Max Weber

Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland[33] 1

Auszug

Dem hier besprochenen Entwurf2 wird man zunächst nachsagen, daß er durchaus »unhistorisch« sei, und dies trifft bei einem solchen Extrakt des modernen internationalen Verfassungsrechts, wie er ihn darstellt, in der Tat zu. Aber was ist eigentlich in dem heutigen Rußland »historisch«? Die Kirche und die bäuerliche Feldgemeinschaft, von denen wir noch reden werden, ausgenommen, – schlechthin gar nichts, außer der aus der Tatarenzeit übernommenen absoluten Gewalt des Zaren, welche heute, nach Zerbröckelung aller jener »organischen« Gebilde, die dem Rußland des 17. und 18. Jahrhunderts das Gepräge gaben, in völlig unhistorischer »Freiheit« in der Luft schwebt. Ein Land, welches vor kaum mehr als einem Jahrhundert[33] in seinen »nationalsten« Institutionen starke Ähnlichkeiten mit der Monarchie DIOKLETIANS aufwies, kann in der Tat keine »historisch« orientierte und dabei doch lebensfähige »Reform« vornehmen. Das lebensvollste, in der öffentlichen Meinung am meisten festgewurzelte und in seiner Leistungsfähigkeit erprobte Institut des russischen öffentlichen Lebens, das Semstwo, ist zugleich dasjenige, welches dem altmoskowitischen Gedanken ständischer Gesamthaft für die ständisch verteilten Pflichten am fremdesten ist: es ist ein moderner Selbstverwaltungskörper, ganze 40 Jahre alt und dabei bereits einmal – aus einer rein den Grundbesitz als solchen (einschließlich der Bauern) vertretenden in eine wesentlich ständisch gegliederte Körperschaft – umgestaltet worden. Seine Leistungen zu beurteilen, ist mir natürlich nicht möglich. Sie am Zustand der Brücken und Wege zu messen, wie westeuropäische Reisende zu tun pflegen, geht hier offenbar so wenig wie in Amerika an, aus den gleichen ökonomischen Gründen. Der Glaube an die Bedeutung des »Systematischen« und allgemeiner Theorien ist in Rußland, wie jeder weiß, ungleich größer als in Amerika, mit dessen Lokalverwaltung man die Semstwos am besten vergleicht, die Überzeugung von der fundamentalen Bedeutung der Volksbildung ist in den Selbstverwaltungen beider Länder gleich groß, und der Idealismus in der Übernahme pekuniärer Opfer für derartige »ideale« Zwecke in den Kreisen der meisten Semstwos der allerhöchsten Achtung wert und dem Verhalten unserer ostpreußischen Ständevertreter 1847 durchaus ebenbürtig. Auch in seiner verkümmerten jetzigen Gestalt und angesichts der unerhörten Vielseitigkeit seines von der Volksschulgründung durch Statistik, Medizinal-, Veterinärwesen, Straßenbau, Steuerverteilung und landwirtschaftlichen Unterricht bis zu dem wichtigen Gebiet des »Verpflegungswesens« (bei Hungersnöten) sich erstreckenden Tätigkeitsgebiets hat das Semstwo – das wenigstens läßt auch das im Ausland zugängliche Material ersehen – immerhin Leistungen aufzuweisen, welche, angesichts der Schwierigkeit seiner Lage, jedenfalls das noch immer häufige Urteil über die »Unreife« der Russen für eine freie Verwaltung verstummen lassen sollten. Die »Staatsgewalt« erscheint, ganz begreiflicherweise, ihm gegenüber trotz aller Überlegenheit der bürokratischen »Technik«3, als ein nur der Erhaltung der bestehenden[34] politischen Machtverteilung dienender Parasit, fast ohne sachliche Interessen anderer als etwa finanzpolitischer Art, und deshalb vom tiefsten Mißtrauen gegen den Konkurrenten erfüllt. Seine Erfolge hat daher das Semstwo zu erkämpfen gehabt gegen die ständige Obstruktion der staatlichen Polizei, an deren Zwangsgewalt es für die Vollziehung seiner Beschlüsse gewiesen war, und es erzielte sie, trotzdem die Eifersucht der Regierung seine Arbeit immer fühlbarer und schließlich ganz systematisch hemmte, ihm die Erhöhung der Abgaben, speziell für Schulzwecke, verbot, im letzten Kriege z.B. die karitative Semstwo-Organisation, zugunsten des heillos korrupten staatlichen »roten Kreuzes«, unterdrückte und das »Verpflegungswesen« zu verstaatlichen suchte. Nachdem dadurch dem Semstwo mehr und mehr der Charakter eines nur passiven Zweckverbandes für die Aufbringung von der Regierung vorgeschriebener und von ihr zu verwendender Lasten aufgezwungen und die Ausdehnung der[35] Semstwoverfassung auf die klein- und weißrussischen Gouvernements hintertrieben worden war, machte PLEHWE in seiner letzten Zeit ernstlich Miene, die Semstwos gänzlich zu zertrümmern und durch die staatliche Bürokratie zu ersetzen.


Die bedingungslose Durchführung des Prinzips des »viergliedrigen«, d.h. des allgemeinen gleichen direkten geheimen Wahlrechts scheidet die hinter dem Entwurf stehende Partei der konstitutionellen Demokraten nach rechts von anderen konstitutionellen Gruppen, welche das Zensus- oder indirekte Wahlrecht vertreten und von der SCHIPOWschen antibürokratischen Slawophilengruppe mit ihrem Gedanken, eine beratende und die Finanzen kontrollierende Volksvertretung aus den bestehenden Semstwos hervorgehen zu lassen. Die Forderung jenes Wahlrechts, der meistumstrittene Punkt des Entwurfs, ist für die Demokraten zunächst das konsequente Ergebnis des Fehlens anderer »historischer« Anknüpfungspunkte, nachdem die Regierung nunmehr 25 Jahre lang an der Diskreditierung der Semstwos gearbeitet hat. Dazu tritt natürlich jener Umstand, der heute überall den Vertretern prinzipieller Reformen es unmöglich macht, mit voller innerer Aufrichtigkeit für ein abgestuftes Wahlrecht einzutreten: die Wirkung des Kapitalismus mit seiner klassenbildenden Macht. Der ökonomische Interessengegensatz und der Klassencharakter des Proletariats fällt den spezifisch bürgerlichen Reformen in den Rücken: das ist das Schicksal ihrer Arbeit hier wie überall. Nur solange die Vorherrschaft des Handwerks wenigstens in der Theorie den Massen der Arbeiter die Gelegenheit gab, »selbständig« zu werden, konnte jemand eine Zensuswahlvertretung subjektiv aufrichtig als eine Vertretung auch der noch nicht Selbständigen auffassen. In Rußland ist nicht nur aus historischen Gründen die Entwicklung des städtischen »Mittelstandes« im westeuropäischen Sinn an sich sehr schwach, sondern heute hat überdies der Kapitalismus auch dort längst seine Kreise zu ziehen begonnen, und jeder Versuch des Eintretens für Zensuswahl bedeutet für den reformerischen Agitator: Offiziere ohne Soldaten. Es fiele in den Städten den Arbeitern begreiflicherweise gar nicht ein, sich darauf einzulassen. Auf dem Lande wäre überdies ein Zensuswahlrecht in den Gebieten der Obschtschina (Feldgemeinschaft) kaum ohne die größten Willkürlichkeiten durchführbar: Hier ist in der Dorfgemeinde das gleiche Stimmrecht der[36] Haushaltungsvorstände das »Historische«. Trotzdem hätte eine bisher autokratische Regierung, wenn sie es rechtzeitig tat, irgendein Schema der Wahlberechtigung (etwa mit Bildungszensus oder Pluralstimmrecht) oktroyieren können, – eine Reformpartei konnte aus der Situation kaum an dere Konsequenzen ziehen als im Entwurf geschehen. Täte sie es, so würde – und das ist der letzte durchschlagende Grund – die Autokratie es in der Hand haben, bei der ersten Widersetzlichkeit der Duma die Arbeiter ebenso gegen sie auszuspielen, wie es jahrelang das vergangene Regime zur Einschüchterung der des Liberalismus verdächtigen besitzenden Klassen mit wenigstens scheinbarem Erfolg getan hat. Und in dem Augenblick, wo die demokratische Partei sich mit dem Zensuswahlrecht, d.h. dem Ausschluß oder der offenkundigen Zurücksetzung der Masse der Bauern von der Wahl, abfinden würde, hätte die Reaktion auch diese geschlossen hinter sich, denn die Besitzer von zensusfähigem Privateigentum, die Gutsbesitzer und vor allem die Kulaki (»Fäuste«, d.h. reich gewordene Bauern und ländliche Kleinkapitalisten) und die sonstige »Dorfbourgeoisie« sind es ja, gegen die sich der Haß der ländlichen Massen richtet. Der Zar ist für die Bauern unter keinen Umständen an ihrem Elend schuld. Wie bisher die Beamten, so würde es künftig eine Duma sein, in der die große Masse von ihnen, die ja im Zensus hinter allen städtischen Proletariern rangieren würden, unbeteiligt wäre. Schon jetzt verbreiteten die Vertreter des reaktionären Adels und staatlichen Beamtentums beharrlich die Nachricht, Ziel der Liberalen sei es, keinen Bauern in die Duma zu lassen. Und frappant trat diese demagogische Politik der Regierung vor allem in dem BULYGINschen Dumaprojekt hervor. Die Gesetze beratende und die Staatsrechnung kontrollierende Versammlung des Manifests vom 6. (19.) August soll nach der beigegebenen Wahlordnung in 26 Großstädten einerseits und in Gouvernementswahlversammlungen andererseits durch Wahlmänner, und zwar, um die Kandidaturen von Vertretern der »Intelligenz« möglichst zu beschränken, aus deren Mitte, gewählt werden. Die Wahl dieser ist in den Gouvernements auf die drei Klassen: 1. des größeren privaten Grundbesitzes, 2. der Städte, 3. der Bauern, und zwar in jedem Gouvernement verschieden, verteilt. Während aber die beiden ersten Klassen ein Zensuswahlrecht ziemlich plutokratischer Art haben, – die Arbeiter sind stets völlig ausgeschlossen, – werden die Bauernwahlmänner von den Wolostversammlungen gewählt, welche ihrerseits auf der Gleichstellung aller Wirte im Dorfe[37] beruhen. Mit anderen Worten: die einzigen, für die keine Zensusgrenze besteht, sollen die meist schreibunkundigen Bauern sein. Und überdies sollen die so gewählten Bauernwahlmänner im Gegensatz zu den anderen Klassen das Recht haben, vor der Wahl der übrigen Dumadeputierten einen Abgeordneten aus ihrer Mitte zu ernennen, worauf sie, zusammen mit den anderen, die übrigen wählen: m.a.W. die Vertreter der Bauern haben ein ständisch privilegiertes Wahlrecht für mindestens 51 Abgeordnete (Zahl der europäisch-russischen Gouvernements) und bilden für den Rest mit dem Zensusgrundbesitz meist mehr als zwei Drittel der Wahlmänner. Das Manifest vom 17. (30.) Oktober, welches die »unerschütterliche Regel« aufstellt, daß fortan kein Gesetz ohne Zustimmung der Duma in Kraft treten sollte, fügte die allgemeine Zusage hinzu, daß, soweit bei der Kürze der Zeit dies möglich, das Wahlrecht den »bisher desselben beraubten« Klassen gegeben werden sollte und der »neugeschaffenen gesetzgeberischen Ordnung« überlassen bleiben würde die »weitere Entwicklung« des »Grundsatzes« des »gemeinen« Wahlrechts. Es ist nach alledem, wie PETER STRUVE in seiner Einleitung zu dem hier besprochenen Entwurf ganz richtig sagt, für jedes andere liberale Wahlrechtsprogramm heute in Rußland »zu spät« geworden. Der Gedanke der »Menschenrechte« und die Forderung des »vierstufigen Wahlrechts« waren es denn auch, welche die radikale bürgerliche mit der »proletaroiden«, darunter selbst einem Teil der sozialrevolutionären, Intelligenz im »Befreiungsbunde« geeinigt hatte. Das unverbrüchliche Festhalten daran schien allein die Möglichkeit zu bieten, eine Teilung der Intelligenz im Kampfe zu verhindern.

Wollte – und könnte – man von dieser Situation absehen, dann würde natürlich auch ein noch so überzeugter Demokrat oder Sozialdemokrat über die Frage der Neueinführung gerade dieses Wahlrechts als ersten gerade in diesem Lande und gerade im jetzigen Moment sehr zweifelhaft sein können4.

