Debatterede zu den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Mannheim 1905 über das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben.

[394] ... Der Herr Vorredner1 sprach sein Erstaunen darüber aus, daß es nach dem »sittlichen Standard« der deutschen Arbeiter möglich gewesen sei, daß 195000 Arbeiter unter Bruch des Kontrakts ohne Kündigung die Arbeit niederlegten2. In der Tat: eine sehr auffallende Erscheinung! Weit auffallender aber als sie selbst ist, was nun weiter geschah: der Reichskanzler, die Staatsregierung, die öffentliche Meinung, die politischen Parteien ohne Ausnahme – die Konservativen nicht ausgeschlossen: erst als die Angst ihnen aus den Gliedern genommen war durch die Wiederaufnahme der Arbeit, besannen sie sich eines anderen – haben sich durch diesen Kontraktbruch nicht gehindert gefühlt, den Versuch zu machen, einen Druck auf die Arbeitgeber auszuüben, und aus dem Streik nicht die Konsequenz eines Vorgehens gegen die Arbeiter, sondern eines solchen gegen die Interessen der Arbeitgeber herzuleiten. Es scheint also, daß nach ihrer Ansicht die Sache so lag: Wenn diese 195000 Arbeiter unter Bruch der Kündigungsfrist die Arbeit niedergelegt haben, um so schlimmer – für die Kündigungsfrist. Es entspricht eben, das scheint mir daraus hervorzugehen, nicht mehr dem modernen Rechtsbewußtsein, daß ein Vertrag, der ein einseitiger Unterwerfungsvertrag ist, durch irgendwelche Kündigungsfrist zugunsten der Exploiteurs, die sich auf den Machtstandpunkt stellen, rechtlich gesichert wird, und wenn ich für meine Person daraus eine Konsequenz ziehen soll, so könnte es nur die sein: daß durch Gesetz die Möglichkeit beseitigt werden müsse, den Arbeiter überhaupt an irgendwelche Kündigungsfristen zu binden, es sei denn, daß der Kontrakt auf Grund eines Tarifvertrags geschlossen wird. Dies ist meine persönliche Stellung zu dieser Bemerkung über den sittlichen Standard der Arbeiter. Nach dem, was hier über die Arbeiter[394] gesagt worden ist, würde ja jedenfalls auch der Herr Reichskanzler nicht mehr zu den sittlich voll qualifizierten Personen gehören dürfen; denn er hat den Kontraktbruch zwar mit Worten, aber – worüber der Herr Vorredner selbst gewiß mit mir der gleichen Meinung ist – nicht mit Taten mißbilligt.

Nun verlasse ich aber den Herrn Vorredner, um zu etwas allgemeineren Betrachtungen innerhalb der kurzen Zeit, die ich habe, überzugehen. Wenn man sich über derartige sozialpolitische Dinge, wie die heute hier zur Debatte stehenden, verständigen will, so muß der einzelne vor allen Dingen sich klar sein, welches denn der entscheidende Wertgesichtspunkt ist, von dem aus er persönlich die Erscheinung, um deren gesetzgeberische Behandlung es sich handelt, betrachtet. Ich konstatiere nun, daß für mich ausschließlich die Frage in Betracht kommt: Was wird »charakterologisch« – um das modische Wort zu gebrauchen – aus den Menschen, die in jene rechtlichen und faktischen Existenzbedingungen hineingestellt sind, mit denen wir uns heute beschäftigen? Und diese Seite der Sache möchte ich durch eine kleine Parallele des näheren veranschaulichen. Während des venezolanischen quasi-Kriegs erschien in einer venezolanischen Zeitung eine Erklärung einer deutschen Kolonie, welche dem Präsidenten Castro ihr Vertrauen aussprach und die venezolanische Nation um Verzeihung bat für die Taktlosigkeit und Gewalttätigkeit, die vermöge seines barbarischen Regimes von seiten Deutschlands an einem so zivilisierten Volk wie den Venezolanern verübt worden sei. – Kanaillen, werden Sie sagen. Gut; – in den Zeitungen des Saarreviers, im Tätigkeitsbereich also des Herrn Dr. Tille, erscheinen gelegentlich der Reichstagswahlen durchaus regelmäßig Annoncen, in welchen sich Bergleute öffentlich verwahren gegen den Verdacht, für eine bestimmte Partei, z.B. die