere die Wirkung ist«, – es werden m. a. W. die Naturgesetze als »wirkende Kräfte« hypostasiert. Dagegen wird 5 Seiten vorher (S. 350) ausführlich erörtert, daß die Kausalität nicht eine den Dingen »an und für sich« zukommende Verknüpfung sei, sondern nur »ein Denkelement, ein einheitlicher Grundbegriff innerhalb unserer Erkenntnis«. Und während es auf S. 351 unten von der »Erfahrung«[363] heißt, daß sie lediglich den Inbegriff der »nach einheitlichen Grundsätzen (›zum Beispiel‹ – NB.! – ›dem Kausalitätsgesetze‹) geordneten Wahrnehmungen .... abzugeben« vermöge, und ebenso S. 371 die Kausalität als ein »Beispiel« der die Erkenntnis leitenden empirischen »sicheren allgemeinen Begriffe« (!) bezeichnet ist, – wird S. 368 gesagt, daß es »keine andere wissenschaftliche Erkenntnis konkreter Erscheinungen«3 gebe als eine kausale. Womit es dann wieder ganz und gar nicht stimmt, daß auf S. 378 von einer »Zweckwissenschaft« und S. 379 von »wissenschaftlich zu leitenden Zwecken der Menschen« die Rede ist. Die »Zweckwissenschaft« nun wird S. 378 der »Naturwissenschaft« entgegengesetzt, die also ihrerseits hier offenbar mit »kausaler« Erkenntnis identisch sein müßte. Auf S. 350 wird die Kausalität als Grundkategorie aller »Erfahrungswissenschaft« behandelt, so daß also jene »Zweckwissenschaft« keine Erfahrungswissenschaft sein dürfte. Wie grenzt sich denn nun die »Zweckwissenschaft« gegen die »Erfahrungswissenschaft« ab? Wiederum erhalten wir, anstatt der einfachen Antwort: daß es sich um eine gänzlich andere Fragestellung handle, und anstatt einer Darlegung und logischen Analyse derselben einen Wirrwarr schiefer und fast durchweg ganz unbrauchbarer Aufstellungen.

Wir haben, heißt es S. 352, den »Gedanken von vorzunehmenden Wahlen, von zu bewirkenden Handlungen ... im Inhalt unserer Vorstellungen«. Gut. Die Existenz solcher Vorstellungen ist eine Tatsache der alltäglichen inneren Erfahrung, die kein Mensch bezweifelt. Was folgt nun daraus? »Weshalb soll dieser Gedankeninhalt eine Wahnvorstellung sein?« fragt Stammler. Nun ist – schalten wir hier gleich ein – selbstredend jener »Inhalt« vom Standpunkt des Determinismus aus ganz und gar keine »Wahnvorstellung«. Es steht empirisch absolut fest, daß die Fähigkeit des Menschen, sein Verhalten zum Gegenstand bewußter Erwägung zu machen, die allererheblichste Tragweite für die Art dieses seines Verhaltens selbst hat. Daß etwa der Handelnde, um handeln zu können, der Vorstellung bedürfe, daß sein Handlen nicht »determiniert« sei, – davon ist natürlich gar keine Rede. Ebensowenig[364] davon, daß die Behandlung seines Verhaltens als eines eindeutig determinierten Vorgangs jene Vorstellung der »Wahl« in eine »Illusion« verwandle: zwischen den ihm als »Möglichkeiten« bewußt gewordenen Zweckvorstellungen hat ja, gerade »psychologisch« betrachtet, ein »Kampf« stattgefunden. Ebensowenig endlich davon, daß durch deterministische Ueberzeugungen der getroffenen oder künftig zu treffenden Wahl der Charakter einer »eigenen« Handlung des Wählenden als »seiner Handlung«, d.h. – im empirischen Sinn – als eines auch seiner persönlichen »Eigenart«, seinen (empirisch) »konstanten Motiven« kausal zuzurechnenden Vorgangs, genommen werde. Das Gebiet der »Illusion« würde umgekehrt erst betreten, wenn der Handelnde »indeterministische« Metaphysik zu treiben begänne, d.h. für sein Handeln »Freiheit« im Sinn von völliger oder teilweiser »Ursachlosigkeit« in Anspruch nähme. Eine solche Metaphysik betreibt nun aber Stammler. Eine »Wahnvorstellung« wäre nämlich jene Vorstellung der »Wahl«, nach seiner aus den vorhergehenden Ausführungen (S. 351/2) ganz zweifelsfrei hervorgehenden Ansicht, dann, wenn die »zu bewirkenden Handlungen« trotz des Vorhandenseins jener Vorstellung der »Wahl« als determiniert gedacht würden. Das würde, heißt es schon S. 344, dem Begriff der »Wahl« widersprechen, der »eine zwingende Kausalität« ausschließt, – eine Behauptung, deren Unzweideutigkeit S. 344/45 eben wieder dahin eingeschränkt und verundeutlicht wird: daß es »keinem Zweifel« unterliege, daß wir »in den weitaus meisten Fällen« den »Erfolg« zukünftigen menschlichen Tuns als einen solchen annehmen, »der auch unterbleiben könnte«.