Denn über den entscheidenden Punkt: die voraussichtliche Wirkung dieses Wahlrechts, urteilen die russischen Demokraten unter sich nicht gleichmäßig. Am ehesten pflegen die Bedenken gegen die Überlieferung der Semstwos in die Hände gänzlich ungeschulter Analphabeten zugegeben zu werden, so entschieden die Notwendigkeit[38] einer weit stärkeren Vertretung der jetzt zur einflußlosen Minderheit verurteilten Bauern betont wird. In der Tat würde die völlige Bürokratisierung der Semstwoverwaltung die unmittelbare Folge sein, und bei aller Anerkennung der hervorragenden Leistungen des Semstwobeamtentums, des sog. »dritten Elements« (»tretij element«), würde dies doch nur der Vorläufer einer Zentralisierung nach französischem Muster sein können. Die »ökonomische Unabhängigkeit« der ehrenamtlichen Semstwomitglieder war es, welche die Selbständigkeit des Semstwo »nach oben« garantierte und, unter unserer Wirtschaftsordnung, auch und erst recht gegenüber einer etwaigen parlamentarischen Parteiregierung der Zentrale gewährleisten könnte, solange die Bauern an den Agrarkommunismus ihrer Gemeinden gefesselt sind. – Über die voraussichtliche Wirkung des allgemeinen gleichen Wahlrechts für die Duma gehen die Ansichten auseinander. Ich kenne russische Demokraten mit etwa dem Standpunkt: »Fiat justitia, pereat mundus. Möge die Masse allen Kulturfortschritt ablehnen oder vernichten: wir können nur nach dem fragen, was gerecht ist, und wir haben unsere Pflicht getan, wenn wir ihr das Wahlrecht geben und ihr damit die Verantwortung für ihr Tun zuschieben.« »Auch die äußerste Ochlokratie – wird allenfalls hinzugefügt – kann es nicht so arg treiben wie die von den in ihrer Machtstellung bedrohten Beamten gemieteten ›schwarzen Hundert‹. Aber wie dem sei: lieber generationenlange kulturliche Finsternis leiden als politisches Unrecht tun. Und vielleicht wird doch auch irgendwann in der Zukunft die erzieherische Macht des Wahlrechts das Ihre tun.« Es liegt in solchen Ansichten unbewußt doch wohl auch etwas von SSOLOWJOWS Glauben an die ethisch-religiöse Eigenart der politischen Aufgabe des Russentums, auf die mich übrigens auch ein Vertreter dieser Meinung direkt verwies. Die absolute Ablehnung der »Erfolgsethik« auch auf politischem Gebiet bedeutet hier: nur das unbedingte ethische Gebot gilt überhaupt als möglicher Leitstern positiven Handelns, es besteht nur die Möglichkeit des Kampfes um das Recht oder der »heiligen« Selbstentsagung. Ist nun das als positive »Pflicht« Erkannte getan, so tritt, weil alle anderen als die ethischen Werte ausgeschaltet sind, unbewußt jener biblische Satz wieder in Kraft, der sich am tiefsten in die Seele nicht nur TOLSTOJS, sondern des russischen Volkes überhaupt geprägt hat: »Widerstehe nicht dem Übel«. Der jähe Wechsel zwischen stürmischer Tatkraft und Ergebung in die Situation ist die Folge der Nichtanerkennung des ethisch[39] Indifferenten als existent oder doch als möglichen »Wertes«, welche dem Panmoralismus der SSOLOWJOWschen »Heiligkeit« ebenso wie der rein ethisch orientierten Demokratie eignet. – Indessen neben solchen extremen Ideologen stehen – und zwar zweifellos in der Mehrzahl – andere, welche die Chancen günstiger ansehen, als diejenigen Ausländer es meist tun, die geneigt sind, einen gewissen Grad von Ehrlichkeit der konstitutionellen Absichten des gegenwärtigen Regimes gerade daraus zu entnehmen, daß es das arithmetisch gleiche Wahlrecht im gegenwärtigen Moment nicht in die Hände politisch unerzogener Volksmassen gibt. Die Russen berufen sich zunächst auf gewisse später eingehender zu erörternde, weil nach Meinung einiger Führer der Demokratie besonders wichtige ökonomische Gründe dafür, daß die Massen, mit dem Wahlrecht in der Hand, politisch und kulturell freiheitlichen Idealen folgen müßten. Von rein politischen Argumenten findet sich, – neben dem allgemeinen Hinweis auf die »erzieherische« Funktion des Wahlrechts, die aber, wenn sie für das gleiche Wahlrecht in Anspruch genommen wird, doch gewisse »entwicklungsgeschichtliche« Voraussetzungen haben dürfte, – eigentlich, auch in der »Begründung« des Entwurfs, nur der Hinweis auf die in Bulgarien mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts gemachten, nach Ansicht der Verfasser günstigen, Erfahrungen. Dabei ist, von anderem abgesehen, denn doch wohl der Unterschied eines Kleinstaates von einer – auch nach Ansicht von Leuten wie STRUVE – zur »Weltpolitik« genötigten großen Nation, und erst recht der überlieferten Stellung des national und religiös geweihten Zaren von der eines bis auf weiteres gemieteten und importierten Duodezmonarchen unterschätzt.

Es sei übrigens ausdrücklich betont, daß der Entwurf im übrigen sehr weit davon entfernt ist, einen staatsrechtlich »radikalen« Charakter an sich zu tragen. Die Verfasser lehnen zwar mit Recht das heute modische Gerede von der »Überlebtheit« des Parlamentarismus ab5. Aber ihr Entwurf schont, im ganzen, sorgsam die Stellung[40] des Zaren. Er kennt keine gewählten Beamten, außer den »Friedensrichtern«. Er kennt ebensowenig die Parlamentssouveränität nach englischer Art wie die parlamentarische Majoritätsherrschaft französischen Gepräges. Diese Rücksicht auf die Stellung des Monarchen scheidet die Anhänger der konstitutionell-demokratischen nach links von den radikalen Gruppen, welche, soweit sie nicht Republikaner sind, doch das Prinzip der Volkssouveränität durch Einberufung einer »Konstituante« gewahrt wissen und die parlamentarische Bestimmung des Ganges der Politik ausdrücklich festgelegt wissen wollen. Für die Konstitutionellen sind offenbar nicht nur zwingende »realpolitische« Erwägungen, sondern auch der Gedanke maßgebend gewesen, daß nur der Monarch die Einheit des Reiches wirksam repräsentiert, wenn den Einzelnationalitäten weitgehende Autonomie gegeben werden soll. Mit Rücksicht auf die Stellung des Zaren konnte der Entwurf daher auch nicht die amerikanische gänzliche Trennung der Exekutive von der Legislative durchführen. Daher versuchte er nun, etwas in der Tat in mancher Hinsicht Neues in der Gestalt des gänzlich außerhalb des gerichtlichen Instanzenaufbaues stehenden »höchsten Tribunals« zu schaffen. Dessen Funktionen sollten umfassen: 1. die Kassation verfassungswidriger Regierungshandlungen und Gerichtsurteile einschließlich solcher, die auf formal korrekten, aber materiell unkonstitutionellen Gesetzen beruhen, auf Anrufen privater Interessenten, einer der beiden Kammern, oder einer der konstitutionellen höchsten Reichsbehörden. In dieser Funktion fassen ihn die Verfasser merkwürdigerweise als eine Kopie des amerikanischen Supreme Court auf, – ein Irrtum, der bei der großen Vertrautheit der Russen mit dem bekannten Buche von JAMES BRYCE wundernehmen muß, – 2. sollten die Wahlprüfungen vor das Tribunal gehören, – 3. aber sollte dasselbe – verstärkt durch die Richter des Kassationshofs – die Instanz sein für die seitens einer der Kammern zu erhebenden politischen Ministeranklagen. Diese politische Anklage, welche selbständig neben der gegen alle Beamten zulässigen Verfolgung vor den ordentlichen Gerichten stehen und nur auf[41] Absetzung und 5jährige Amtsunfähigkeit gehen soll, kann, nach dem Entwurfe, auf a) absichtliche Verletzung der Verfassung und b) »schwere Verletzung der Staatsinteressen« durch Mißbrauch, Kompetenzüberschreitung und Nachlässigkeit gestützt werden. Diese Prozedur sollte also ganz offenbar auch das parlamentarische »Mißtrauensvotum« in die Form eines nach »objektiven« Maßstäben zu entscheidenden Prozesses überführen. Nun läßt sich aber der sachliche Inhalt der »Staatsinteressen« nicht »objektiv«, d.h. ohne Rücksicht auf jene Ideale und Interessen, also auf jene »Werturteile«, welche auch der Scheidung der politischen und sozialen Parteien zugrunde liegen, feststellen. Die streng formale Aufgabe der Hütung der Verfassung und der Abgabe juristisch zu begründender Urteile über das, was »gilt«, wäre also mit der Aufgabe der Abgabe politischer Sentiments über das, was »gelten soll«, in dieselben Hände gelegt: ein an sich recht bedenklicher Gedanke. Freilich würden die Verfasser sich z.B. darauf berufen können, daß auch die formale Entscheidung von Verfassungsfragen faktisch ähnlich zu verlaufen pflegt: bei dem Schiedsspruch der Richter des amerikanischen Bundesgerichts in der strittigen Präsidentenwahl zugunsten von HAYES teilten sich die Stimmen bekanntlich strikt nach der Parteiobödienz; niemand bezweifelt heute, daß das Urteil ein krasser Fehlspruch war, dennoch aber hat es einen Bürgerkrieg verhindert. – Der zweite Entwurf hat die Institution gestrichen, und der konstituierende Kongreß der konstitutionell-demokratischen Partei begnügte sich, gegenüber dem Manifest vom 17. (30.) Oktober, die Feststellung der Ministerverantwortlichkeit und das Recht der Duma, nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit ihrer Handlungen zu diskutieren, zu fordern. –


Der politische »Individualismus« der westeuropäischen »Menschenrechte«, wie ihn z.B. STRUVE konsequent vertritt, wurde, soweit er »ideell« bedingt war, zum einen Teil geschaffen durch religiöse Überzeugungen, welche menschliche Autoritäten als widergöttliche Kreaturvergötterung bedingungslos verwarfen6, – Überzeugungen,[42] wie sie die heutige Form der »Aufklärung« überhaupt nicht mehr als Massenerscheinung aufkommen läßt; und zum andern Teil war er Produkt eines optimistischen Glaubens an die natürliche Interessenharmonie der freien Individuen, der heute durch den Kapitalismus für immer zerstört ist. Diese Entwicklungsstadien lassen sich also für das heutige Rußland schon aus »ideellen« Gründen nicht nachholen: der spezifisch bürgerliche Individualismus ist innerhalb der Klassen von »Bildung und Besitz« selbst bereits überwunden und wird das »Kleinbürgertum« sicherlich nicht mehr erobern können. Und vollends fragt es sich, wo bei den »Massen«, denen das allgemeine Wahlrecht die Macht in die Hand drücken würde und nach ausgesprochener Absicht der Liberalen auch soll, die Impulse sich finden sollen für die Teilnahme an einer über rein materielle Forderungen hinausgehenden Bewegung, wie sie von Politikern bürgerlich-demokratischen Gepräges mit dem Programm des »Befreiungsbundes«: 1. garantierte Freiheitsrechte des Individuums, 2. konstitutioneller Rechtsstaat auf Grundlage des »viergliedrigen« Wahlrechtes, 3. Sozialreform nach westeuropäischem Vorbild, 4. Agrarreform, ins Leben gerufen ist.

Innerhalb der städtischen Arbeiterschaft, die ja auch von den christlichsozialen und sozialrevolutionären Anhängern des äußersten Radikalismus bearbeitet wird, und innerhalb der Gruppe der »freien Berufe« sind also die Chancen der bürgerlichen Demokratie im Falle eines demokratischen Wahlrechts wohl auch nach ihrer eigenen Meinung äußerst problematisch, obwohl ihr Programm alle Forderungen der westeuropäischen radikalen Sozialreformer enthält. Was andererseits die dünne Schicht der eigentlichen »Bourgeoisie« anlangt, so sind die Fabrikanten – die alten Träger des Nationalismus, wie sie uns v. SCHULZE-GÄVERNITZ geschildert hat – ganz naturgemäß unter den Verhältnissen der letzten Jahre, wo die PLEHWESCHE Regierung die Arbeiter zu gewinnen und[43] gegen die »Intelligenz« auszuspielen suchte: – die elf Baracken, welche die Mittelpunkte der GAPONschen Bewegung bildeten, waren ja auf Regierungskosten gebaut, – zum Teil den Liberalen und selbst den Demokraten sehr nahe gerückt7. Indessen in der konstitutionell-demokratischen Partei vermißt man doch alle bekannteren Namen aus ihrer Mitte. Der Semstwo-Bewegung standen sie ablehnend gegenüber, und das Programm des antiprotektionistischen »Befreiungsbundes« vollends konnte für sie nichts Anziehendes haben. Sozialpolitisch verhielt sich wohl die Masse ihrer Vertreter auch zu Anfang 1905 wesentlich reaktionär und hoffte auf Repression, – immerhin keineswegs einheitlich. Es finden sich nicht wenige Eingaben von Fabrikanten für Gewährung des Koalitionsrechtes. Politisch scheinen sie jetzt sehr vielfach der »Partei der Rechtsordnung« oder dem dieser nahestehenden »Bunde des 17. Oktober« anzugehören. Immerhin sind sie nach den gemachten Erfahrungen nicht ohne weiteres für die Regierung gegen die Liberalen und für die Reaktion verfügbar. Als in einer Versammlung des »Verbandes der Händler und Industriellen« in Petersburg ein Vertreter der »Rechtsordnungspartei« zum Anschluß an die Regierung im Kampfe gegen den »Arbeiterdeputiertenrat« aufforderte, lehnten andere Redner dies scharf ab: die »Gesellschaft« müsse den Kampf allein führen. Suche der Verband jetzt Schutz bei der Regierung, so werde der Tag kommen, wo andere gegen ihn ebendort und mit demselben Erfolge Schutz suchen würden.