Zentrumspartei, gestimmt zu haben. Kanaillen! sage ich, gleichviel um welche Partei es sich handelt. Ich frage Sie aber: Wer erzieht denn diese Leute zu Kanaillen? Nicht die ehrenwerten Staatsbürger hier, mit denen wir heute uns streiten, wohl aber das System, welches sie im Saarrevier und anderwärts vertreten. Ich selbst z.B. kenne das Saarrevier und die Stickluft sehr wohl, welche jenes System dort verbreitet – nicht für Sie, Herr Dr. Tille, und die Ihrigen, wohl aber für andere, und zwar nicht nur für Arbeiter, sondern für jeden, der es wagt, in einer Art politisch tätig zu sein, die diesen Herren mißfällt. Bei Gymnasiallehrern und Beamten, bei allen, mit denen ich seinerzeit in Berührung kam, stand fest, daß alles, was Staatsbehörde heißt, bis zum Oberpräsident hinauf, nach der Pfeife dieser Herren tanzte, jede Selbständigkeit der Ansicht die Gefahr der Versetzung oder Maßreglung brachte. Die einzige Macht, die unter diesen Umständen überhaupt einen Rückhalt bietet, ist die katholische Kirche, vertreten z.B. durch Leute wie den Kaplan Dasbach, nicht aber der Staat. Der preußische Staat und das autoritäre System erziehen solche Kanaillen, wie sie sich damals in Venezuela manifestierten. Und nicht nur dort wirkt dieses System depravierend und charakterschwächend. Ich[395] könnte Ihnen bei genügender Zeit im einzelnen analysieren, nach meinen eigenen Eindrücken im Auslande, wie groß die Nachwirkung – der Fluch, möchte ich geradezu sagen – des autoritären Empfindens, des Reglementiert-, Kommandiert- und Eingeengtseins, welchen der heutige Staat und das heutige System der Arbeitsverfassung im Deutschen erhält, und wie darin z.B. die Schwäche der Deutschen in Amerika, die geringe werbende Kraft unserer reichen Kultur mitbegründet liegt, wie die Verachtung des Deutschen in der ganzen Welt herrührt von den Charaktereigenschaften, die eine gedrückte Vergangenheit ihm aufgeprägt hat und der Druck des autoritären Systems in ihm verewigen möchte. Und warum nun eigentlich? Ich kann das nicht ausführlich erörtern, namentlich nicht, inwieweit die selbstverständlich bis zu einem gewissen Grade berechtigte Behauptung der Herren Arbeitgeber zutrifft, daß ihnen die allerverschiedensten technischen und ökonomischen Schwierigkeiten durch das Vorhandensein von Gewerkvereinen gemacht würden. Ich kann nur darauf hinweisen, daß die hochstehenden Industrien der Welt in England und Amerika trotz aller Schwierigkeiten eben im Erfolge doch damit vorzüglich auskommen. Es liegt das zum guten Teil nicht in ökonomischen Notwendigkeiten, sondern in unseren deutschen Traditionen. Meine verehrten Anwesenden! Wer die Wirkung unseres Gebarens auf die ausländischen Nationen, mit denen wir in der Politik zu rechnen haben, betrachtet, bemerkt leicht, wie unsere gegenwärtige Politik nicht selten den Eindruck erweckt und erwecken muß, daß sie nicht etwa die Macht, sondern vor allem den Schein der Macht, das Aufprotzen mit der Macht sucht. Und wenn die Welt darin etwas Parvenümäßiges findet – parvenus de la gloire, wie die Franzosen nicht ganz mit Unrecht sagen –, so teile ich diese Empfindung und möchte hinzufügen: So etwas steckt auch unseren Arbeitgebern im Blute, sie kommen über den Herrenkitzel nicht hinweg, sie wollen nicht bloß die Macht, die gewaltige, faktische Verantwortung und Macht, die in der Leitung jedes Großbetriebes liegt, allein – nein, es muß auch äußerlich die Unterwerfung des anderen dokumentiert werden. Bitte, sehen Sie sich nur einmal den Dialekt einer deutschen Arbeitsordnung an! »Wer das und das tut, der wird bestraft«, »wer das und das tut, bekommt erstmalig einen Verweis, zweitmalig eine Geldstrafe usw.«; man kann nur sagen: es ist Schutzmannsjargon, der da in einem Kontraktverhältnis, als welches doch gerade die Herren Arbeitgeber die Beziehungen ansehen, geredet wird.