Diese Auffassung Stammlers widerspricht, nach seiner Ansicht (S. 352), der unbedingten Geltung des Satzes vom Grunde für alle Erfahrung deshalb nicht, weil 1. jene Handlungen ja, solange zwischen ihnen »gewählt« wird, noch keine Erfahrungstatsachen, sondern »Möglichkeiten« sind (was doch natürlich dann für irgendeinen »Naturvorgang«, etwa den Kampf zweier Tiere, solange der Ausgang nicht feststeht, ganz ebenso gelten müßte), – 2. weil das Problem der »rechten« Wahl, d.h. also: des Gesollten, kein Problem der »Naturforschung« ist (daselbst). Die letztere These trifft natürlich durchaus zu, – aber es stünde äußerst übel um sie, wenn ihre Richtigkeit davon abhinge, daß Stammlers übrige, mit dieser »Wertfrage« nicht[365] im mindesten zusammenhängende, Argumentation in betreff des Vorgangs des »Wählens« eines Handelnden und über die Grenzen der Kausalbetrachtung korrekt wäre. Selbstredend ist das nicht der Fall. Ich kann einen Sonnenuntergang »schön« und einen Regentag »häßlich« finden oder eine Ansicht als »Trugschluß« beurteilen, obwohl ich in allen drei Fällen von der kausalen Determiniertheit des Hergangs überzeugt bin. Ich kann eine »instinktive« Nahrungsaufnahme ganz genau ebenso wie ein raffiniertes Diner auf ihre hygienische »Zweckmäßigkeit« prüfen, und ebenso wie bei irgendeiner menschlichen »Handlung« kann ich auch bei jedem Naturvorgang die Frage stellen: wie er (in der Vergangenheit) abgelaufen sein oder (in der Zukunft) ablaufen »müßte«, »damit« der Erfolg das Ergebnis gewesen sein oder werden sollte: – jeder Arzt hat (implicite) diese Frage in jeder Stunde zu stellen. Daß dem »rational« Handelnden mehrere verschiedene Erfolge als, je nach seinem eigenen Verhalten, »möglich« und vielleicht ferner auch mehrere verschiedene »Maximen« als zur Wahl stehende Leitmotive des letzteren vorschweben und daß sein Handeln so lange »gehemmt« ist, bis dieser innere »Kampf« so oder so geschlichtet ist, – dies ist für die empirische Betrachtung eine zweifellos grundlegend wichtige Modalität des »psychischen Geschehens«. Aber daß mit der Analyse derartiger Vorgänge, bei denen unter den kausalen Determinanten des Verhaltens eines Menschen die Vorstellung eines oder mehrerer möglicher »Erfolge« sich findet – wohlgemerkt: stets nur als eine der Determinanten – ein Verlassen des Bodens der Kausalbetrachtung stattfände, davon ist natürlich keine Rede. Der Verlauf einer »Wahl« zwischen mehreren als »möglich« vorgestellten »Zwecken« ist, sobald er zum Gegenstand empirischer Betrachtung gemacht wird, selbstredend von Anfang bis zu Ende, mit Einschluß aller rationalen Erwägungen und sittlichen Vorstellungen, die in dem Wählenden auftauchen, ganz ebenso streng determiniert zu denken wie irgendein »Naturereignis«. Stammler, der dies nirgends mit dürren Worten leugnet, redet dennoch Seiten über Seiten darum herum. Bald spricht er davon, daß es »Freiheit im Vollbringen« nicht gebe (S. 368), – gibt es also (empirisch) Freiheit »im Wollen«? Bald wird »Erfahrung« mit dem Inbegriff des »Wahrgenommenen« identifiziert, – und da seelische Vorgänge nicht »wahrnehmbar« sind, so bleibt der Leser über[366] die Frage ihrer Determiniertheit im Unklaren, zumal S. 341 oben ausdrücklich »der Gedanke von etwas menschlich zu Bewirkendem« als nicht in das auf S. 378 mit der »Natur« identifizierte Reich der »Wahrnehmungen« gehörig bezeichnet wird4. Oder es wird – wie in der eben erörterten Stelle S. 352 – damit argumentiert, daß »zukünftige«, als »möglich« vorgestellte Erfolge ja noch keine »Erfahrungstatsachen« seien. Ja, als ob der kausale Progressus nicht dem logischen Sinn nach ebensoweit reichte als der Regressus, wird direkt behauptet, daß Erfahrung nur über vergangene Tatsachen möglich sei (S. 346), daß sie deshalb prinzipiell »unabgeschlossen« und »unvollständig« bleibe. Damit vermischt findet sich gesagt, daß Erfahrung nicht »allwissend« sei, daß sie ferner nicht »das All menschlicher Einsicht« umspanne (a.a.O.) – eine Metabase vom Objekt ins Subjekt –, daß sie (S. 347) nur innerhalb ihrer »Formgesetze« (?) gelte, also nicht »ewige Wahrheiten« von »unwandelbarer Geltung« produziere, daß sie mithin keinen »absoluten Wert« beanspruchen könne. Auf S. 345 oben hieß es dagegen, wie wir sahen, nur, daß uns zukünftige Handlungen »meist« als nicht notwendig eintretend gelten. Und so geht dies unklare Hin- und Herreden, welches alle möglichen Probleme anschneidet, um sie sämtlich ineinander zu wirren, immer weiter. Die Möglichkeit, eine Handlung als eine »zu bewirkende« zu »denken« (NB.!) – man weiß wiederum nicht: ob für den Handelnden oder für »uns«, denen seine Handlung Erkenntnisobjekt ist – wird zwar (nach S. 357 unten, 358 oben) neben die Möglichkeit, sie als »kausal bedingt« aufzufassen, gestellt, – gleichzeitig aber wird darauf verwiesen, daß diese letztere Möglichkeit dadurch beschränkt sei, daß es noch »kein einziges sicheres Naturgesetz« gebe, »wonach die kausale Notwendigkeit kommender menschlicher Taten nach Art etwa des Gesetzes der Schwere eingesehen würde«, –[367] und würde dies etwa »ausgebessert« (!), so wäre doch noch nicht »alles demnächstige Tun von Menschen« von diesem Gesetz »erfüllt« (!). Als ob die »Totalität« des (außermenschlichen) Naturgeschehens selbst bei absolutester Vollständigkeit »nomologischer« Erkenntnis jemals aus Gesetzen deduzierbar und »berechenbar« wäre! Von dem Verhältnis zwischen »Gesetz« und »Geschehen« und überhaupt von der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Irrationalität des Wirklichen hat Stammler keinerlei noch so unvollkommene Begriffe. Obwohl sich Stammler gelegentlich erinnert, daß eine noch so große faktische Lückenhaftigkeit der »Erfahrung« für den logischen Sachverhalt gar nichts besagt, wird doch immer wieder damit operiert und so das »Reich der Zwecke« immer wieder zum Lückenbüßer degradiert, während auf der anderen Seite ihm ein erkenntnistheoretisch heterogener Charakter vindiziert wird. – Doch lassen wir es genug sein des grausamen Spiels und stellen wir kurz fest, was Stammler hätte meinen können.

Wir müßten uns also nach einem anderen »Natur«begriff umsehen, um den Gegensatz »naturwissenschaftlicher« und »sozialwissenschaftlicher« Erkenntnis in Stammlers Sinn zu erfassen. Machen wir, ehe wir Stammlers eigenen Bemühungen weiter nachgehen, an der Hand der Ausführungen des vorigen Abschnittes zunächst einmal unsererseits den Versuch, uns zu verdeutlichen, welche Möglichkeiten dazu vorliegen. –

Die »äußeren« Normen gelten, wie wir schon sahen, Stammler als die »Form«, die »Voraussetzung«, die »erkenntnistheoretische Bedingung« usw. des »sozialen Lebens« und seiner Erkenntnis. Wir haben schon früher, an dem Beispiel der Spielregel5, die verschiedenen Möglichkeiten, in diesen in stets wechselnder Form sich wiederholenden Aufstellungen einen vernünftigen Sinn zu finden, erörtert und ziehen nun einige Konsequenzen. Wir lassen dabei zunächst einmal die Möglichkeit, daß die »Erkenntnis« des »sozialen Lebens« etwa nach Stammlers Ansicht nur als eine »wertende« Betrachtung desselben, als Aufsuchung eines »Ideals« und ein »sozialpolitisches« Messen seines empirischen Befundes an dem so gefundenen Maßstab denkbar sein sollte, außer Betracht. Wir nehmen vielmehr an, es solle das Objekt einer empirischen Wissenschaft abgegrenzt[368] werden, für welche die »äußeren« (rechtlichen und »konventionellen«) Normen die Rolle einer »Voraussetzung« spielen.

Das Zweite Buch des Stammlerschen Werkes, betitelt: »Der Gegenstand der Sozialwissenschaft« will, wie wir s.Z. schon sahen, einen Begriff des »sozialen Lebens«, welcher dem (Rümelinschen) »Gesellschafts«-Begriff und dem Staatsbegriff gemeinsam übergeordnet sein soll, an den Begriff der »Regel« anknüpfen. Schon an der Stelle, wo dies zum ersten Male geschieht (S. 83 Z. 15), beginnen aber bei Stammler die Zweideutigkeiten: das Moment, welches »das soziale Leben als eigenen Gegenstand unserer Erkenntnis« konstituiere, heißt es dort, sei »die von Menschen herrührende Regelung« (S. 85 noch deutlicher: eine »von Menschen ausgehende Norm«) »ihres Verkehrs und Miteinanderlebens«. Heißt dies nun (I.), daß diejenige »Regel«, an welcher der Begriff »soziales Leben« verankert wird, von Menschen 1. als »geltensollende« Norm geschaffen sein oder 2. als Maxime befolgt werden oder 3. daß beides der Fall sein müsse? Muß sie also überhaupt »Maxime« empirischer Menschen sein? Oder genügt (II.) ein Sichzueinanderverhalten von räumlichzeitlich koexistenten Menschen, welches »wir« – die Betrachtenden – »begrifflich« als einer »Regel« unterstehend ansehen, und zwar 1. in dem Sinn, daß wir eine »Regel« daraus »abstrahieren« können, daß es m. a. W. empirisch geregelt abläuft?, oder aber 2. in dem – wie wir weitläufig erörtert haben – davon gänzlich verschiedenen Sinn, daß »uns«, den Betrachtenden, eine »Norm« darauf – wohlgemerkt: »ideell« – Anwendung finden zu können oder zu müssen scheint?