Das Kleinbürgertum endlich, dessen voraussichtliche Haltung, wie immer, am undurchsichtigsten ist, wird durch seine Judenfeindschaft doch wohl überwiegend am Anschluß an die Liberalen behindert sein, – darauf läßt seine immerhin starke Beteiligung an der Bewegung der »Schwarzen Banden« schließen. Freilich ist nicht zu vergessen, daß in Großstädten und in einigen »verdächtigen« anderen Orten die gegenwärtige Organisation der Polizeispionage, die z.B. in allen Häusern einen mit der Kontrolle der Bewohner betrauten Hausmeister (Dwornik) verlangt, den Hausbesitzern solche Verantwortlichkeiten und auch Kosten auferlegt, und daß überall der Paßzwang,[44] die »administrative« – d.h. der Rechtsform entbehrende – Verschickung und die mangelnde Sicherheit der Wohnung vor jederzeitiger, mit Vorliebe nächtlicher, Durchsuchung ein solches Maß grenzenlos gehaßter Abhängigkeit von bestechlichen und willkürlichen Subalternen schafft, daß für die nächsten Jahre der Protest hiergegen wohl stärker sein wird als alle anderen Rücksichten. Mit einem System, welches diese Mittel benötigt, ist ein dauernder Kompromiß faktisch unmöglich geworden.

Aber die für die Zukunft nicht nur der konstitutionell-demokratischen Bewegung, sondern, was wichtiger ist, ihrer fundamentalen Programmpunkte und darüber hinaus für die Chancen einer, im westeuropäischen Sinn, freiheitlichen »Entwicklung« entscheidende Frage ist und bleibt doch die Stellung der Bauern. Sie bleibt es auch dann, wenn ein Zensuswahlrecht den Liberalen die Mehrheit geben sollte: dann hätte, falls die Bauern reaktionär sind, eine reaktionäre Regierung sie jederzeit als Rute für eine widersetzliche Duma zur Verfügung. Tatsächlich ist denn auch das Programm der bürgerlichen Demokratie ganz wesentlich auf die Bauern zugespitzt, gerade den Bauern möchte auch PETER STRUVE durch die Gewöhnung nicht nur an »Recht« im objektiven, sondern an »Rechte« im subjektiven Sinne, d.h. bei ihm: an die »Menschenrechte« des englischen Individualismus, zur »Persönlichkeit« machen. Mit dem größten Nachdruck wird immer wieder betont, daß im Zentrum aller Fragen die Agrarreform stehe, daß die politischen Reformen wesentlich ihr und sie wieder der politischen Reform zugute kommen werde und müsse. Aber freilich: damit ist noch nicht gesagt, daß die Bauern selbst demokratisch sein werden. PETER STRUVE und ebenso die Verfasser des Entwurfs verlassen sich in dieser Hinsicht wesentlich auf die ökonomischen Interessen der Bauern, deren Forderungen in dieser Hinsicht eine reaktionäre Regierung gar nicht befriedigen könne. Man fragt also, welches denn jene Forderungen der Bauern selbst und welches diejenigen der demokratischen Agrarreformer in deren Interesse sind.–

Schon die Februar-Versammlung der Semstwos hatte sich mit der Agrarfrage befaßt und dabei das seitdem für die liberale Agrarreform charakteristisch gebliebene Schlagwort von der »Vervollständigung« (dopolnjénije) des bäuerlichen Landanteils (nadjél) ausgegeben, alles weitere aber einer Spezialberatung vorbehalten. – Das Programm des »Befreiungsbundes« vom März 1905 stellte alsdann folgende unter agrarpolitischen Gesichtspunkten erheblichen Forderungen[45] auf: 1. Abschaffung der Loskaufzahlungen der Bauern (inzwischen von der Regierung – zur Hälfte für 1906, ganz für 1907 – beschlossen), – 2. Ausstattung der landlosen und mit ungenügendem Landanteil versehenen Bauern mit Land durch Aufteilung der Domänen-, Apanagen- und Schatullgüter und, in Ermangelung solcher, durch Expropriation privater Grundbesitzer, – 3. Bildung eines staatlichen Landfonds behufs planmäßiger innerer Kolonisation, – 4. Reform des Pachtrechtes, derart, daß dem Pächter die Meliorationen gesichert werden, und Schiedsgerichte »zur Regulierung der Pachtzahlungen im Interesse der Arbeitenden« und für Streitigkeiten zwischen ihm und dem Verpächter, – 5. Ausdehnung der Arbeitergesetzgebung auf die Landarbeiter »nach Maßgabe der Grundbedingungen der Landwirtschaft«. – Dazu treten folgende weitere offensichtlich »physiokratisch« gefärbte Programmpunkte: stufenweise Abschaffung der indirekten Besteuerung und Entwicklung der direkten Steuern auf Grundlage der progressiven Einkommensteuer, Abschaffung der protektionistischen Begünstigung einzelner Unternehmer unter gleichzeitigem »kräftigen Schutz der Entwicklung der Produktivkräfte des Volkes«: eine stufenweise Herabsetzung der Zölle werde – so wird gesagt – »der Verbesserung der Lage der Landwirtschaft, ebenso aber der Blüte der Industrie zugute kommen«. Die völlige Abschaffung der indirekten Steuern lehnte PETER STRUVE in einer Kritik des Entwurfes wegen ihrer budgetmäßigen Bedeutung als ein »redaktionelles Versehen« ab. Indessen scheint gerade dieser Punkt bei denjenigen Landwirten, welche einer liberalen Führung eventuell folgen würden, populär zu sein. Eine den Eindruck der »Echtheit« machende Eingabe von 56 »schreibkundigen« und 84 analphabetischen »bürgerlichen« Landwirten des Kreises Cherson z.B. forderte ebenfalls die Abschaffung der Abgaben auf Tee, Zucker, Maschinen und Streichhölzer, ebenso andere ähnliche unzweifelhaft bäuerliche Petitionen, die man in Massen in Zeitungen und Zeitschriften wiedergegeben finden kann. Daß die progressive Einkommensteuer heute in Rußland finanziell keinen Ersatz für Finanzzölle und Verbrauchsabgaben liefern würde, liegt – um wenigstens dies zu bemerken – auf der Hand: es fehlen, von den ökonomischen abgesehen, vorerst auch die moralischen Voraussetzungen einer wirklich wirksamen derartigen Besteuerung, die heute bekanntlich aus dem gleichen Grunde selbst in den Vereinigten Staaten unmöglich ist. Es bleibt auch durchaus dunkel, mit welchen Geldmitteln die gewaltigen Reformen, welche[46] hier verlangt wurden, bei einem derartigen Finanzprogramm durchgeführt werden sollten8. –

Es muß deutschen Lesern zunächst aufgefallen sein, daß hier mit keinem Wort des charakteristischen Instituts der russischen Agrarverfassung, der Obschtschina (Mir) gedacht ist. Nun besteht die gegenwärtige Bauernfrage freilich ganz und gar nicht etwa nur in den Gegenden mit Feldgemeinschaft9, d.h. im Zentrum und in den östlichen Schwarzerdegebieten und allem, was davon nördlich und nordöstlich liegt. Im Gegenteil: sie durchzieht das ganze weite Reich von der Ostsee bis in die Steppe und ist in einigen Gebieten Kleinrußlands ebenso brennend wie etwa im Moskauer Gebiet. Aber allerdings sind die agrarpolitischen Probleme des zur Hegemonie berufenen großrussischen Stammes sämtlich mit der Feldgemeinschaft direkt oder indirekt verknüpft und umfaßt ihr Ausbreitungsgebiet ebenso die kompakteste Masse der Bauern wie die hauptsächlichsten Verbreitungsgebiete chronischen Massenelends. Vor allem aber ist ihr »ideelles« Verbreitungsgebiet ein durchaus universelles: die ganze sozialpolitische Parteibildung Rußlands ist mit dem seit Jahrzehnten leidenschaftlich umstrittenen Problem ihres weiteren Schicksals aufs engste verknüpft, sie beschäftigt die Phantasie der Massen ebenso wie der Sozialpolitiker aller Schattierungen und bestimmt ihr Empfinden entschieden weit über das Maß ihrer ummittelbaren realen Bedeutung hinaus. Eben dies gibt freilich wohl auch Aufschluß über einen der Gründe, aus welchen das Programm der Liberalen von ihr schweigt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß darin auch eine Konzession, auf der einen Seite an politisch liberal gewordene Slawophilen und »Volkstümler«, auf der anderen an die Sozialisten, Sozialrevolutionäre und Bodenreformer liegt, welche alle aus entgegengesetzten Gründen einem ausdrücklichen Angriff auf die Feldgemeinschaft nicht zustimmen könnten, während andererseits die spezifischen ökonomisch Liberalen, zumal gerade solche Individualisten, die, wie STRUVE, eine streng marxistische Schule durchgemacht haben, eine Anknüpfung[47] agrarpolitischer Reformvorschläge an sie als »utopisch« bekämpfen müßten.

Im übrigen erklärt sich dieses Schweigen aber natürlich daraus, daß die gesetzgeberische Behandlung dieses Problems, in welcher Richtung immer sie erfolgen mag, ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen muß und daß für praktische Politiker heute sehr viel dringlichere agrarpolitische Aufgaben im Vordergrund stehen. Immerhin muß schon der erste Schritt einer irgendwie großzügigen Agrarpolitik mit der Feldgemeinschaft zusammenstoßen.


Denn darin liegt auch die Zurückhaltung der Demokraten gegenüber dem Problem begründet: die Bauern selbst in ihrer Masse sind ohne allen Zweifel für ein im westeuropäischen Sinn »individualistisches« Agrarprogramm keineswegs zu gewinnen. – Zunächst ist zweifellos, daß bei der Aufrechterhaltung der Feldgemeinschaft – so sehr die Umteilungsbeschlüsse Produkt eines höchst erbitterten Klassenkampfes sein können – keineswegs nur ökonomische Klasseninteressen, sondern auch festgewurzelte »naturrechtliche« Vorstellungen mitwirken. Denn es steht offenbar durchaus fest, daß der erforderliche Beschluß für eine Neuumteilung des Landes keineswegs nur mit den Stimmen von Leuten gefaßt zu werden pflegt, welche von ihr eine Besserung ihrer Lage zu erhoffen haben oder die man durch Prügel oder Boykott gefügig machte. Auf der anderen Seite freilich steht auch ein anderes fest: gerade die Neuumteilung des Landes, dies dem äußeren Anschein nach wichtigste agrardemokratische Element dieser Sozialverfassung, steht gar nicht selten, soweit es als »sozialpolitisch« wirkend gedacht wird, nur auf dem Papier. Die vermögenden Bauern verpachten, veräußern, vererben ihr Land (natürlich nur innerhalb der Gemeinde), vertrauend, daß keine Umteilung beschlossen werde, – oder umgekehrt: sie haben die Gemeindegenossen als ihre Schuldner in der Hand und die Umteilung stärkt faktisch ihre Übermacht. Und da ja die Umteilung zwar Land, aber kein Vieh und Wirtschaftskapital zuteilt, ist sie mit der rücksichtslosesten Ausbeutung der Schwachen vereinbar. Aber mit steigendem Wert des Landes und steigender Differenzierung wächst dann natürlich der zornige Radikalismus der Massen gerade infolge der Diskrepanz von Recht und Tatsachen. Und – das scheint das Entscheidende – dieser kommunistische Radikalismus müßte nun offenbar,[48] gerade wenn die Lage der Bauern gehoben, wenn also ihre Lasten erleichtert [werden] und das der Gemeinde verfügbare Land vergrößert wird, nach menschlichem Ermessen unbedingt stark steigen. Denn während in den Gegenden, wo die auf die Bodenanteile gelegten Lasten den Ertrag übersteigen, – es sind dies bekanntlich nicht wenige, – der Landbesitz noch heute als eine Pflicht gilt, der sich jeder Dorfgenosse zu entziehen sucht, wird umgekehrt die Umteilung von den Massen überall da erstrebt, wo der Bodenertrag die Lasten übersteigt. Die Gegenden besten Bodens sind deshalb die Gegenden, wo die Masse das zwingendste Umteilungsinteresse hat, und wo die wohlhabenden Bauern das stärkste Gegeninteresse haben. Jeder Erlaß von Steuern und Lasten, so jetzt der Erlaß der Loskaufgelder, muß also, – wenn dabei die Feldgemeinschaft bestehen bleibt, – diese Herde kommunistischer Interessen und des sozialen Kampfes vermehren. Es ist ferner bekannt, daß z.B. die deutschen Bauern in Südrußland vielfach die strenge Feldgemeinschaft erst eingeführt haben, als ihnen die Regierung den Landbesitz vermehrte: aus höchstbegreiflichen Gründen. Der Effekt einer »Nadjél-Ergänzung« kann, generell gesprochen, nicht wohl ein anderer sein: der Glaube an den Kommunismus muß mächtig anschwellen. Mit dieser Hoffnung werden die Sozialrevolutionäre, soweit man von außen her urteilen kann, Recht behalten. –