Es könnte auch anders formuliert werden, und es ist anderwärts anders formuliert worden. Aber gerade dieser Tonfall ist es ja, der, so scheint es, den eigentümlichen psychischen Reiz bildet. Und wie in diesen, wenn Sie wollen, Kleinigkeiten, so im Großen. Diesen Herren steckt eben die Polizei im Leibe, und je weniger der deutsche Staatsbürger offiziell im Deutschen Reiche politisch zu sagen hat, je mehr über seinen Kopf hinweg regiert wird, je mehr er Objekt der Staatskunst ist und nichts anderes, desto mehr will er da, wo er nun einmal pater familias ist – und das ist er eben auch im Riesenbetriebe[396] –, denjenigen, die unter ihm sind, zeigen, daß er nun auch einmal etwas zu sagen hat und andere zu parieren haben. Dieser spießbürgerliche Herrenkitzel hat wieder und wieder die Nation Millionen und Abermillionen gekostet, er ist es auch, der den Charakter unserer Arbeiterbevölkerung verfälscht, und in diese Kategorie gehört auch, und damit komme ich zum Thema des heutigen Tages, unser geltendes Arbeiterrecht. Bei dem Kongreß unseres Vereins in Köln hat jemand, ich glaube Herr Professor Jastrow, gesagt: Wenn heute ein Streikender zu einem Arbeitswilligen sagt: streikst du nicht mit, so tanzt meine Auguste nicht mehr mit dir, so macht er sich strafbar. Das ist kein Scherz, sondern wörtlich geltendes Recht, und ich möchte den Juristen sehen, der es zu bestreiten vermag. Die Tatsache nun, daß es ein solches Recht in Deutschland gibt, ist nach meiner subjektiven Empfindung nichts anderes als eine Schande. Es ist ein Recht für alte Weiber. Es schützt die Feigheit. Denken Sie zum Vergleich an die Umgrenzung, die das römische Recht, das Recht des männlichsten Volkes der Erde, der rechtlichen Wirkung der Bedrohung gegeben hatte: metus qui in constantissimum virum cadere potest, Drohungen, die auch den furchtlosesten und standhaftesten Mann beeinflussen können, gelten als rechtlich irrelevant. Es ist unmöglich, ein solches Recht wie das unsrige in irgendeinem Sinne zu halten, und ich bin der Meinung, daß etwas Zweifaches unbedingt geschehen muß, wenn man diesen Paragraphen nicht einfach über Bord werfen und sich auf den Boden des gemeinen Strafrechts stellen will, welches ja Bedrohung mit einem Verbrechen und Erpressung ohnehin vollkommen genügend unter Strafe gestellt hat. Will man darüber hinausgehen, dann kann nur Bedrohung mit einem unmittelbar präsenten materiellen Schaden in Frage kommen. Das zweite ist – zu meiner Freude ist Herr Geheimrat Brentano bereits darauf eingegangen –: die schneidende Einseitigkeit des heutigen Rechts, daß zwar der sog. Arbeitswillige, der alle Vorteile des Streiks genießt, aber sie nicht bezahlen, sondern den Kämpfern in den Rücken fallen will, den Schutz des Rechts genießt – also die Gesinnungslosigkeit und der Mangel an kameradschaftlicher Ehre geschützt wird –, daß es aber auf der anderen Seite den Arbeitgebern unbenommen bleibt, dem Arbeiter mit der Kündigung zu drohen, wenn er von seinem Koalitionsrecht Gebrauch machen will, ohne daß dieser strafrechtlichen Schutz genösse. Die Forderung einer Strafbestimmung für diesen Fall ist doch eine ganz selbstverständliche, solange irgendein Ausnahmerecht zugunsten der Arbeitswilligen besteht.