Den Fall ad II, 1 (empirische Geregeltheit) würde Stammler jedenfalls alsbald als selbstverständlich nicht von ihm gemeint ablehnen: »Regel« ist als »Imperativ« zu verstehen, nicht als empirische Regelmäßigkeit. Gegenüber einer Bemerkung Kistiakowskis behauptet er geradezu, sehr vom hohen Pferd herab, gar nicht darauf gefaßt gewesen zu sein, daß jemand nach den Ausführungen seines Buchs die Frage überhaupt an ihn richten werde6. Wirklich? Was soll es denn aber alsdann bedeuten, daß er sich wieder und wieder so gebärdet, als ob das Miteinander der Menschen und ihre gegenseitige Beeinflussung für eine rein empirisch-kausale Betrachtung sich in ein »Getümmel«, ein »Chaos«, ein »Durcheinander« und wie seine Ausdrücke alle[369] heißen7 auflösen würde? Und vollends – angesichts jener Antwort an Kistiakowski, wonach (S. 641) ausdrücklich die nicht mit dem Begriff der »Regel« als eines »Imperativs« arbeitende Betrachtung von Beziehungen zwischen Menschen keine Erörterung »sozialen Lebens« in Stammlers Sinne sein soll –, wie ist es für Stammler möglich zu behaupten (S. 84), den »sachlichen« Gegensatz des »gesellschaftlichen« Lebens bilde das isolierte Dasein des »einzelnen«, und zwar ganz ausdrücklich eines gänzlich isoliert lebenden hypothetischen Urmenschen?, – während doch ganz offenbar der Gegensatz nur (zunächst einmal ganz unbestimmt formuliert) lauten könnte: »Die nicht unter ›menschlich gesetzte Regeln‹ (im imperativischen Sinn des Wortes) fallenden Beziehungen von Menschen (zur ›Natur‹ und) zueinander«. Es fällt ferner auf, gehört aber zu Stammlers uns schon bekannter Manier, daß an der angeführten Stelle plötzlich von »sachlichen«, nicht mehr von »begrifflichen« oder »logischen« Gegensätzen geredet wird, im Gegensatz zu S. 77 und sonst. Aber S. 87 (oben) bereits wird beides wieder identifiziert, – Verschiedenheit des Betrachtungszwecks und Verschiedenheit der empirisch »vorgefundenen« Tatbestände also als ein und dasselbe behandelt. In Wahrheit müßten wir offenbar, wenn es sich 1. um die »logische« Abgrenzung eines eigenen »Gegenstandes unseres Erkennens« durch Aufzeigung des spezifischen Sinnes der Betrachtung handeln sollte, von dem Gebiet des »sozialen Lebens« in Stammlers Sinn ausschließen: »alle Beziehungen (zur ›Natur‹ und) zu anderen Menschen«, wenn sie von uns lediglich in ihrer Faktizität, nicht aber als ideell mögliche Anwendungsfälle von »Regeln« (im imperativischen Sinn) betrachtet werden. Das hieße also: ein »soziales Leben« gäbe es nicht für eine empirisch-kausale, sondern nur für eine »dogmatische« Wissenschaft. Wenn es sich dagegen 2. um die »sachliche« Herausgrenzung von Bestandteilen der empirischen Wirklichkeit, also aus der Welt der tatsächlich gegebenen »Objekte« handeln soll, auf Grund von qualitativen Differenzen, welche an jenen herauszugrenzenden Bestandteilen empirisch vorfindbar sind, – dann würde der (»sachliche«) Gegensatz zu Stammlers Begriff »soziales Leben« offenbar lauten müssen: »alles menschliche Sichverhalten« (zur »Natur« und) zu anderen[370] Menschen, für dessen Gestaltung faktisch die Menschen eine »Norm« als geltensollend entweder nicht »gesetzt« haben (oben Nr. I, 1), oder für welches sie (Nr. I, 2 und 3) faktisch eine solche als »Maxime« nicht befolgen. Das hieße also: ob etwas ein »Naturvorgang« oder eine Erscheinung des »sozialen Lebens« ist, hängt davon ab, wieweit in concreto in betreff seiner entweder (I, 1) eine »Satzung« vereinbart worden war8, oder inwieweit außerdem (I, 3) seitens des oder der beteiligten Menschen in concreto unterbewußter, sei es positiver, sei es negativer Stellungnahme zu jenen »Satzungen« gehandelt worden ist, oder endlich (I, 2) inwieweit, trotz Fehlens einer ausdrücklichen »Satzung«, wenigstens subjektiv die Vorstellung von geltensollenden Normen für das äußere menschliche Verhalten im konkreten Fall das Handeln von Menschen beeinflußt oder doch wenigstens begleitet hat.