Und doch ist für ehrliche Agrarreformer dies Programm der Nadjél-Ergänzung heute ganz unabweislich. Die konstitutionell-demokratische Partei hat denn auch in ihrem Agrarprogramm (Punkt 36-40) sich auf die betreffenden Forderungen des »Befreiungsbundes« und des liberalen Agrarkongresses festgelegt, mit teilweise noch weitergehenden Konzessionen an die Einwendungen der Sozialrevolutionäre. Dahin gehört: 1. die Forderung, daß die Entschädigung der zu enteignenden Grundbesitzer nicht nach dem Marktwert, sondern nach dem »gerechten Preis« zu erfolgen habe (Punkt 36), 2. die ausdrückliche Forderung der gesetzlichen Garantie der Pachterneuerung, eventuell des Rechtes des Pächters auf Ersatz der Meliorationen, und, vor allem, der Schaffung gerichtlicher Instanzen (nach irischem Vorbild) für die Herabsetzung »unverhältnismäßig hoher« Pachtrenten (Punkt 39), 3. die Schaffung einer Landwirtschafts-Inspektion zur Kontrolle der Handhabung der auf die Landwirtschaft auszudehnenden Arbeiterschutzgesetzgebung. Die Prinzipien nach denen den Bauern das enteignete Land zuzuweisen ist (persönliche oder feldgemeinschaftliche Zuteilung zu Eigentum oder Nutzung), sollen[49] »gemäß der Eigenart des Bodenbesitzes und der Bodennutzung in den verschiedenen Gebieten Rußlands« festgestellt werden.


Alles in allem würde also die Durchführung des10 Reformprogramms der bürgerlichen Demokraten aller Wahrscheinlichkeit nach einer gewaltigen Steigerung des agrarkommunistischen und sozialrevolutionären »Geistes« unter den Bauern zugute kommen, der heute schon so stark ist, daß wenigstens die Masse der Bauern für ein individualistisches Programm, wie z.B. STRUVE es seinerzeit vertrat, sicherlich nicht zu haben sein würde. Das Eigenartige der Situation Rußlands scheint eben zu sein, daß dort eine Steigerung der »kapitalistischen« Entwicklung, bei dem gleichzeitig mit ihr steigenden Werte des Bodens und seiner Produkte, neben der weiteren Entwicklung des industriellen Proletariats und also des »modernen« Sozialismus, auch eine Steigerung des »unmodernen« Agrarkommunismus mit sich führen kann. – Und auch auf dem Gebiet der »geistigen Bewegung« scheinen die »Möglichkeiten« der Entwicklung noch nicht eindeutig.

Der Dunstkreis des Narodnitschestwo, der noch immer durch alle Schattierungen der »Intelligenz« aller Klassen und politischen Programme sich hin zieht, wird zwar durchbrochen werden, – aber es fragt sich, was an die Stelle tritt. Einer so rein sachlichen Auffassung der Dinge, wie dem sozialreformerischen Liberalismus, würde es nicht ohne harten Kampf gelingen, den »breiten« Charakter des russischen Geistes zu fesseln. Denn bei der »sozialrevolutionären« Intelligenz hat dieser romantische Radikalismus noch eine andere Seite: es ist von ihm aus, seines dem »Staatssozialismus« trotz aller Proteste nahestehenden Charakters wegen, der Sprung ins autoritäre und reaktionäre Lager äußerst leicht. Die relative Häufigkeit der rapiden »Mauserung« äußerst radikaler Studenten in höchst »autoritäre« Beamte, von der namentlich ausländische, aber auch gewissenhafte, Beobachter uns zu erzählen pflegen, braucht – die Richtigkeit der Tatsache vorausgesetzt – durchaus nicht, wie man wohl gesagt hat, angeborene Eigenart oder schnöde Brotkorbstreberei zu sein. Denn auch der umgekehrte Vorgang: plötzlicher Übergang von überzeugten Anhängern des durch PLEHWE und POBJEDONOSSZEW vertretenen pragmatischen Rationalismus der Bürokratie ins extrem[50] sozialrevolutionäre Lager hat in den letzten Jahren mehrfach stattgefunden. Sondern es ist der pragmatische Rationalismus dieser Richtung überhaupt11, welcher nach der im Dienst der absoluten sozialethischen Norm stehenden »Tat« lechzt und, auf dem ideellen Resonnanzboden des noch bestehenden Agrarkommunismus, zwischen der »schöpferischen« Tat von »oben« oder von »unten« hin- und herschwankt, daher bald reaktionärer, bald revolutionärer Romantik verfällt. –


Was werden nun die Bauern bei den Wahlen tun? Die Widerstandskraft der Bauern gegen die Beeinflussung durch Beamte und konservative Geistliche ist offenbar verschieden stark, am stärksten, wie es scheint und auch begreiflich wäre, nicht in den eigentlichen Notstandsdistrikten, sondern z.B. im Süden, in den Kasakendörfern, im Tschernigowschen und Kurskschen Gouvernement. In diesen und außerdem in manchen Gebieten des Industrierayons haben die Bauern nicht selten die schärfsten Resolutionen trotz der Anwesenheit, sei es der staatlichen polizeilichen Kontrollbeamten, sei es der Adelsmarschälle, gefaßt und Petitionen mit Tausenden von Unterschriften bedeckt: um Beseitigung der bürokratischen Beaufsichtigung und um die Gestattung der Wahl von Volksvertretern, welche – das ist ihre entscheidende, mit dem modernen Parlamentarismus freilich durchaus nicht verwandte Vorstellung dabei – direkt mit dem Zaren verkehren sollten, statt daß sich jetzt das bezahlte Beamtentum dazwischenschiebe. Sie wünschen m.a.W., daß die Bürokratie der Selbstherrschaft verschwinde, aber – darin sind die Slawophilen im Recht – sie hegen keinen Wunsch nach ihrem Ersatz durch eine parlamentarisch geleitete Bürokratie. Die Energie dieser antibürokratischen Strömung ist zur Zeit nicht unbeträchtlich. Es sind nicht ganz wenige Fälle bekannt, in welchen die Bauern die von den Beamten für den »Sschod« vorbereiteten »loyalen« Resolutionen abgelehnt, andere, wo sie sie in Anwesenheit der Beamten angenommen, nachträglich aber widerrufen, oder die ihnen zugesandten Publikationen der reaktionären Verbände zurückgesandt haben. Allein[51] es ist wenig wahrscheinlich, daß diese Stimmung die Kraft haben sollte, bei den Wahlen sich gegen die Autorität und Vergewaltigung der Beamten durchzusetzen. Das Wahlgesetz, auch in der Fassung vom 11. Dezember, sucht jede freie Wahlagitation auszuschließen, indem es Wähler- und Wahlmännerversammlungen, welche »vorbereitend« über die Person der Kandidaten beraten wollen, zwar, unter Ausschluß der Polizei, zuläßt, den Zutritt zu ihnen aber prinzipiell nur den Wahlberechtigten des Bezirks bzw. den betreffenden Wahlmännern gestattet (unter Kontrolle des Zutritts der Teilnehmer durch die Polizei!). Von diesem Prinzip wird nun aber überdies (unglaublicherweise) eine Ausnahme zugunsten des die Wahl als Präsident leitenden Beamten (Adelsmarschall oder sein Vertreter), auch wenn er nicht selbst Wähler oder Wahlmann ist, gemacht. Daneben ist der Grundsatz der Wahl »aus der eigenen Mitte« bzw. »aus der Zahl der Teilnahmeberechtigten« aufrecht erhalten, dessen (faktische) Anwendung bei den Wahlen in den Vereinigten Staaten dort bekanntlich das Niveau der Legislaturen tief herabdrückt, – zweifellos einer der Zwecke dieser Bestimmung. In den Städten hat all dies mehr formale Bedeutung, was aber die Beaufsichtigung der Wählerversammlungen auf dem Lande, speziell bei den Bauern, bedeutet, wird sich jeder, vor allem auch die Bauern selbst, deren Kardinalforderung ja die Beseitigung der Beamtenaufsicht ist, sagen. Die Regierung, der es offenbar nur auf den momentanen Effekt ankommt, hat damit den Radikalen dauernd das bequemste (und legitimste) Agitationsargument in die Hand gegeben. Sie wird, höchst wahrscheinlich, konservative Bauernvertreter »erzielen«, – aber jeder Bauer wird wissen, daß sie ihn nicht vertreten: die Zahl der Gründe, um derentwillen er die Bürokratie haßt, ist um einen vermehrt. –

Niemand kann danach sagen, wie die bäuerlichen Wahlen zur Duma ausfallen werden. Im allgemeinen pflegen Ausländer eher auf eine extremreaktionäre, Russen eher auf eine, trotz alledem, extremrevolutionäre Zusammensetzung der Duma zu rechnen, soweit die Bauern in Betracht kommen. Beide könnten recht behalten, und, was wichtiger ist, das eine könnte mit dem andern für den Erfolg identisch sein. Bei den europäischen Revolutionen der Neuzeit sind die Bauern im allgemeinen vom denkbar weitestgehenden Radikalismus zur Teilnahmslosigkeit oder geradezu zur politischen Reaktion abgeschwenkt, nachdem ihren unmittelbaren ökonomischen Ansprüchen Genüge geschehen war. Es unterliegt in der Tat wohl keinem Zweifel,[52] daß, wenn ein ganzer oder halber Gewaltakt der Autokratie den Bauern den Mund mit Land stopfte oder wenn sie in der Anarchie das Land sich selbst genommen haben würden und man es ihnen, schließlich, so oder so, ließe, alles weitere für die Masse von ihnen erledigt und das Interesse an der Regierungsform erloschen sein würde. Die Ansicht der Vertreter der bürgerlichen Demokratie – speziell STRUVES – ist nun demgegenüber, daß das Verlangen der Bauern nach Land von einer reaktionären Regierung gar nicht erfüllt werden könne, da das die ökonomische Depossedierung nicht nur des Adels, sondern auch der Großfürstenschaft und schließlich des Zaren selbst bedeute. Die Interessen der Bauern seien mit dem Selbsterhaltungsinteresse dieser Mächte unvereinbar. Allein trotz der, an sich betrachtet, gewaltigen Ausdehnung der Güter des kaiserlichen Hauses ist ihr Umfang gegenüber dem Privatbesitz nicht sehr erheblich, und der Haß der Bauern richtet sich gerade gegen diesen letzteren. Dann aber fragt es sich, was und wieviel von den Bauernforderungen denn die Demokratie ihrerseits würde erfüllen können. Gegen eine einfache Landkonfiskation hat sich STRUVE natürlich mit der größten Energie ausgesprochen. Natürlich aber enthält die Erklärung des konstitutionell-demokratischen Programmes, daß den Enteigneten nicht der Marktwert des Landes vergütet werden sollte, vom »bürgerlichen« Standpunkt aus eine »Konfiskation«: das »Ertragswert-Prinzip« unserer Anerben-Politiker ist hier einmal revolutionär gewendet. Und schon von dem Vorschlag TSCHUPROWS fürchtete Fürst TRUBEZKOJ, daß er den liberalen Adel in das Lager SCHIPOWS treiben werde. Immerhin ist allem Anschein nach ein Teil des Adels, dieser in sich so höchst ungleichartigen Schicht – sie reicht, nach dem Ausspruch eines Unterrichtsministers NIKOLAUS I., »von den Stufen des Throns bis in die Reihen der Bauern« –, der Hergabe seines Landes in den gegenwärtigen Zeitläuften nicht abgeneigt: man lebe »lieber frei auf einem Landhaus ohne Land, als, wie jetzt, mit dem Lande in einer Festung«, sagte Fürst DOLGORUKOW auf dem liberalen Moskauer Agrarkongreß. Der hinter verschlossenen Türen abgehaltene Kongreß der landwirtschaftlichen Unternehmer in Moskau im Dezember 1905 aber verlangte bedingungslose Repression. – Jedenfalls kostet das Land für eine nicht gewaltsame Regierung ungeheueres Geld. Kolonisierbares Land ist, namentlich im Südosten, dann auch im Nordosten des weiten Reiches, zu gewinnen, – wenn gewaltige Kapitalien für Bewässerung und (in Sibirien) Waldrodung[53] flüssig gemacht werden. Die Beseitigung der Loskaufgelder, die Steuererleichterung der Bauern, die Zivilliste, welche an Stelle des Landbesitzes der kaiserlichen Familie zu treten hätte, die Verluste an Domänenrente, die Meliorationskapitalien, dies alles bedeutet eine gewaltige staatliche Mindereinnahme und einen ebenso gewaltigen Mehrbedarf, in toto Geldbeschaffungsprobleme noch nicht dagewesener Art. Und da schließlich mit der Landvermehrung allein das Agrarproblem ja schlechterdings nicht erledigt ist, dieser Weg vielmehr, als einziges Mittel gedacht, sehr wohl eine Gefährdung des »technischen Fortschrittes« bedeuten kann12, da also mit einer schweren Enttäuschung der Bauern auch nach Erfüllung aller ihrer Forderungen gerechnet werden müßte, und da vor allem endlich die Bauern nach dem Maß ihrer heutigen Entwicklung schwerlich als »Träger« oder »Stützen«, sondern wesentlich als »Objekte« der Agrarpolitik in Betracht kommen können, – so ist die Partei, welche jene Reform auf legalem Wege durchführen sollte, nicht um ihre Aufgabe zu beneiden.