Nun, verehrte Anwesende, komme ich noch zu den großen Fragen, die Herr Professor Brentano am Schluß seiner Thesen angeschnitten hat. Ich glaube, daß diese Zwangsorganisation, wie er sie vorschlägt, nur als ein Wechsel auf eine ziemlich ferne Zukunft akzeptabel ist. Augenblicklich würde ich sie für recht bedenklich halten. Denn wenn man sich die Sache praktisch vorstellt, kommt sie doch darauf hinaus, daß der Staat im Falle des Ausbruchs einer Arbeitsstreitigkeit zunächst[397] einmal einfach alle Betriebe sistiert – sonst hat ja die Zwangsorganisation keinen Sinn. Er verbietet also dann nicht nur allen Arbeitern des Gewerbes, auch wenn sie weiterarbeiten wollen, die Arbeit fortzusetzen, sondern er verbietet auch allen Arbeitgebern, welche den Arbeitern entgegenkommen wollen, dies ohne gemeinsamen Beschluß zu tun. Das letztere ist in gewissem Sinne ja freilich einfach die offizielle Dekretierung dessen, was wir von seiten der Arbeitgeberverbände annähernd schon jetzt erleben. Der Staat schafft dadurch unzweifelhaft sowohl die Arbeitswilligen wie alle übrigen Schwierigkeiten auf sehr einfache Weise aus der Welt und sagt: nun, bitte, jetzt wird einfach gewartet, wer von beiden es am längsten aushält! Von Herrn Dr. Naumann sind ja nun bereits die heutigen Chancen des Ausgangs dergestalt staatlich reglementierter Mensuren nach gewissen Richtungen hin indirekt mitkritisiert worden. Mich interessiert aber noch etwas weiteres an der Sache: Wie soll man sich eigentlich das Weiterbestehen der Gewerkvereine bei solchen Zuständen denken? Wozu dienen sie noch? Nur dazu etwa, daß die nichtorganisierten Mitglieder des Zwangsverbandes es in der Hand haben, zu beschließen: es wird gestreikt, wenn sie sehen, daß die Gewerkvereine volle Kassen haben, und diese dann die Kosten bezahlen lassen? Es kommt noch etwas anderes hinzu: Wenn wir uns auf den Boden der Zwangsorganisation stellen, dann wird unbedingt eines eintreten: das Eindringen rein politischer Gesichtspunkte in das Streikwesen. Es ist ja Herrn Dr. Naumann gewiß zuzugeben, daß wir heute bereits auf dem Wege zum politischen oder doch zum sozialpolitischen Demonstrationsstreik sind. Wir sind aber noch nicht soweit, daß der politische Streik alleinherrschend oder auch nur überwiegend ist. Wenn aber eine Zwangsorganisation besteht und sie den Streik beschließt, so wird dasselbe geschehen, was in den Kommunen und anderen Zwangskörperschaften auch geschieht: die gewaltige Attraktionskraft der politischen Parteien wird es sein, welches alles andere über den Haufen rennt, und die Frage, ob gestreikt wird oder nicht, wird aus parteipolitischen Gesichtspunkten und nicht aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten beantwortet werden. Das Interesse an den Gewerkvereinen aber wird dahin sein: – man hat ja nun den Zwangsverband –, und auch für diesen wird, zumal wenn er Zwangsabgaben eintreibt, um zu existieren, wenig aktive Begeisterung aufkommen können.

Ich persönlich stehe ganz offen auf dem Standpunkt, daß, gleichviel ob die Gewerkvereine viel oder wenig faktisch im offenen Kampf erreichen, sie für mich einen Eigenwert darstellen. Sie sind z.B. – und das ist für mich das Entscheidende – die einzigen, die innerhalb der sozialdemokratischen Partei, mit der wir für Generationen als gegeben zu rechnen haben, und die für lange hinaus allein die Erziehung der Massen in der Hand hat, sich nicht geduckt haben und die den Idealismus gegenüber dem Parteibanausentum aufrechterhalten. Die Gewerkschaften werden die Partei nicht sprengen, daran ist nicht zu denken, das ist eine lächerliche Illusion. Jeder,[398] der mit Arbeitern verkehrt hat, weiß, daß der tägliche Kleinkrieg mit dem preußischen Staat und seiner Polizei sie zwingt, die Partei hinter sich zu haben, daß die Partei erfunden werden müßte im Interesse der Gewerkschaften, wenn sie nicht da wäre. Aber sie werden hindern, daß diese Partei die Wege nimmt, die das amerikanische Parteileben genommen hat. Der einzige Hort idealistischer Arbeit und idealistischer Gesinnung innerhalb der sozialdemokratischen Partei sind und werden, unter unseren deutschen Verhältnissen, sein: die Gewerkschaften. Darum lehne ich jeden Vorschlag ab, der ihr Wesen bedroht, gleichviel ob er sich auf materielle Interessen der Arbeiter beruft.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitk. Hrsg. von Marianne Weber. Tübingen 21988, S. 394-399.
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