Vergebens würden wir Stammler selbst um eindeutigen Aufschluß über diese Fragen angehen. Er entzieht sich der Pflicht, einen solchen zu geben, mit jener schon früher besprochenen eigenartigen »Diplomatie der Unklarheit«, und zwar in diesem Fall durch das sehr einfache Mittel, die »Regel« zu personifizieren und lediglich »metaphorisch« zu reden. Auf S. 98/99 (oben) hören wir, die »äußere Regel« sei – in diesem Fall im Gegensatz zu der nach der »Gesinnung« fragenden sittlichen Norm – eine solche, »welche sich von der Triebfeder des einzelnen, sie zu befolgen, ihrem Sinne (NB.!) nach ganz unabhängig stellt«9, – also wird jeder die Metapher deuten: es handelt sich um ihre ideelle, dogmatisch erschließbare »Geltung«, um so mehr, als im folgenden Absatz (Zeile 8 ff.) ausdrücklich gesagt ist, daß es »der Regel« nicht »darauf ankomme«, »ob der Unterworfene überhaupt[371] sich darüber besinnt« (also doch wohl auch: ob er sie überhaupt kennt, – oder etwa nicht?), oder ob er ihr gemäß handelt aus »dumpfer Gewöhnung« (die doch natürlich, vom Standpunkt einer empirisch scharfen Scheidung pragmatischen, normbewußten Handelns von allem anderen, dem tierischen »Instinkt« schlechthin gleichzusetzen wäre). Ueber den Fall des faktischen Nichtbefolgtwerdens der »Regel« schweigt sich Stammler klüglich aus, obwohl nur dann wirkliche Eindeutigkeit des Gemeinten bestände, wenn auch für diesen Fall unzweideutig seine Irrelevanz gegenüber der ideellen (dogmatischen) »Geltung« der Regel festgestellt würde. Diese Unzweideutigkeit würde aber freilich die nun folgende scholastische Manipulation unmöglich gemacht haben: (S. 100) weil die (personifizierte) Regel »von den Triebfedern (NB!), die dem isolierten (!) Men schen ... eigen sind, sich unterscheidet« (oben hieß es: »sich unabhängig stellt«), tritt sie »als ein neuer, selbständiger Bestimmungsgrund« (NB!) auf. S. 98/99 oben hörten wir, der (empirische) Bestimmungsgrund (»Triebfeder« heißt er dort) für das äußere Verhalten sei irrelevant, »die Regel« – wie Stammler sich ausdrückte – »stelle sich unabhängig« davon, das heißt also doch, des Metaphorischen entkleidet, wir abstrahieren10 bei normativer Bewertung von der empirischen Motivation der Handelnden und fragen nur nach der Legalität des äußeren Verhaltens. Hier wird plötzlich nicht nur der »isolierte« Mensch als begrifflicher Gegensatz hineingeschmuggelt, sondern ebenso plötzlich die ideelle »Geltung« einer Norm als eines Maßstabes der Bewertung, den wir, die Betrachtenden anwenden, wieder in einen empirischen Bestimmungsgrund menschlichen Handelns umgedeutet und dieser empirische Tatbestand – also, deutlicher gesagt, die auf S. 99 oben für gänzlich irrelevant erklärte Möglichkeit, daß der jener Norm (ideell) Unterworfene sich ihr aus sittlicher und formal-rechtlicher Gesinnung heraus bewußt fügt, – als das spezifische Merkmal »äußerlich geregelten Zusammenlebens« hingestellt. Die Erschleichung11 ist ganz[372] offenbar dadurch ermöglicht, daß der unaufmerksame Leser, indem davon geredet wird, daß »die Regel sich unabhängig stellt«, darüber im Unklaren belassen wird, daß wir – die erkennenden Subjekte – es sind, welche, in dem Fall nämlich, daß wir »Dogmatik« treiben und also »die Regel« als ein ideelles Geltensollen behandeln, eine Abstraktion vollziehen, während im zweiten Fall, wo es sich um empirische Erkenntnis handelt, die zu unsrem Erkenntnis objekt gehörigen, empirischen Menschen vermittelst der Aufstellung einer Regel einen empirischen »Erfolg« zu erzielen beabsichtigen und – mit verschiedenem Grade von Sicherheit – auch zu erzielen pflegen. Ja, um jedes Eindringen von Klarheit in das scholastische Halbdunkel abzuschneiden, personifiziert Stammler im folgenden Absatz (S. 100 Z. 23) als Parallele zur »Satzung« auch noch das »Naturgesetz« und stellt der ersteren, welche ein bestimmtes Zusammenleben »herbeiführen will«, das letztere, also die empirische Regelmäßigkeit, als die »erkennende (sic!) Einheit natürlicher Erscheinungen« gegenüber. Eine »wollende« Regel ist wenigstens eine an sich erträgliche, wennschon in diesem Fall absolut unerlaubte Metapher, – eine »erkennende« Regel aber ist einfach – Unsinn. Eine weitere Kritik erübrigt sich wohl nach den weitläufigen Ausführungen im vorigen Abschnitt, und ebenso sei es uns erspart, noch besonders darauf aufmerksam zu machen, wie aus [der Regel als] dem »selbständigen« (empirischen) »Bestimmungsgrund« des Handelns (S. 100) auf S. 101 unten wieder ein »formal bestimmen des Element« eines Begriffes wird, daraus dann auf S. 102 (Mitte) eine »erkenntniskritische Bedingung«, unter welcher dieser Begriff – des »sozialen Lebens« nämlich – »möglich« wird, worauf dann auf S. 105 – für Stammler selbst offenbar zu spät – die Mahnung folgt, man dürfe »aus der logischen Funktion (!) der äußeren Regelung« beileibe »nicht etwa ein kausales Wirken machen«, – was einige Seiten früher, wie wir sahen, durch Stammler selbst geschehen war. Aber die eigne Mahnung, logisch-begriffliche und empirisch-sachliche Beziehungen nicht zu verquicken – denn dies ist doch der allgemeiner formulierte Sinn jener Scheidung – fruchtet bei Stammler selbst auch für den gleich unmittelbar folgenden Verlauf seiner Erörterung nichts: schon im folgenden Absatz (S. 105)[373] wird, weil die beiden Begriffe »soziales Leben« und (nach Stammlers Ausdruck) »isoliertes« Leben sich, wie wir Stammler hier vorerst einmal glauben wollen, in der von ihm erstrebten Art scharf und exklusiv gegenüberstellen lassen, geschlossen, es könne auch in der empirischen Wirklichkeit keine Tatbestände geben, welche sich gegen die glatte Subsumierung unter einen von beiden Begriffen sträuben, es ist immer nur eines von beiden vorhanden (NB!), »ein drittes ist ganz undenkbar«. Welches sind, wollen wir noch einmal eingehender fragen, die beiden allein »denkmöglichen« Tatbestände? Auf der einen Seite »ein (NB!) gänzlich isoliert hausender (NB!) Mensch«, auf der andern Seite »sein Leben unter äußeren Regeln, verbunden mit anderen«. Die Alternative sei, meint Stammler, so absolut erschöpfend, daß auch eine »Entwicklung« nur »innerhalb eines der beiden Zustände«, nicht aber von einem Zustand »isolierten« zu einem solchen »sozialen Lebens« hin möglich sei – »für unsre Betrachtung«, wie ganz beiläufig mit uns schon bekannter Diplomatie eingeschaltet und – an der Robinsonade12 illustriert wird. Die Erschleichung liegt hier darin, daß auch an dieser entscheidenden Stelle in dem Leser die Vorstellung erweckt wird, als komme als Gegensatz gegen die durch »Satzungen« – wie wir der Unzweideutigkeit[374] wegen mit dem sonst von Stammler gebrauchten Ausdruck sagen wollen – verbundene Mehrheit von Menschen nur ein absolut isoliertes Individuum in Betracht, während an den verschiedensten anderen Stellen Stammler selbst von mehreren koexistenten Individuen spricht, deren Verhältnisse zueinander nur nicht durch »Satzungen« geregelt und also diese auch nicht als »Bestimmungsgrund« ihres gegenseitigen Verhaltens anzusprechen seien.