Die Pfade der sozialreformerischen russischen liberalen Demokraten sind entsagungsvoll. Sie haben keine Wahl – nach ihrer Pflichtauffassung sowohl wie nach Erwägungen, die durch das demagogische Verhalten des alten Regimes bestimmt sind –, als bedingungslos das allgemeine gleiche Wahlrecht zu fordern. Und doch könnten ihre eigenen Ideen, wahrscheinlich, nur bei einem dem Semstwowahlrecht ähnlichen Wahlverfahren zu politischem Einfluß gelangen. Sie müssen, pflichtgemäß, eine Agrarreform mit vertreten, welche, der Wahrscheinlichkeit nach, nicht einen ökonomisch-technisch »fortschrittlichen« voluntaristischen Sozialismus, sondern den seinem Wesen nach archaistischen Kommunismus der Bauern, – nicht ökonomische Auslese der, im »geschäftlichen« Sinn, Leistungsfähigsten, sondern »ethische« Ausgleichung der Lebenschancen, – als ökonomische Praxis sowohl wie als ökonomische Anschauung der Massen gewaltig stärken und damit die, nach Ansicht der meisten von ihnen doch unvermeidliche, Entwicklung westeuropäischer individualistischer Kultur verlangsamen muß. –

[54] Auf eine solche Bewegung wird jener Typus des »satten« Deutschen, der es unmöglich erträgt, nicht mit der jeweils »siegenden Sache« zu sein, mit seinem von dem erhebenden Bewußtsein seiner Qualität als Realpolitiker geblähten Busen, nur mit Mitleid blicken können. Denn überdies sind natürlich ihre äußeren Machtmittel gering, worauf auch die extremen Sozialrevolutionäre immer wieder mit Hohn hinweisen. In der Tat: niemand weiß, wo man heute ohne die Einschüchterung der Autokratie durch den Tod PLEHWES und des Großfürsten SSERGJEJ stände. Das einzige Machtmittel ähnlicher Art, welches die Liberalen hatten, lag in dem Umstand, daß die Offiziere auf die Dauer nicht gewillt bleiben konnten, gegen Familien, denen sie zum großen Teil selbst entstammten, als Henker zu fungieren. Tatsächlich hat die von liberaler Seite empfohlene Taktik: nicht, wie dies ein Teil der Sozialrevolutionäre immer wieder tat, die Truppen durch Bomben und bewaffneten Widerstand zum Kampf zu reizen, sondern sich ihnen unbewaffnet in den Weg zu stellen, recht häufig gewirkt. Freilich, einer entschlossenen militärischen Führung gegenüber hätte all dies seine Schranken, und der augenblickliche Aufstand in Moskau wird der Disziplin des Heeres sehr förderlich sein. Dazu tritt nun freilich ein anderes, spezifisch »bürgerliches« Machtinstrument, – aber es liegt nicht in der Hand der russischen Liberalen: Ohne das sehr ernste Wort, welches die fremden Geldmächte – nicht expressis verbis, aber der Sache nach – gesprochen haben, wäre das Patent vom 17. Oktober vielleicht gar nicht erfolgt oder doch bald widerrufen worden. Alle Angst vor der Wut der Massen und vor der Meuterei der Truppen und die Schwächung des autoritären Regimes durch die Niederlage im Osten wirkten doch nur in Verbindung mit der Abhängigkeit von der kühlen harten Hand der Banken und Börsen auf die Autokratie. Darauf beruht die Stellung von Politikern wie WITTE und TIMIRJASJEW. Denn wenn der sozialdemokratische »Natschalo« den Grafen WITTE als »Agenten der Börse« bezeichnete, so steckte hinter dieser primitiven Vorstellung natürlich etwas richtiges. WITTE hat auf dem Gebiet der konstitutionellen Frage und der inneren Verwaltung schwerlich bestimmte Überzeugungen irgendwelcher Art. Jedenfalls stehen seine verschiedenen Erklärungen darüber im offensichtlichsten Widerspruch miteinander und hat er überdies auch jetzt die Gepflogenheit, Äußerungen, die von unverdächtigen Leuten als von ihm getan referiert werden, als »Mißverständnisse« zu dementieren, auch wenn[55] es sich um Verhandlungen mit Parteidelegierten, also nicht um vertrauliche Gespräche, handelt. Sein Interesse ist ganz wesentlich wirtschaftspolitisch orientiert. Er hat z.B., wie man sonst von ihm denken mag, den »Mut« – von seinem Standpunkt aus gesprochen – gehabt, das in den Augen der reaktionären Bürokratie wie der reaktionären Demokratie gleich schwere Odium einer Verteidigung des bäuerlichen Privatbesitzes auf sich zu nehmen, ebenso wie er jetzt den gesteigerten Haß der Slawophilen und überdies die durch seine »Unentbehrlichkeit« nur gesteigerte persönliche Abneigung des Zaren trägt. Ohne allen Zweifel ist sein Denken »kapitalistisch« orientiert, – wie das der Liberalen von STRUVES Gepräge es auch ist. An die Stelle der PLEHWEschen Versuche, mit den autoritär geleiteten Massen gegen das »Bürgertum« zu regieren, würde er zweifellos sehr gern eine Verständigung mit den besitzenden Klassen gegen die Massen setzen. Er, und vielleicht nur er, ist in der Lage, den Kredit und die Valuta Rußlands im gegenwärtigen Moment zu erhalten, und es ist sicher, daß er den Willen dazu besitzt. Daß dazu die Umwandlung Rußlands in einen Rechtsstaat mit gewissen konstitutionellen Garantien unbedingtes Erfordernis ist, weiß er zweifellos sehr wohl, und er würde voraussichtlich, wenn er die Möglichkeit dazu hätte, in der inneren Politik danach handeln, um sein Lebenswerk, die finanzielle Machtstellung Rußlands, nicht preiszugeben. Selbstverständlich tritt dazu der Gedanke, daß ein bis zu einem gewissen Grade »aufrichtig« liberales Regime das Bündnis mit Frankreich auch politisch festigen würde. Aber: unbeschränkte Tragkraft haben diese Motive zugunsten einer liberalen Politik natürlich für WITTE – und vollends für den Zaren und seine Umgebung – nicht, und es fragt sich nur, bei welchem Grade der Belastung sie zerbrechen und der Gedanke, es mit einer Militärdiktatur als Vorläufer irgendeines Scheinkonstitutionalismus zu versuchen, die Oberhand gewinnt. Ein solcher Gedanke ist für die nächste Zukunft natürlich durchaus praktikabel. Bleibt auch nur der zehnte Teil des Offizierkorps und der Truppen zur Verfügung der Regierung – und der Bruchteil würde gegebenenfalls näher an neun Zehntel liegen13 –, so wollen demgegenüber noch so viele Aufständige gar nichts besagen. – Die Börse begrüßte das erste Blut in den Straßen Moskaus mit einer Hausse, – und alles, was[56] seitdem geschah, zeigte, wie mächtig dies das Selbstvertrauen der Reaktion gestärkt und WITTE umgestimmt hat. Die wirtschaftliche Not, welche infolge der furchtbaren Verwüstungen in der Industrie eintreten muß, wird hier, wie überall, nach Enttäuschung der politischen Illusionen den Kampfesmut des Proletariats lähmen. Und eine Regierung, welche, der Sache nach, die Machtstellung des zentralistischen Beamtentums – darauf kommt es an – erhält, muß dem ausländischen Beobachter trotz allem vorläufig sehr wohl möglich erscheinen. Denn auch die sozialen Mächte, welche das bisherige Regime trugen, sind zweifellos schon jetzt stärker organisiert, als es äußerlich scheint. Ihre Renaissance hatte um so größere Chancen, je mehr, selbst angesichts der organisierten Mordbrennerbanden des in seiner Existenz bedrohten Polizeibeamtentums, der sektenhafte Krämergeist der »Berufs-Sozialisten« die Frontstellung ihrer Anhänger wesentlich gegen die mit ihnen »konkurrierenden« bürgerlichen demokratischen Parteien richtete und gerade nach dieser Richtung ihrem, wie wir in Deutschland am besten wissen, politisch so impotenten und, vor allem, jede Erziehung zur politischen Tatkraft vernichtenden, »menschlich« ja durchaus begreiflichen Schimpfbedürfnis freien Lauf ließ. Sie können sehr wohl den Triumph erleben, daß entweder die Reaktion ganz die Oberhand gewinnt, oder daß breite Schichten der Besitzenden in das Lager der »gemäßigten« Parteien übergehen, und sie werden damit das Recht erlangen, eine weitere Generation lang in gewaltigen Worten schwelgend – wie bei uns – sich an dem Gedanken zu berauschen: »was für schrecklich schlechte Menschen es doch gibt«.


Die Rechtsordnungspartei offerierte dem Grafen WITTE (20. November) Streikbrecherhilfe für den Fall des bevorstehenden Post- und Telegraphen-Ausstandes. Es haben sich solchen Gruppen teils die gemäßigten Duma- und Semstwomänner, teils die eigentliche Bourgeoisie, Bankiers und Großindustrielle, teils Leute angeschlossen, die, wie KRASSOWSKI, bei Beginn der Bewegung der Semstwokongresse den Standpunkt vertraten, daß keine Konstitution zu erreichen, aber eine gesetzliche Garantie der persönlichen und Preßfreiheit zu fordern sei, – ohne freilich angeben zu können, was diese, ohne Konstitution, praktisch bedeuten würde. Gemeinsam ist diesen Kategorien neben der Anerkennung des Manifests vom 17. Oktober, welches die[57] altkonservativen Beamten bekanntlich mit den Metzeleien der schwarzen Hundert beantworteten, vielleicht auch zu hintertreiben gehofft hatten, die unverhohlenere religiöse Indifferenz. Fest steht im übrigen von ihnen allen wohl nur, daß sie unbedingt für »Ruhe« sind und allem zustimmen, was diese auf irgendeine Weise herbeiführen kann: – der Petersburger »Rechtsordnungsverband« ist für das Judenwahlrecht, »damit sie sich beruhigen«, die Petersburger Zensuswähler waren, nach langer Debatte, für die Autonomie Polens aus dem gleichen Grunde, in anderen dortigen Zensuswählerversammlungen wurde, gegen die radikale Forderung der Trennung von Staat und Kirche, die Aufrechterhaltung des Unterrichtes im »göttlichen Gesetz« (Katechismus) als für die Ordnung unentbehrlich bezeichnet usw. Sie alle werden daher auch schließlich mit allem zufrieden sein, was der Zar ihnen zu konzedieren für gut findet. Es versteht sich, daß unter dem Druck der Bauern- und Militärrevolten, der Drohung mit dem Generalstreik und des in der Sozialdemokratie herrschenden Putschismus die Zahl dieser Leute in entschiedenes rasches Steigen geriet. Und es war selbstverständlich auch die Hoffnung der Regierung und speziell WITTES, daß die Anarchie in dieser Richtung wirken, und daß, wie WITTE es aussprach, schließlich »die Gesellschaft selbst« verlangen werde, daß man Ordnung schaffe, und – dürfen wir wohl hinzufügen – Platz werde für die Parole: »Enrichissez vous!« So geschah es. Natürlich aber vollzog sich diese Entwicklung auf Kosten der konstitutionellen Semstwodemokratie. Die Zeit der Semstwokongresse sei vorüber, bemerkte Fürst DOLGORUKOW resigniert. In der Tat: die Stunde der ideologischen Gentry war vorüber, – die Macht der materiellen Interessen trat wieder in ihre normale Funktion. Ausgeschaltet wird bei diesem Prozeß auf der Linken der politisch denkende Idealismus, auf der Rechten das auf die Erweiterung der alten Semstwo-Selbstverwaltung bedachte gemäßigte Slawophilentum. Beides würde WITTE wenig schmerzen. Trotzdem ist es im Effekt wahrscheinlich, daß WITTES zuwartende Politik die Geschäfte anderer besorgt hat, oder vielmehr, daß er nicht die Macht besaß, etwas anderes zu tun. Er ist in den Augen des Hofes im wesentlichen wohl in der Tat lediglich ein Platzhalter, den man wegen des Eindrucks nach außen, speziell auf die Börsen, und außerdem seiner Intelligenz wegen, jetzt nicht entbehren kann. – Denn über die Stellungnahme der dem Hofe nahestehenden Elemente in der Regierung hat wohl nie ein Zweifel obgewaltet. Die höheren[58] Verwaltungsbeamten jener Gebiete, in denen nach ganz unverdächtigen, und überdies gänzlich unbestrittenen, Nachrichten, die Polizei die Initiative zur Organisierung des Bürgerkrieges ergriffen hat, sind zwar in einzelnen Fällen, aus Rücksicht auf das Ausland, gemaßregelt worden, aber sie sind dabei, ebenso wie unsere preußischen »Kanalrebellen«, »die Treppe herauf gefallen«. Graf WITTE aber hat keinerlei ernstlichen Versuch gemacht, vielleicht gar nicht machen können, die rücksichtslose Obstruktion des Provinzialbeamtentums zu brechen, welches vorerst gar nicht daran denkt, an die Dauer eines konstitutionellen Regimes zu glauben. Wenn das die Liberalen als mangelnde »Ehrlichkeit« empfanden, so ist das begreiflich, aber vielleicht nicht ganz genau: »ein Schelm gibt mehr als er hat«, – das Hindernis liegt an einer höheren Stelle. Zahlreiche Maßregeln des Ministeriums des Innern, die man in den Zeitungen zu verfolgen imstande war, konnten gar keinen anderen Effekt haben, als abwechselnd die Masse zu reizen und dann ostensibel die Zügel am Boden schleifen zu lassen, bis der rote Schrecken so weit gestiegen wäre, daß die Zeit für den weißen reif würde. Es ist nicht zu glauben, daß diese Politik ausschließlich Produkt der Schwäche und Verwirrung gewesen sei: Man brauchte eine »Revanche für den 17. Oktober«. Was sie daneben herbeiführte und doch wohl auch herbeiführen sollte, mußte, bei längerer Dauer, zweifellos die Diskreditierung aller freiheitlichen Bewegungen, speziell aber des bürgerlich-konstitutionel len antizentralistischen Liberalismus sein, dessen Bedeutung in der öffentlichen Meinung und dessen Stellung in den Selbstverwaltungskörpern seit Jahrzehnten Gegenstand des Hasses der reaktionären ebenso wie der rationalistischen staatlichen Bürokratie ist. Zweifellos hätte er im Falle zeitweiliger völliger Anarchie noch weniger zu hoffen, als im Falle des Wiedererstarkens der Selbstherrschaft, deren Vorläufer ja, nach Lage der gegebenen Bedingungen, die Anarchie sein würde.

Es ist nun sicherlich richtig: die Erbtorheit nicht nur, wie man gesagt hat, jeder radikalen, sondern jeder ideologisch orientierten Politik überhaupt, ist die Fähigkeit, »Gelegenheiten zu versäumen«. Als VINCKE sich s.Zt. weigerte, privatim mit den Ministern der »neuen Ära« in Preußen über die einzubringende Militärvorlage zu verhandeln, da dies einem Volksvertreter moralisch nicht erlaubt sei, und ebenso, als 1893 die Liberalen um den Bruchteil einer Stunde zu spät zu dem Entschluß kamen, den sie nach der Reichstagsauflösung dennoch faßten, – da bedeutete dies beide Male einen verhängnisvollen[59] Wendepunkt für die Sache des Liberalismus. Man wird geneigt sein, anzunehmen, und manche Äußerungen WITTES suggerieren direkt dieses Urteil: daß die Liberalen ein – vom Standpunkt ihrer Parteipolitik aus gesprochen – ähnlicher Vorwurf treffen müsse. Auch ich hatte im Herbst prima facie diesen Eindruck. Allein je näher man die Lage der Dinge überdenkt, desto mehr wird man zu der Vermutung gedrängt, daß die liberalen Politiker das, was sie zu gewärtigen hatten, zutreffender beurteilten als jene Bemerkungen Graf WITTES. In jenen eben zitierten beiden Beispielen handelte es sich eben um zweifellos »aufrichtig« gemeinte Unterhandlungen. Im gegenwärtigen Fall aber ist auch dem »allergemäßigtsten« konstitutionellen Semstwoliberalismus überhaupt keine »Gelegenheit« geboten worden, und es lag daher offenbar gar nicht in seiner Macht, das Schicksal zu wenden, ebensowenig als dies 1877 in BENNIGSENS Hand lag, der damals mit weit besserem Grund, als unsere Historiker anzunehmen pflegen, den Eintritt in das BISMARCKsche Ministerium ablehnte. Denn, wie LUDWIG XVI. auf keinen Fall gerade von LAFAYETTE »gerettet« sein wollte, so scheint nichts sicherer, als daß die Hofkreise und das Beamtentum lieber mit dem Teufel als gerade mit dem Semstwoliberalismus paktieren würden. Politische Gegnerschaften innerhalb der gleichen sozialen Schicht oder zwischen gesellschaftlich rivalisierenden Schichten sind eben oft die subjektiv intensivsten.

Von seiten der Regierung war der weiteste »Schritt entgegen« die Einladung des Grafen WITTE an die Moskauer Uprawa, Repräsentanten der Semstwopar tei zu ihm zur Beratung zu schicken. Diese fand am 27. Oktober (a.St.) zwischen WITTE und den Delegierten GOLOWIN, Fürst LJWOW und KOKOSCHKIN statt. Die entscheidende Meinungsverschiedenheit blieb damals, daß Graf WITTE die Durchführung des allgemeinen gleichen geheimen Wahlrechts der durch Vertreter der Arbeiterklasse zu ergänzenden Reichs-Duma überlassen wollte und dafür ausdrücklich seine Mitwirkung in Aussicht stellte, die Delegierten dagegen auf der Einberufung einer konstituierenden Duma auf Grund jenes Wahlrechts als einzigen Mittels, die Ruhe zu sichern, bestanden. Allein hinter dieser angeblichen Differenz stand, abgesehen von dem alten Mißtrauen der Semstwoleute, der jeder Verständigung offenbar hinderliche Umstand, daß damals TREPOW noch im Besitz seiner Vollmachten war, daß später DURNOWO, den angesehene Personen in offenen Briefen an die Zeitungen unter[60] detaillierter Angabe der Fälle beschuldigten, Geld »selbst in kleinen Posten« (1200-1500 Rubel) für Vergünstigungen genommen zu haben14, an seine Stelle trat und darin blieb, und daß die verlangte präzise Deklaration des Manifestes vom 17. Oktober im strikt konstitutionellen Sinn ausblieb. Die Versicherung WITTES, daß er sich der konstitutionell-demokratischen Semstwopartei »am nächsten stehend« fühle, konnte unter diesen Umständen, zumal nach seiner »konfi denziellen Denkschrift« vom Jahre 1899, welche die Unvereinbarkeit der Semstwos mit der Autokratie hervorhob und so die beabsichtigte Verallgemeinerung der Semstwoverfassung durchkreuzte, unmöglich genügenden Glauben finden. Und vor allem: die Lage Rußlands »schreit« zwar nach einem »Staatsmann«, – aber: die dynastischen Ambitionen des »persönlichen Regiments« lassen dort so wenig Platz für einen großen Reformer – wenn er sich fände – wie anderwärts, etwa bei uns.

Es hat – soviel scheint vorläufig durchaus sicher – nicht einen einzigen Augenblick gegeben, in welchem von seiten des Zaren eine wirklich dauernde und aufrichtige Verständigung mit diesen, von ihm noch vor 6 Monaten mit äußerst unparlamentarischen Worten bezeichneten Männern überhaupt beabsichtigt war. Wenn man dieses »Moment« als »schlechthin gegeben« in die Rechnung einstellt, dann allerdings ist es unzweifelhaft wahr, daß Rußland für eine aufrichtig konstitutionelle Reform »nicht reif« ist, – aber dies liegt dann nicht an den Liberalen. Denn unter diesen Verhältnissen – wird man dann doch auch urteilen müssen – konnte, solange nicht ganz andere »Garantien« gegeben wurden, der Gedanke einer »Verständigung« mit der Regierung für den Semstwo-Liberalismus in der Tat nicht den geringsten politischen Sinn haben. Seine Vertreter konnten nichts anderes tun, als »ihren Schild rein erhalten«, nachdem sie ihrer »Mission« in dem Umfang und Sinn, in welchem dies im gegenwärtigen[61] Moment überhaupt möglich war, gewaltet hatten. Es ist durchaus möglich – wenn auch nicht sicher –, daß sie für die nächste Zukunft sich damit abzufinden haben werden, daß die in ihrer Art glänzende Bewegung des Semstwo-Liberalismus, auf welche Rußland ebensogut Grund hat, stolz zu sein, wie wir Deutschen auf das Frankfurter Parlament, vorerst vielleicht – in ihrer bisherigen Form – »der Geschichte angehört«. Und es wäre dies für ihre Zukunft vermutlich besser als ein »Märzministerium«. Nur so kann der »ideologische« Liberalismus eine, auf ihrem ideellen Gebiet, von äußerer Gewalt unerreichbare »Macht« bleiben, und nur so scheint es auch möglich, die im Laufe der letzten Zeit zerrissene Einheit zwischen der durch Besitz, umfassende Bildung und politische Erfahrung mächtigen »bürgerlichen« und der durch ihre Zahl, ihre enge Fühlung mit den »Massen« und ihren rücksichtslosen Kampfesmut wichtigen »proletaroiden« Intelligenz wieder herzustellen, nachdem diese ihre heutige Unterschätzung der faktischen Bedeutung, welche das ihr »empfindungsmäßig« antipathische »bürgerliche« Element nun einmal hat, infolge der Enttäuschungen, die ihr bevorstehen, abgelegt haben wird. Für die Zersetzung der »volkstümlerischen« Romantik wird die weitere Entwicklung des Kapitalismus sorgen. Zweifellos wird an ihre Stelle zumeist der Marxismus einrücken. Aber die Arbeit an dem gewaltigen und grundlegenden Agrarproblem ist mit seinen geistigen Mitteln nun einmal absolut nicht zu bestreiten und gerade sie kann beide Schichten der »Intelligenz« wieder zusammenführen. Sie kann offenbar nur von den Organen der Selbstverwaltung gelöst werden, und schon deshalb scheint es Lebensfrage, daß der Liberalismus seinen Beruf nach wie vor darin findet, den bürokratischen ebenso wie den jakobinischen Zentralismus zu bekämpfen und an der Durchdringung der Massen mit dem alten individualistischen Grundgedanken der »unveräußerlichen Menschenrechte« zu arbeiten, welche uns Westeuropäern so »trivial« geworden sind, wie Schwarzbrot es für den ist, der satt zu essen hat.

Diese15 »naturrechtlichen« Axiome geben ebensowenig eindeutige Weisungen für ein soziales und ökonomisches Programm, wie sie selbst ganz und gar nicht eindeutig durch irgendwelche – am wenigsten die »modernen« – ökonomischen Bedingungen allein produziert werden.