Ein solcher Zustand würde also auch bei Stammler selbst dem »isoliert Hausen« begrifflich gleichstehen. Dabei findet dann aber alsbald eine zweite Erschleichung statt, indem eine solche – von Stammler den Tierstaaten gleichgestellte – nicht durch »Satzungen« geregelte Koexistenz als »rein physisches« Zusammensein bezeichnet, und dadurch der Leser zu der Vorstellung eines gänzlich beziehungslosen, rein räumlich-zeitlichen Nebeneinander als des einzig möglichen Gegensatzes zum »sozialen Leben« veranlaßt wird, – während an anderen Stellen eingehend von der Herrschaft bloßer »Instinkte«, »Triebe« usw., also doch von »psychischen« Konstituenzien eines solchen Beisammenseins gesprochen wird. Und in dieser geflissentlichen Betonung des »Triebmäßigen«, welche in dem Leser die Vorstellung dumpfer Unbewußtheit erweckt, liegt an den betreffenden Stellen wiederum eine Erschleichung: Robinsons »Wirtschaft« (S. 105 unten), von der ausdrücklich die Rede ist, gehört, obwohl sie bei Defoe keineswegs »instinktiv«, sondern gerade teleologisch »rational« gebildet wird, ja ebenfalls nach Stammler nicht in den Bereich des »äußerlich geregelten Sichverhaltens«, sondern der »bloßen Technik«; und zwar, wenn Stammler irgend konsequent sein will, auch sein Zweckhandeln anderen »gegenüber«, d.h. mit[375] der bewußten Absicht, ihr Handlen planvoll zu beeinflussen, gehört in dem Falle nicht in den Umkreis »sozialen Lebens«, wenn es nicht durch »Satzungen« normiert ist. Die »logischen« Konsequenzen davon haben wir uns schon früher verdeutlicht; hier ist nur festzustellen, daß auch Stammler sie an einer Stelle (auf S. 101 unten, 102 oben) anerkennt. Freilich, wieder an einer anderen Stelle (S. 96 unten, 97 oben) macht er den Vorbehalt, daß schon die Benutzung der Sprache eine »konventionale Regelung« menschlichen Verkehrs bedeute, also soziales Leben konstituiere. Nun ist zwar jede Benutzung »sprachlicher« Mittel eine »Verständigung«, – aber weder ist sie selbst eine Verständigung über Satzungen, noch beruht sie auf »Satzungen«. Dies letztere behauptet zwar Stammler, weil – die Sätze der Grammatik Vorschriften seien, deren »Erlernung« ein bestimmtes Verhalten »bewirken solle«. Das ist im Verhältnis des Sextaners zu seinem Lehrer in der Tat richtig, und um diese Art der »Erlernung« einer Sprache zu ermöglichen, haben in der Tat die »Grammatiker« die empirischen Regelmäßigkeiten der Sprachtätigkeit in ein System von Normen, deren Innehaltung mit dem Bakel erzwungen wird, bringen müssen. Aber Stammler selbst sagt S. 97 unten, daß ein »gänzlich isoliertes Nebeneinanderleben« nur dann vorstellbar sei, wenn auch von einer »Uebereinstimmung« in »Sprache und Gebärden« (NB!) abstrahiert werde.

Hier rächt sich die Erschleichung, welche in der Antithese: »satzungsmäßig geregeltes Zusammenleben« – »gänzliche Isoliertheit« liegt. Denn die zuletzt erwähnte Bemerkung ist richtig. Aus ihr ergibt sich aber, daß einerseits das Faktum der »Uebereinstimmung«, gleichviel wie es kausal entstanden ist, ob durch »Satzung« oder durch unwillkürliche psychische Reaktionen, »Reflex«, »Ausdruckserwägungen«, »Instinkt« oder dgl., genügen muß, um »soziales Leben« zu konstituieren, daß also andrerseits auch die Tiere, trotz allen Geredes von Stammler auf S. 87-95, nach seiner eignen Begriffsbestimmung nur dann ein nicht soziales Leben führen, wenn es ihnen an übereinstimmender »Gebärde« – allgemeiner gesagt: an »Verständigungsmitteln«, denn unter diesen Begriff fällt alles das, wovon hier die Rede ist – gänzlich gebricht, und daß vollends die Menschen überall schon dann ein soziales Leben führen, wenn faktisch »Verständigungsmittel« welcher Art immer nachweislich sind, mögen diese nun

[376] durch menschliche »Satzungen« geschaffen sein oder nicht. Dies kann aber nicht wohl Stammlers Ansicht sein. Denn auf S. 106 (Mittelabsatz) wird die damit unvereinbare, gerade entgegengesetzte Ansicht, daß nur, wo eine »Satzung« geschaffen worden sei, »soziales Leben« existent werde, in folgendem etwas naiven Satze ausdrücklich vertreten: »Wollte jemand ... seine Phantasie in eine Periode menschlicher Existenz ... hineinversetzen, da allgemach (NB!) in den Gemütern ... ein Drängen zu einem Aneinanderschließen unter äußeren Regeln sich entwickelte ...: so käme doch alles (NB!) auf den Zeitpunkt der Neuentstehung (NB!) solcher Satzungen (NB!) an. Von da ab haben wir soziales Leben, vorher nicht; ein Zwischenstadium ... hat keinen Sinn« (!)13. Daß dem juristischen Scholastiker die Entwicklung »sozialen Lebens« nur in der Form eines Staatsvertrags möglich erscheint, ist ja nichts Neues. Wie »echt« aber die Scholastik ist, ersieht man auf S. 107 oben, wo »Entwicklung« und »begrifflicher Uebergang« einander gleichgesetzt und also mit der logischen Unmöglichkeit des letzteren – die Wortverbindung: »begrifflicher Uebergang« ist in der Tat ja ein Ungedanke – auch die empirische Unmöglichkeit der ersteren als erwiesen angesehen wird.

Gerade wenn aber ein solcher »Uebergang« »undenkbar« sein soll, wird nun die Frage doppelt brennend, welches denn das entscheidende Merkmal für die Neuentstehung oder, noch allgemeiner, für das Bestehen einer »Satzung« sein soll. Da die Wilden keine Gesetzbücher zu besitzen pflegen, so könnte darauf doch wohl nur geantwortet werden: jenes Merkmal ist ein Verhalten der Menschen, welches (juristisch geredet) für das Bestehen der Norm »konkludent« ist. Wann aber ist dies der Fall? Etwa nur dann, wenn sie in der Vorstellung der Menschen lebt, wenn diese also subjektiv bewußt nach »Norm«-Maximen leben – oder sie auch verletzen, wissend aber, daß eben »Verletzung« einer Norm vorliegt? Aber das subjektive innerliche Sich-Verhalten zur Rechtsnorm und überhaupt das Wissen von ihr soll ja doch, nach Stammler, für die Existenz der Norm irrelevant sein, »dumpfe Gewöhnung« (s. o.) leistet nach ihm ja dasselbe wie eine bewußte »Norm-Maxime«. Also käme es darauf hinaus, daß das Bestehen einer »Satzung« daran erkennbar ist, daß die Menschen sich äußerlich[377] so verhalten, als ob eine Satzung bestände? Aber wann ist dies der Fall? Der Vorgang des Säugens der Kinder durch die Mutter ist vom »Preußischen Allgemeinen Landrecht«, welches diese Leistung der Mutter gesetzlich anbefiehlt, zu einem Bestandteil des »sozialen Lebens« in Stammlers Sinn gestempelt. Die preußische Mutter, welche ihr Kind säugte, wußte von dieser »Norm« im allgemeinen wohl ebensowenig, wie ein Australnegerweib, welches die gleiche Leistung mit mindestens der gleichen Regelmäßigkeit vollzieht, davon etwas weiß, daß ihr das Säugen nicht durch »äußere Regeln« auferlegt worden ist und daß infolgedessen nach Stammler dieser Vorgang dort zu Lande offenbar nicht Bestandteil des »sozialen Lebens« ist, auch nicht etwa in dem Sinn des Bestehens einer entsprechenden »konventionellen« Norm, – es sei denn, daß man eine solche ganz einfach da als vorhanden ansehe, wo ein gewisses Maß rein empirischer »Regelmäßigkeit« des Verhaltens zu konstatieren ist. Ganz gewiß »entwickeln« sich – wieder auf die subjektive Seite gesehen – »konventionelle« Normvorstellungen empirisch sehr oft aus rein faktischen Regelmäßigkeiten, aus einer unbestimmten Scheu, von dem überkommenen faktischen Verhalten abzuweichen, aus dem Befremden und der daraus erwachsenden Abneigung, denen eine solche Abweichung von dem faktisch seit längeren Zeiträumen beobachteten Verhalten, wo sie vorkommt, bei anderen begegnet, oder aus der Besorgnis, daß Götter oder Menschen, deren (rein egoistisch gedachte) Interessen dadurch verletzt werden könnten, Rache üben möchten. Und es kann dann aus der Furcht vor »ungewohntem« Verhalten die Vorstellung der »Pflicht« zur Beobachtung des, rein faktisch, »Gewohnten«, aus der rein triebhaften oder egoistischen Abneigung gegen »Neuerungen« und »Neuerer« ihre »Mißbilligung« werden.

Aber wann nun dies subjektive Verhalten im konkreten Fall den Gedanken der »Satzung« in sich enthält, – das würde im Einzelfall sicherlich recht oft flüssig bleiben. Wenn es aber vollends auf den »subjektiven« Tatbestand, die »Gesinnung«, nach Stammler nicht ankommen soll, dann fehlt überhaupt jedes empirische Merkmal: das »äußere« Verhalten (Säugen) ist ja ganz dasselbe geblieben. Und wenn es sich unter dem Einfluß des Entstehens von »Norm«-Vor stellungen allmählich wandelt, dann ist es einfach Meinungssache, wann man aus ihm die empirische Existenz einer »äußeren« (»konventionellen« oder »rechtlichen«) Norm erschließen will.

[378] Da nun jenes in den »Gemütern« der gänzlich (NB!) »isoliert lebenden« Urmenschen entstehende zweck- und zielbewußte »Drängen« nach »Satzungen« in Stammlers begrifflichem Sinn natürlich ein Unsinn ist, so bliebe also, in seinem »Stil« gedacht, für die – von Stammler selbst ja ausdrücklich angeschnittene – Frage, wie man sich denn alsdann die empirische Entstehung von »sozialem Leben« aus einem tierartigen Aggregat überhaupt irgendwie vorstellen könne, schließlich nur die Antwort: sie ist schlechthin nicht als empirischer Vorgang in der Zeit denkbar: das »soziale Leben« ist sozusagen »transtemporal«14, weil mit dem Begriff »Mensch« gegeben, eine Auskunft, die freilich eben – keine Antwort auf eine empirische Fragestellung wäre, sondern eine Mystifikation. Und doch ist sie die unvermeidliche Rückzugspforte, wenn man aus der gedanklichen Möglichkeit, einen bestimmten »Begriff« des »sozialen Lebens« aufzustellen, auf die faktische Unmöglichkeit schließt, daß ein diesem Begriff entsprechender empirischer Tatbestand in der Wirklichkeit anders zustande gekommen sein könne, als so, daß die empirischen Menschen just die Aufgabe der »Verwirklichung« jenes »Begriffes« als das Ziel ihres Handelns betrachtet hätten. – Denn wenn man von dieser naiven Pragmatik Abstand nimmt, so bietet natürlich der hypothetische Gedanke eines »allmählichen« Erwachens von »Norm-Vorstellungen«, des Glaubens also, daß gewisse (mit Stammlers eignen Worten zu reden) »in dumpfer Gewöhnung« durch endlose Zeiträume hin ohne jeglichen Gedanken an ein »Sollen« oder gar eine »Satzung« »triebhaft« geübte Handlungen »Pflichten« seien, deren Unterlassung irgendeinen unbestimmt gefürchteten Nachteil bringen könne, keinerlei sachliche Schwierigkeiten, – auch der Hund hat »Pflichtgefühl« in diesem Sinn. Freilich, die Vorstellung, daß solche »Pflichten«, wie Stammler will, auf »menschlicher Satzung« beruhten, daß sie ferner, im Gegensatz zur »Ethik«, »nur äußere Legalität« (S. 98) beanspruchten usw., – dieser Stammlersche Begriffskram fehlt selbst bis an die Schwelle unserer, im gewöhnlichen Sinn des Wortes, »historischen« Kunde. Hält man die Notwendigkeit des (empirischen) Bestehens einer »Satzung« für einen Vorgang aus der[379] Welt des menschlichen Handelns fest, dann hat sich der dadurch umschriebene Umfang des »sozialen Lebens« konstant durch ganz allmählichen Uebergang reiner Faktizitäten in »äußerlich geregelte« Vorgänge verschoben, und wir können, zumal wenn man (wie Stammler tut) die »Konvention« einbezieht, diesen Vorgang fortgesetzt beobachten. Stammlers vorsorglich offen gehaltene Ausflucht (S. 106 unten, 107 oben), daß dies nur eine Entwicklung des »Inhalts« des sozialen Lebens bedeute, dessen Existenz aber schon vorausgesetzt werde, besagt natürlich zum Beweise der Undenkbarkeit eines »Uebergangs« schon deshalb nichts, weil für keinen Bestandteil dessen, was Stammler heute zum »sozialen Leben« rechnen würde, eine ähnliche Entwicklung ausgeschlossen werden kann. Ueberdies ist aber auch der Begriff »äußerlicher Normen« als Merkmal des »sozialen« Lebens im Gegensatz zum »sittlichen« für die empirische Betrachtung ganz unbrauchbar. Einerseits verlangt auch alle »primitive« Ethik gerade »äußere« Legalität und ist von »Recht« und »Konvention« empirisch nirgends scharf zu scheiden, andererseits sind [für] die primitiven »Normvorstellungen« die »Normen« gerade nicht »menschliche«, sondern, wenn die Frage nach dem woher? der Norm überhaupt auftritt, regelmäßig göttliche »Satzungen«. Schwierigkeiten würde dem Ethnographen die Frage, wie die einzelnen Komponenten unseres heutigen Begriffes z.B. von »Recht« und »Rechtsnormen« entstanden sein könnten, wahrlich in Hülle und Fülle bereiten, und faktisch bleibt ihm eine historisch zuverlässige Kenntnis vielleicht dauernd versagt, – aber sicherlich würde er sich nicht in die lächerliche Rolle des juristischen Schola stikers begeben, der gegenüber den Erscheinungen des Lebens primitiver Völker immer wieder nur die einfältige Frage stellen müßte: bitte, gehört dieser Vorgang nun unter die Kategorie: äußerlich, das heißt durch menschliche Satzung geregelten Verhaltens (im Sinn von Stammlers Werk über »Wirtschaft und Recht«, S. 77 ff.), oder gehört er unter: rein triebhaftes Zusammenleben (im Sinn von S. 87 ff.)?, – eines von beiden muß er unbedingt sein, sonst könnte ich mit meinem Schema ihn nicht begrifflich klassifizieren und er wäre folglich – schrecklich genug – für mich »undenkbar«.

Genug dieser Auseinandersetzungen mit einer Doktrin, welche, weil sie den »Sinn« der Begriffsbildung mißversteht, fortwährend den Erkennenden und das Erkannte ineinander schiebt,[380] wie zum Schluß noch folgender schöne Satz (S. 91) über den uns in der Erfahrung (NB!) entgegentretenden (!) Begriff (NB!) des »sozialen Lebens« zeigen möge: »... Dieses empirisch gegebene (NB!) soziale Leben ruht« (empirisch, kann das doch wohl nur heißen) »auf äußerer Regelung« (zweideutig, wie wir wissen), »die es« (doch wohl: jenes Faktum) »als besonderen Begriff (!) und eigenen Gegenstand begreiflich« (also: ein »Begriff«, der »begreiflich« wird!) macht; weil wir in ihr (der »Regelung« nämlich: zweideutig) »die Möglichkeit sehen, ... eine Verbindung unter den Menschen zu begreifen (NB!), die von der bloßen Feststellung (!) des natürlichen Trieblebens des einzelnen an sich unabhängig ist« (also: ein empirisches Faktum: eine »Verbindung von Menschen«, – welches von unsrer Erkenntnis gewisser andrer empirischer Tatsachen – empirisch »unabhängig« ist). Nochmals, genug von diesem Wirrwarr: man müßte, wollte man alle Fäden dieses Netzes von Sophismen, welches Stammler seinen Lesern, aber vor allem auch sich selbst, über den Kopf geworfen hat, lösen, im wörtlichsten Sinn des Wortes jeden Satz des Buchs nehmen und ihn auf seine Widersprüche mit sich selbst oder mit anderen Sätzen desselben Buchs hin analysieren.

Hier sei nur noch festgestellt, auf welchem Irrtum denn eigentlich die törichte Behauptung von der »Undenkbarkeit« jenes »Uebergangs« beruht. Ein solcher, jeden »Uebergang« ausschließender Gegensatz besteht in der Tat dann, wenn man das »ideelle« Geltensollen einer »Norm« irgendeinem rein »faktischen« Tatbestand gegenüberstellt, z.B. dem faktischen Handeln empirischer Menschen. Dieser Gegensatz ist freilich gänzlich unversöhnlich, und ein »Uebergang« ist begrifflich »undenkbar«, – aber aus dem höchst einfachen Grunde, weil es sich in diesem Fall um ganz verschiedene Fragestellungen und Richtungen unsres Erkennens handelt: im einen Fall dogmatische Betrachtung einer »Satzung« auf ihren ideellen »Sinn« hin und »wertende« Messung des empirischen Handelns an ihr, – im andern Fall Feststellung des empirischen Handelns als »Tatsache« und kausale »Erklärung« desselben. Diesen logischen Sachverhalt, daß es zwei derart verschiedene »Gesichtspunkte« der Betrachtung für unser Erkennen gibt, projiziert nun Stammler in die empirische Wirklichkeit. Dadurch entsteht auf seiten der letzteren jener Unsinn der »begrifflichen«[381] Unmöglichkeit eines »Uebergangs«. Und auf der Seite der Logik ist die angerichtete Konfusion nicht geringer: hier werden umgekehrt die beiden logisch absolut heterogenen Fragestellungen konstant vermischt. Durch eben diese Vermischung hat Stammler seiner selbstgestellten Aufgabe: Abgrenzung des Gebiets und der Probleme der »Sozialwissenschaft«, unübersteigliche Hindernisse geschaffen. Dies wird sofort erkennbar, wenn wir jetzt unsere Aufmerksamkeit den abschließenden Betrachtungen am Schluß des ersten Abschnitts dieses (Zweiten) Buchs zuwenden (S. 107 f.). Hier kommt Stammler auf das Prinzip seiner Problemstellung zu sprechen. Die »Sozialwissenschaft« müsse in ihrer »grundlegenden Eigenart neben der (!) Wissenschaft von der Natur« »ausgeführt«, das heißt offenbar: ihr gegenüber abgegrenzt werden. Den »Bestand« (! – soll heißen: »Gegenstand« im Sinn von »Wesen«) der »Naturwissenschaft« hält Stammler (a.a.O. Absatz 2) für »philosophisch gesichert«. Wirklich? Bekanntlich ist in den logischen Erörterungen der letzten 10 Jahre schlechthin nichts so bestritten wie eben diese Frage. In den früheren Abschnitten haben wir bereits nicht weniger als vier mögliche Arten von »Natur«-Begriffen kennengelernt15. Kein einziger davon aber wäre als Gegensatz des Stammlerschen »äußerlich geregelten Zusammenlebens« verwertbar. Diejenigen Naturbegriffe, welche einen Teil der empirisch gegebenen Wirklichkeit in einen Gegensatz zu einem andern Teil, in letzter Linie zu den sog. »höheren« Funktionen des Menschen, stellen, passen schon deshalb nicht, weil z.B. das ganze Gebiet der »nur« ethischen, das »innere« Verhalten betreffenden, Normen von Stammler als außerhalb seines Begriffs liegend ausgeschieden wurde. Aus dem gleichen Grunde ist auch der Gegensatz von »Natur« als dem »Sinnlosen« gegenüber einem auf seinen »Sinn« hin angesehenen Objekt nicht verwertbar, weil keinesfalls alles »Sinnvolle«, nicht einmal alles »sinnvolle« menschliche Handeln, unter Stammlers Begriff des »äußerlich Geregelten« fallen würde. Der logische Gegensatz von »naturwissenschaftlicher« Erkenntnis als der generellen (nomothetischen) gegenüber der individuellen (historischen) bleibt ganz außerhalb von Stammlers Gesichtskreis. Der Gegensatz von »naturalistischer« im Sinn von »empirischer«, also nicht »dogmatischer« Erkenntnis und ein entsprechend zu[382] umgrenzender »Natur«-Begriff bliebe von den bisher erörterten möglichen Bedeutungen dieses Wortes also anscheinend allein übrig. Da aber die Stammlersche »Sozialwissenschaft« ja nicht Jurisprudenz sein soll, und natürlich auch nicht etwa eine Wissenschaft, welche, im Unterschiede zur Jurisprudenz, auch die »konventionellen« Regeln nach Art der dogmatischen Jurisprudenz erörtert, – so ist offenbar auch dieser Gegensatz nicht von Belang. »Sozialpolitisch« (im weitesten Sinn des Wortes) würden alle die praktischen Probleme heißen, bei denen gefragt wird: wie soll äußeres menschliches Verhalten »rechtlich« oder »konventionell« normiert werden? Wenn wir nun eine empirische Wissenschaft so abzugrenzen versuchen würden, daß sie das genaue Pendant zu jenem Komplex praktischer Probleme bildete, und sie alsdann Stammler zu Liebe »Sozialwissenschaft«, ihr Objekt aber »soziales Leben« taufen würden, so müßte der Bereich des letzteren wohl dahin definiert werden: Zum »sozialen Leben« gehören alle diejenigen empirischen Vorgänge, deren »äußerliche« Normierung durch »menschliche Satzungen« »prinzipiell«, d.h. ohne sachlichen Widersinn, denkbar ist. Ob eine solche Abgrenzung des Begriffs »soziales Leben« irgendwelchen wissenschaftlichen »Wert« haben würde, – darnach fragen wir an dieser Stelle keineswegs. Es genügt hier, daß sie ohne Widersinn und ohne dem rein empirischen Wesen des Objekts: »soziales Leben« etwas zu vergeben, vollziehbar wäre und zugleich doch dem Sinn nach alles, was Stammler, wenn er sich selbst »richtig« verstände, allenfalls wollen könnte: die Abgrenzung des Objekts vom Standpunkt der »äußeren Regel«, und zwar der Regel nicht als empirischer Faktizität, sondern als »Idee«, logisch und sachlich wenigstens möglich machen würde, indem das Ineinanderfließen von ideeller »Geltung« und empirischem »Sein« der »Regel« beseitigt und zugleich die unglückselige Vorstellung abgeschnitten wäre, als ob in dem so abgegrenzten Gebiet eine eigene »Welt der Zwecke« oder überhaupt irgend etwas nicht der kausalen Betrachtung Unterliegendes, dennoch aber empirisch Existentes gegeben sei.


Fußnoten

1 Siehe Anm. S. 359 vorstehend.


2 Und zwar obwohl Vorländer in den »Kant-Studien«, Band I ihn auf das »Mißverständliche« dieser Beispiele aufmerksam gemacht hatte. Wo V. »Mißverständnis« annimmt, liegt eben in Wahrheit ein ängstliches Vermeiden der Klarheit seitens Stammlers vor.


3 Die grundschiefe Formulierung erweckt den Anschein, als ob die eigentlichste Funktion der Kausalbetrachtung nicht generalisierend sei, und als ob Werturteile sich nicht auf Individuelles beziehen könnten.


4 Dabei bleibt natürlich auch wieder das uns sattsam bekannte Halbdunkel darüber, ob jener »Gedanke« als unser Gedanke oder als ein empirisches Objekt gemeint ist. Ueberdies ist natürlich gar nicht einzusehen, warum ein »Trieb« sich jenem »Reich« einfügt, ein »Gedanke« aber nicht. Denn »wahrnehmbar« ist der »Trieb« doch so wenig wie der »Gedanke«. Und »hineinversetzen« kann man sich natürlich nicht nur (wie S. 340 Mitte gesagt wird) in den »Trieb«, sondern erst recht in den »Gedanken« eines andern. Jene Aeußerung über das Sich-Hinein versetzen in »Trie be« hindert übrigens Stammler nicht, schon auf derselben Seite (unten) wieder nur von der kausalen Bedingtheit »äußerer« Ereignisse zu reden.


5 Siehe oben S. 337 ff. in diesem Bande.


6 Stammler, »Wirtsch. u. Recht«, Anm. 51 zu S. 88 (hierzu ebda. S. 641).


7 Vgl. schon auf S. 91 des Stammlerschen Buches.


8 Man beachte, daß auf S. 92 Abs. 3, 4 von Stammler »Verabredung« im (freilich gänzlich schiefen) Gegensatz zum bloßen »instinktiven Triebleben« als Merkmal eingeschaltet ist, S. 94 von Menschensatzung gesprochen wird und nach S. 94 ein »soziales Dasein« der Tiere dann als bestehend anzuerkennen sein würde, wenn bei Tiervereinigungen (z.B. im Bienenstaat) nachweislich »solche äußere Regeln von den betreffenden Tieren aufgestellt« worden wären, nach denen sie sich nun richteten.


9 Die Scheidung von »Sittlichkeit« einerseits, »Recht« und »Konvention« andererseits entspricht dem Ueblichen. Daß die Frage, aus welchen Gründen ein äußeres Verhalten einer Rechtsnorm nicht entspricht, aus welcher »Gesinnung« insbesondere (dolus, culpa, bona fides, error etc.) eine bestimmte, fremde rechtlich geschützte Interessen verletzende Handlung hervorging, keineswegs rechtlich irrelevant ist, möge jedoch immer im Auge behalten werden, um die prinzipielle Schärfe dieser Scheidung nicht zu überschätzen.


10 Der Ausdruck ist bei Stammler sorgsam vermieden.


11 Ich verweise auf meine früheren Bemerkungen und wiederhole, daß natürlich irgendein »dolus« Stammler an durchaus keiner Stelle dieser Kritik imputiert wird. Die Sprache gibt uns aber keine anderen Bezeichnungen an die Hand für die »culpa lata«, welche (in einer zweiten Auflage!) solche Sophismen nicht nur duldet, sondern sich überall auf sie, und sie allein, stützt. Wenn ich diese und ähnliche scharfe Ausdrücke brauche, so soll damit allerdings das Eine gesagt sein, daß, wenn die Erfüllung wissenschaftlicher Pflichten »äußeren Regeln« unterstellt würde, dann freilich Stammlers Verfahren in der Tat als »polizeiwidrig« zu gelten hätte.


12 Auch darüber, wie Stammler diese hier (S. 105 f.) für sich nutzbar macht, ein Wort. Im »ersten Stadium« – heißt es – besteht nur die »Technik seiner isolierten Wirtschaft« (NB.!). Von dem Augenblick an, wo er Freitag »zum Gefährten erhielt, als (NB.!) der junge Indianer auf seinen Nacken den Fuß des weißen Mannes setzte mit dem sichtlichen Zeichen dessen: du sollst mein Herr sein«, – bestand »geregeltes Zusammenleben«, weil nunmehr neben »technischen« Fragen eine zweite »Erwägung« (NB.!) »für sie beide« (NB.!) trat, »die soziale Frage«. Also: ohne jenen symbolischen Akt (oder irgendeinen anderen, dem empirisch gewollten Sinne nach entsprechenden), der nach dem (empirisch gewollten) »Sinn« Unterwerfung ausdrücken »sollte«, bestände »soziales Leben« nicht, – dann z.B. nicht, wenn R. den geretteten Indianer ähnlich wie ein Hundebesitzer einen in seine physische Gewalt geratenen Hund eingesperrt, gefüttert und für seine (R.s) Zwecke dressiert (»angelernt«) hätte. Denn daß er sich dabei, um ihn möglichst nutzbar zu machen, ihm durch Zeichen hätte »verständlich machen«, also mit ihm »verständigen« müssen – das trifft im gleichen Sinn auch für die Beziehung des Menschen zum Hunde zu, – daß ferner diese seine Zeichen den »Sinn« von »regelnden Befehlen« gehabt hätten (s. dazu St.s Bemerkungen S. 86 oben), – das trifft ebenfalls im ganz gleichen Sinn auch für »Befehle« an Hunde zu. Er würde es nun aber vermutlich auch für (in seinem, R.s, Interesse) nützlich gehalten haben, ihm das Sprechen beizubringen, – was nun freilich beim Hunde nicht möglich ist. Geschähe dies, dann würde, so scheint es nach St.s Bemerkungen S. 96 unten, 97 oben, da die Sprache »primitive Konvention« sein soll, »Konvention« aber »geregeltes Zusammenleben« ist, »soziales Leben« jedesmal dann eintreten, wenn die beiden miteinander sprechen, und aufhören, wenn dies nicht geschieht, – denn es ist ja doch im übrigen alles beim alten geblieben. »Befehle«, »symbolische« »Verständigungsmittel« u. dgl. gibt es ja zwischen Mensch und Hund auch, und wenn Bräsig sagt: »Mang einen Menschen und einen Hund sind Prügel die beste Verbrüderung«, – so haben die Sklavenhalter, wie bekannt, dies Prinzip auch auf die Neger ausgedehnt. Der Leser entschuldigt diese lächerliche Kasuistik vielleicht, wenn er (S. 106) liest, wie St. triumphierend ausruft: »Von irgendeinem Mittelding zwischen dem isolierten Zustand unseres Robinson und dem geregelten (NB.!) Zusammenleben mit seinem Freitag ist gar keine Rede; ein Zwischenstadium ... ist nicht einsehbar.« – Wirklich, einen etwas verständigeren Gebrauch als unser Scholastiker hat die von ihm wegen ihrer Vorliebe für Robinson verspottete abstrakte Nationalökonomie doch immerhin von Defoes unsterblicher Figur zu machen gewußt.


13 »Hat keinen Sinn« heißt natürlich, bei Licht besehen, nur: »paßt nicht in mein (St.s) begriffliches Schema«.


14 Es scheint mir kaum zweifelhaft, daß F. Gottls (Die Grenzen der Geschichte) dementsprechende Behauptung für das »historische« Leben irgendwie durch den Einfluß Stammlerscher Aufstellungen mit bestimmt ist. St. selbst braucht den Terminus nicht.


15 Siehe oben S. 321 f., 332 f.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 383.
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