[62] Im Gegenteil: so sehr der Kampf für solche »individualistischen« Lebenswerte auf Schritt und Tritt mit den »materiellen« Bedingungen der Umwelt zu rechnen hat, – so wenig könnte ihre »Verwirklichung« der »ökonomischen Entwicklung« überlassen werden. Es stünde heute äußerst übel um die Chancen der »Demokratie« und des »Individualismus«, wenn wir uns für ihre »Entwicklung« auf die »gesetzmäßige« Wirkung materieller Interessen verlassen sollten. Denn diese weisen so deutlich wie möglich den entgegengesetzten Weg: im amerikanischen »benevolent feudalism«, in den deutschen sogenannten »Wohlfahrtseinrichtungen«, in der russischen Fabrikverfassung, – überall ist das Gehäuse für die neue Hörigkeit fertig, es wartet nur darauf, daß die Verlangsamung im Tempo des technisch-ökonomischen »Fortschritts« und der Sieg der »Rente« über den »Gewinn« in Verbindung mit der Erschöpfung des noch »freien« Bodens und der noch »freien« Märkte die Massen »gefügig« macht, es endgültig zu beziehen. Und zugleich schafft die zunehmende Kompliziertheit der Wirtschaft, die partielle Verstaatlichung oder »Verstadtlichung«, die territoriale Größe der Volkskörper stets neues Schreibwerk, weitere arbeitsteilige Spezialisation und Berufsschulung in die Verwaltung, d.h. aber: – Kaste. Jene amerikanischen Arbeiter, welche gegen die »Civil Service Reform« waren, wußten, was sie taten: sie wollten lieber von Emporkömmlingen zweifelhafter Moral als von einem patentierten Mandarinentum regiert werden, – aber ihr Protest ist vergebens. –

Möchten doch angesichts dessen diejenigen, welche in steter Angst davor leben, es könnte in Zukunft in der Welt zu viel »Demokratie« und »Individualismus« geben und zu wenig »Autorität«, »Aristokratie« und »Schätzung des Amts« oder dergleichen, sich endlich beruhigen: es ist, nur allzusehr, dafür gesorgt, daß die Bäume des demokratischen Individualismus nicht bis in den Himmel wachsen. »Die Geschichte« gebiert, nach aller Erfahrung, unerbittlich »Aristokratien« und »Autoritäten« neu, an welche sich klammern kann, wer es für sich oder – für das »Volk« für nötig findet. Käme es nur auf die »materiellen« Bedingungen und die durch sie direkt oder indirekt »geschaffenen« Interessenkonstellationen an, so würde jede nüchterne Betrachtung sagen müssen: alle ökonomischen Wetterzeichen weisen nach der Richtung zunehmender »Unfreiheit«. Es ist höchst lächerlich, dem heutigen Hochkapitalismus, wie er jetzt nach Rußland importiert wird und in Amerika besteht, – dieser »Unvermeidlichkeit«[63] unserer wirtschaftlichen Entwicklung, – Wahlverwandtschaft mit »Demokratie« oder gar mit »Freiheit« (in irgend einem Wortsinn) zuzuschreiben, während doch die Frage nur lauten kann: wie sind, unter seiner Herrschaft, alle diese Dinge überhaupt auf die Dauer »möglich«? Sie sind es tatsächlich nur da, wo dauernd der entschlossene Wille einer Nation, sich nicht wie eine Schafherde regieren zu lassen, dahinter steht. »Wider den Strom« der materiellen Konstellationen sind wir »Individualisten« und Parteigänger »demokratischer« Institutionen. Wer Wetterfahne einer »Entwicklungstendenz« sein will, der möge, so schnell wie nur möglich, diese altmodischen Ideale verlassen. Die historische Entstehung der modernen »Freiheit« hatte einzigartige, niemals sich wiederholende Konstellationen zur Voraussetzung. Zählen wir die wichtigsten davon auf. Zunächst die überseeische Expansion: in den Heeren CROMWELLS, in der französischen Konstituante, in unserem gesamten Wirtschaftsleben, noch heute, weht dieser Wind von jenseits des Meeres: – aber ein neuer Erdteil ist nicht mehr zur Verfügung; große Binnengebiete, des nordamerikanischen Kontinents einerseits, Rußlands andererseits, sind es, auf deren monotone, den Schematismus begünstigende Flächen der Schwerpunkt der Bevölkerung der westlichen Kultur unaufhaltsam vorrückt, wie einst in der Spätantike. Zweitens die Eigenart der ökonomischen und sozialen Struktur der »frühkapitalistischen«16 Epoche in Westeuropa und drittens die Eroberung des Lebens durch die Wissenschaft, das »Zusichselbstkommen des Geistes«: – aber die rationale Gestaltung des äußeren Lebens hat, zweifellos nach Vernichtung unzähliger »Werte«, heute wenigstens »im Prinzip« ihr Werk getan: die Uniformierung des äußeren Lebensstils an der Hand der »standardization« der Produktion ist, unter den heutigen Bedingungen des »geschäftlichen« Lebens, ihre universelle Wirkung, – und »die Wissenschaft«, rein als solche, schafft heute keine »Universalität der Persönlichkeit« mehr. – Endlich: gewisse, aus der konkreten historischen Eigenart einer bestimmten religiösen Gedankenwelt herausgewachsene ideale Wertvorstellungen, welche, mit zahlreichen ebenfalls durchaus eigenartigen politischen Konstellationen[64] und mit jenen materiellen Voraussetzungen zusammenwirkend, die »ethische« Eigenart und die »Kulturwerte« des modernen Menschen prägten. Die Frage, ob irgendeine materielle und gar die heutige hochkapitalistische Entwicklung als solche diese einzigartigen historischen Bedingungen zu erhalten oder gar neu zu schaffen vermöchte, braucht nur gestellt zu werden, um die Antwort zu wissen. Und kein Schatten von Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die ökonomische »Vergesellschaftung« als solche entweder die Entwicklung innerlich »freier« Persönlichkeiten oder aber »altruistischer« Ideale in ihrem Schoße bergen müsse. Finden wir etwa irgendwelche Keime von irgend etwas derartigem bei denen, welche, nach ihrer Ansicht, von der »materiellen Entwicklung« zum unvermeidlichen Siege getragen werden? In den Massen drillt die »korrekte« Sozialdemokratie den geistigen Parademarsch und verweist sie, statt auf daß jenseitige Paradies (welches, im Puritanismus, doch auch recht respektable Leistungen im Dienste der diesseitigen »Freiheit« aufzuweisen hatte), auf das diesseitige, – und macht dabei aus ihm eine Art von Schutzpockenimpfung für die Interessenten der bestehenden Ordnung. Sie gewöhnt ihre Zöglinge an Gefügigkeit gegen Dogmen und Parteiautoritäten, an erfolglosen Massenstreikspektakel und an den tatenlosen Genuß jenes entnervenden, in den Augen der Gegner ebenso harmlosen wie schließlich lächerlichen, Wutgebrülls ihrer Preßpfründner, – an einen »hysterischen Affektgenuß« also, welcher ökonomisches und politisches Denken und Handeln ersetzt und verdrängt. Auf diesem sterilen Boden kann, wenn das »eschatologische« Zeitalter der Bewegung vergangen ist und Generation auf Generation vergebens die Faust in der Tasche geballt oder die Zähne gen Himmel gefletscht hat, nur geistige Stumpfheit wachsen.

Und dabei drängt die Zeit, »zu wirken, solange es Tag ist«. Was jetzt, im Laufe der nächsten Generationen, solange die ökonomische und geistige »Revolution«, die vielgeschmähte »Anarchie« der Produktion und der ebenso geschmähte »Subjektivismus« noch ungebrochen bestehen, dem durch sie, und nur durch sie, auf sich selbst gestellten Individuum der breiten Massen nicht als »unveräußerliche« Persönlichkeits-und Freiheitssphäre gewonnen wird, das wird ihm, – wenn die Welt erst einmal ökonomisch »voll« und intellektuell »satt« ist, – vielleicht niemals erobert werden, soweit unsere schwachen Augen in den undurchdringlichen Nebel der Zukunft der Menschengeschichte zu dringen vermögen. –

[65] Rußland tritt, so schwer die Rückschläge in nächster Zeit auch sein mögen, dennoch endgültig in die Bahn spezifisch europäischer Entwicklung: die mächtige Einwanderung der Ideen des Westens zersetzt den patriarchalen und den kommunistischen Konservatismus hier, wie umgekehrt die gewaltige Einwanderung europäischer, gerade auch osteuropäischer, Menschen in die Vereinigten Staaten dort am Werke ist, die alten demokratischen Traditionen zu durchlöchern, – in beiden Fällen im Bunde mit den Mächten des Kapitalismus. In gewissen Beziehungen ist – wie später einmal ausgeführt werden mag – trotz der ungeheuren Unterschiede die ökonomische Eigenart der kapitalistischen Entwicklung der beiden »kommunizierenden« Bevölkerungsreservoirs doch vergleichbar: das Losgelöstsein vom »Historischen« zumal ist bei beiden gleich unvermeidlich und wirkt mit dem »kontinentalen« Charakter des fast schrankenlosen geographischen Schauplatzes zusammen. An beiden Entwicklungen aber – und das ist das Wichtigere – hängt gleichviel: es sind, in gewissem Sinn, in der Tat vielleicht »letzte« Gelegenheiten für den Aufbau »freier« Kulturen »von Grund aus«. – »Jahrtausende mußten vergehen, ehe du ins Leben tratest, und weitere Jahrtausende warten schweigend, was du mit diesem deinem Leben beginnen wirst«, – dieser Satz, den CARLYLES leidenschaftlicher Persönlichkeitsglaube jedem neuen Menschen zurufen wollte, kann ohne Übertreibung, wie auf die jetzige Lage der Vereinigten Staaten, so auf diejenige Rußlands, wie sie teils jetzt ist, teils nach einer weiteren Generation voraussichtlich sein wird, angewendet werden. Und deshalb vermögen wir, über alle Unterschiede der nationalen Eigenart und – verschweigen wir es uns nicht – wahrscheinlich auch vieler nationaler Interessen hinweg, unmöglich anders als mit tiefer innerer Bewegung und Anteilnahme auf den russischen Befreiungskampf und seine Träger – gleichviel welcher »Richtung« und »Klasse« – zu blicken.

Dafür, daß ihre Arbeit nicht erfolglos bleibe, wird das bevorstehende System des Scheinkonstitutionalismus selbst sorgen. Denn allerdings: soweit es auf die negative Seite des Problems ankommt, wird die Auffassung der »Entwicklungstheoretiker« stimmen: die bisherige russische Selbstherrschaft, d.h. die zentralistische Polizei-Bürokratie, hat gerade dann, wenn sie jetzt über die verhaßten Gegner siegt, nach aller menschlichen Voraussicht keine Wahl, als ihr eigenes Grab zu graben. Einen sogenannten »aufgeklärten« Despotismus gibt es für sie im Interesse ihrer Selbsterhaltung nicht,[66] und doch muß sie, im Interesse ihres unentbehrlichen Prestiges, mit jenen ökonomischen Mächten sich verbrüdern, die, unter den russischen Verhältnissen, Träger unaufhaltsamer »Aufklärung« und Dekomposition bedeuten. Sie ist – darin haben STRUVE und andere augenscheinlich recht – nicht imstande, die Lösung irgendeines der großen sozialen Probleme zu versuchen, ohne sich selbst dabei tödlich zu verletzen.

Wenn diese Zeilen gedruckt sind, werden sie zweifellos bereits veraltet sein. Niemand weiß heute, wieviel bis dahin von den Hoffnungen der Liberalen darauf, daß jetzt die Grundlage einer freiheitlichen, den bürokratischen Zentralismus brechenden Reform gelegt werde, noch übrig ist und wieviel von ihnen sich, wie eine Fata Morgana, in nichts aufgelöst haben wird. Dies letztere braucht durchaus nicht gerade in Form einer unverhüllten Restauration zu geschehen. Es kann vielmehr wohl als, wenigstens annähernd, sicher gelten, daß so etwas wie eine »Konstitution« und zugleich ein größeres Maß von Latitüde für Presse und persönliche Bewegung geschaffen bzw. aufrechterhalten werden wird. Denn es dürften auch die entschiedensten Anhänger des alten Regimes sich überzeugt haben, daß die Bürokratie, wenn sie alle Fenster und Türen verrammelt, auch selbst im Finstern zu tappen genötigt ist. Und aus den anderweit gemachten Erfahrungen könnten sie ferner die Hoffnung entnehmen, daß der Scheinkonstitutionalismus, verbunden mit irgendeiner ökonomisch orientierten »Sammlungspolitik«, ein weit geeigneteres Werkzeug für die möglichste Behauptung der eigenen Machtstellung darbieten könne als die plumpe sogenannte »Selbstherrschaft«. Ein gewisses Maß von Vermehrung der Bewegungsfreiheit würde dann wohl immerhin als unvermeidlich herauskommen und, nach einem Willkürregiment, welches notorisch Angehörige von sprichwörtlich »friedlichen« Bevölkerungsschichten in wildem Zorn auf die Straße trieb, um, nicht irgendeinen von den »Großen« sondern irgendeinen armseligen Polizisten über den Haufen zu schießen, – ist das ja für moderne Menschen immerhin etwas. Aber die charaktervollen und selbständigen Elemente der sozialreformerischen bürgerlichen Intelligenz würden dabei natürlich politisch beiseite geschoben, sowohl was ihr Programm, wie, was ihre Person anlangt. In dieser Hinsicht also würde die Bürokratie des autokratischen Regimes allerdings auch jetzt die Früchte ihrer langjährigen, einerseits den Kapitalismus züchtenden, andererseits jede geordnete Entwicklung[67] bürgerlicher Selbständigkeit unterbindenden, die Klassen gegeneinander ausspielenden demagogischen Politik ernten, als eine für irgendwelche Dauer berechnete, irgend jemanden befriedigende konstitutionelle und anti-zentralistische Reform unter Beteiligung der liberalen Intelligenz heute vielleicht selbst dann schwierig wäre, wenn der Monarch Beruf und Neigung dazu fühlen würde, als liberaler Reformer aufzutreten. Und daß gar jene der Bürokratie verhaßte Gruppe das Heft in die Hand bekommt, ist durchaus unwahrscheinlich. – Aber allerdings: ein Sieg der bürokratischen Machtinteressen, wie er, für jetzt, dem Außenstehenden nach Lage der Dinge möglich und – wenn auch wohl unter konstitutionellen Formen – sehr wahrscheinlich erscheinen muß, würde in Rußland so wenig das letzte Wort sein wie seinerzeit die preußische »Landsratskammer« Die Wahlen mögen die willfährigste »Volksvertretung« ergeben, – das sagt nichts. Jeder Bauer im weiten Reiche wird daraus nur erneuten Haß gegen die »Tschinowniki« saugen, mag auch Grabesstille sich über das Land breiten. Denn, was auch geschehen möge: vergessen werden die Ereignisse, Versprechungen, Hoffnungen des vergangenen Jahres schwerlich. Jeder Augenblick der Schwäche dieses auf dem Seil tanzenden Staatsmechanismus muß die Bewegung wieder aufleben lassen. Jene erschreckende Dürftigkeit des »Geistes«, in welcher dieses vermeintlich so »starke« Regime, trotz des scheinbaren Raffinements seiner Regierungstechnik, sich vor der Öffentlichkeit zeigte, haftet sicherlich sehr fest in der Erinnerung der breitesten Volksschichten. Das jetzige System kann aber auch seine Verwaltungsmethode im Interesse seiner eigenen Sicherheit nicht prinzipiell ändern. Es muß, seinen politischen Traditionen gemäß, auch die politischen Kräfte weiter wirken lassen, durch die es sich selbst zersetzt und seinen ökonomischen Verbündeten, den Besitz, immer wieder auf die Seite seiner Gegner treibt: die Bürokratisierung der Verwaltung und die Polizei-Demagogie. Aber die Illusionen und der Nimbus, mit dem es sich umgab, und welche diese Entwicklung verhüllten, sind gründlich zerstört. Es wird ihm doch schwer fallen, nach allem dem, was zwischen dem Zaren und seinen Untertanen vorgefallen ist, »sein Gesicht zu wahren« und das alte Spiel ganz von neuem in der alten Art wieder aufzunehmen. Allzugroß ist die Zahl derer, die es in seiner Blöße sahen und die ihm ins Gesicht lächeln müßten: »Taschenspieler! – Du wirst keinen Geist mehr rufen«17.[68]


Fußnoten

1 Der erste der beiden Rußlandberichte MAX WEBERS aus den Revolutionsjahren 1905/06 erschien in der Beilage zum 1. Heft des XXII. Bandes des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik und umfaßt darin die Seiten 234 bis 353. Der Beitrag von MAX WEBER und die in der folgenden Anm. 2 erwähnten Darlegungen von S. J. GIWAGO sind zusammengefaßt unter dem Titel »Zur Beurteilung der gegenwärtigen politischen Entwicklung Rußlands« und bilden gemeinsam den Inhalt dieses (ersten) Beiheftes aus dem Februar 1906. Der auszugsweise Abdruck bezieht sich auf die (dortigen) Seiten 246-248, 250-258, 280-281, 291-296, 317-318, 321-322, 332-339, 341-353 mit einem Teil der Originalanmerkungen. (D.H.)


2 Dem Bericht MAX WEBERS ging eine kurze Besprechung aus der Feder S. J. GIWAGOS über den Entwurf für eine Verfassung des russischen Reiches voraus (ebd. S. 229 bis 233), der von einer Gruppe von Angehörigen der konstitutionelldemokratischen Bewegung aufgestellt und im Verlag ihrer in Paris erscheinenden Halbmonatsschrift mit einem Vorwort von deren Herausgeber PETER STRUVE im Jahre 1905 erschienen war. Die im Entwurf vorgeschlagene Verfassung – etwa im Sinne der belgischen parlamentarischen Monarchie ausgerichtet – bestand aus 80 Artikeln; ihr war außerdem der Text eines Wahlgesetzes mit 45 Artikeln beigefügt. Den Abschluß bildeten die 60 Seiten umfassenden programmatischen Erklärungen der Verfasser zu ihren Entwürfen. Über das fernere Schicksal dieses Verfassungsentwurfes s. [1.] Beiheft, S. 236 bis 242, 246. (D.H.)


3 Und – wie ausdrücklich hinzugefügt sein möge – trotzdem jede unbefangene Betrachtung sich hüten wird, Männer wie etwa PLEHWE als eine Art Theaterbösewichte oder Finsterlinge sich vorzustellen. Davon ist keine Rede: die eherne Konsequenz des Systems, dem sie dienten, die rationalistische Regierungspragmatik dieser »aufgeklärten« Bürokratie, welche ganz naturgemäß auf den »Schlendrian« und unpraktischen »Eigensinn«, die »Sonderinteressen«, den »Unverstand« und Egoismus, die »utopischen Träume« der »Intelligenz« und Selbstverwaltungskörper und die »Phrasen« der Presse, zornig als auf Elemente blickte, welche die Vereinigung utilitarischer Volksbeglückung von oben mit dem entsprechenden Respekt vor der Autorität, den die »Staatsräson« forderte, immer wieder hemmten und durchkreuzten, – dies System war es, welches das Leben »zur Hölle werden« und, bei der Nachricht von PLEHWES Ermordung, stille weltfremde Stubengelehrte in eine Art von Taumel wilder Freude geraten ließ. Wer das mit ansah, dem ist es zunächst einmal »Kritik« genug. – Aber nicht nur würde die Bilanz dieses Systems, unter utilitarischer Bewertung aufgemacht, ganz bedeutende Aktiven aufzuweisen haben, sondern namentlich war der Weg zu jener »Hölle« auch hier, wie immer, mit den allerausgezeichnetsten Vorsätzen gepflastert, die sich, vor allem, sämtlich »bei den Akten« befinden. Und wenn auf Grund dieser Akten ein künftiger Historiker die Geschichte dieses Ancien Régime schreibt, so wird es sicherlich, ebenso wie nach der jetzigen Mode das – übrigens höchst wesentlich anders geartete – französische von vor 1789, in den freundlichsten Farben erstrahlen: der Historiker hat ja nicht unter ihm zu leben brauchen. – Innerhalb der staatlichen Bürokratie, zumal der unteren, aber auch der höchsten Stellen, stehen sich politische Ansichten der allerverschiedensten Art, bis zu den allerradikalsten, gegenüber. Nur die Entscheidung der »maßgebenden« Stelle fällt seit 25 Jahren konsequent nach der Seite der Polizeiinteressen aus. Unter den heutigen Bedingungen ist ein »aufgeklärterer« Absolutismus – und vielleicht ist gerade dies der entscheidende Punkt für die Kritik des ganzen Systems – einfach deshalb unmöglich, weil, höchst wahrscheinlich, das bisher bestehende Regime so »aufgeklärt« war, wie der Absolutismus unter den modernen Verhältnissen, im Interesse seiner Selbsterhaltung, überhaupt sein kann.


4 Vgl. die von sozialdemokratischer Seite geübte Kritik an dem Eintreten LASSALLES für das allgemeine Wahlrecht in den sechziger Jahren in der Einleitung zu der (parteioffiziellen) Ausgabe seiner Schriften (Band I, S. 124).


5 Dies Gerede ist zur Zeit schon deshalb deplaziert, weil es zu kritischer Vergleichung der gegenwärtigen Leistungen der Länder mit parlamentarisch-demokratischem und derjenigen mit »persönlichem« Regiment auffordert und dabei selbst auf dem eigensten Gebiet der angeblichen spezifischen Leistungsfähigkeit der letzteren: der auswärtigen Politik, diese doch wohl stark den Kürzeren ziehen. Die Leistungen unserer deutschen Diplomatie zu beurteilen, ist nur berechtigt, wer die Akten kennt. Aber jeder kann sehen, daß die konsequente Führung und das Erzielen dauernder Erfolge für sie schlechthin unmöglich gemacht werden muß, wenn ihre Arbeit beständig durch geräuschvolle Intermezzi, Reden, Telegramme und unerwartete Entschließungen des Monarchen gestört wird und so ihre ganze Kraft darin aufgeht, die dadurch verfahrene Situation wieder zurechtzurücken, oder sie gar schließlich auf die Idee verfällt, selbst jene theatralischen Mittel benutzen zu wollen.

6 Vgl. JELLINEKS bekannte Schrift über die »Menschen- und Bürgerrechte«; meine Abhandlung im Archiv f. Sozialwissenschaft, Bd. XX 1, XXI 1; E. TROELTSCHS Darstellung des Protestantismus in HINNEBERGS »Die Kultur der Gegenwart« (I, 4, 1). – STRUVE ist von JELLINEKS Arbeiten, die er wiederholt zitiert, angeregt. – Die Verwandtschaft der ökonomischen und politischen Ethik der russischen rationalistischen Sekten mit dem Puritanismus (im weiten Sinne des Wortes) ist schon LEROY-BEAULIEU und anderen nicht entgangen. Aber wenigstens bei dem zahlenmäßig bedeutendsten Teil, dem eigentlichen »Raskol«, stehen dem tiefe Unterschiede in der Eigenart der »innerweltlichen Askese« gegenüber.


7 Die größten Petersburger Firmen erklärten dem Ministerium am 31. Januar (a.St.) in einer Eingabe, daß nur »gründliche Reformen allgemeinpolitischen Charakters«, nicht aber administrative Einmischung in das Arbeitsverhältnis, die Arbeiter »auf den Weg des Gesetzes« zurückbringen könnten. Ebenso die Moskauer Großindustrie (Prawo, S. 588).


8 Auf den – hier ganz überwiegend nicht abgedruckten – Seiten 296 bis 332 des [1.] Beiheftes behandelt MAX WEBER die damaligen Probleme der russischen Agrarreform. (D.H.)


9 Unter »Feldgemeinschaft« ist hier stets jenes System (der sog. »strengen F.-G.«) verstanden, bei welchem der Einzelne seinen Anteil (Ackerland etc.) nicht von der Familie erbt, sondern von der Gemeinde (durch Umteilung) zugewiesen erhält.


10 agrarischen


11 Zu der der Ideologie der »Sozialrevolutionäre« überhaupt naheliegenden »Pragmatik der Staatsallmacht« bemerkt MAX WEBER (auf Seite 316): »ein bedenklicher Vorgeschmack der zentralistisch-bürokratischen Entwicklung, welche Rußland unter dem Einfluß radikaler Theoretiker nur allzu leicht nehmen könnte«. (D.H.)


12 Alle spezifische Bauernpolitik läßt, vor allem, in den Getreideexportgebieten das durch die Kürze der Vegetationsperiode gegebene Betriebsproblem ganz unberührt. Das Absterben des Kustar und des bäuerlichen Hausfleißes infolge des Kapitalismus und die geldwirtschaftliche Bedarfsdeckung berühren hier – darin haben die »Volkstümler« ganz recht – direkte Existenzfragen der Bauernwirtschaften.


13 Der Verlauf des soeben tobenden Moskauer Aufstandes zeigt es. – Nur ein unglücklicher europäischer Krieg würde die Selbstherrschaft endgültig zertrümmern.


14 Auch privatim werden ganz konkrete Fälle mit allen Einzelheiten und Angabe völlig unverdächtiger Gewährsmänner erzählt. Trotzdem nun DURNOWO den auch in öffentlichen Versammlungen erhobenen Vorwurf offenbar nicht gerichtlich ablehnen kann, – ist er soeben dekoriert und befördert worden. Es ist die Stärke – und Schwäche – des Zarismus gegenüber den »Ideologen«, daß er, im Gegensatz zu ihnen, auch für diese Art von »Gentlemen« »Verwendung« hat und – haben muß. Er kann, wie er ist, die verschmitzte Bauern-Tücke solcher Getreuer keinen Moment entbehren, und der Zar muß daher Leuten die Hand drücken, denen jeder unabhängige »Bürger« den Gruß verweigern würde.


15 individualistischen


16 Was darunter zu verstehen ist, hat SOMBART in wichtigen Punkten m.E. durchaus zutreffend charakterisiert. »Endgültige« historische Begriffe gibt es nicht. Die heutige Schriftstellereitelkeit aber, einer von einem anderen gebrauchten Terminologie gegenüber sich ebenso zu verhalten wie etwa gegenüber seiner Zahnbürste, mache ich nicht mit.


17 FRIEDRICH SCHILLER, Der Geisterseher, 1. Buch. (D.H.)


Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988, S. 69.
Lizenz:

Buchempfehlung

Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

Manon Lescaut

Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon