1. Kapitel
Folge Christus nach und lerne verschmähen, was vergänglich ist.

[9] 1. Wer mir nachfolgt, der wandelt nicht in der Finsternis, spricht der Herr (Joh. 8, 12). Dies sind Worte aus dem Munde Christi, die uns mahnen, seinem Leben und Verhalten treu nachzuleben, wenn wir von aller Blindheit des Herzens geheilt und von dem wahren Lichte erleuchtet werden wollen. Wir sollen also unsere höchste Aufgabe darin sehen, das Leben Jesu Christi zu erforschen.

2. Die Lehre Christi übertrifft alles, was die Heiligen gelehrt haben, und wer den Geist Christi hätte, der müßte ein verborgenes Himmelsbrot darin finden. Da geschieht es aber, daß viele das Evangelium oft hören und dabei fast ohne Hunger und Durst nach diesem Brote des Lebens bleiben, weil ihnen die Hauptsache, der Geist Christi, fehlt.

Wer die Lehre Christi in ihrer Fülle kennen lernen und schmecken will, der muß mit allem Ernste danach streben, daß sein ganzes Leben ein zweites Leben Jesu werde.

3. Was nützt es dir, über die Dreieinigkeit hochgelehrt streiten zu können, wenn du die Demut nicht hast, ohne die du der Dreieinigkeit mißfällst? Wahrhaftig, hochgelehrte und tiefsinnige Worte machen den Menschen nicht heilig und nicht gerecht: ein Leben voll Tugend dagegen macht uns Gott genehm. Es ist mir ungleich lieber, ein lebendiges Gefühl der Reue und Buße im Herzen zu haben, als eine schulgerechte[9] Erklärung geben zu können, was Reue und Buße sei. Hättest du die ganze Bibel und die Aussprüche aller Philosophen im Gedächtnis, hättest aber dabei die Liebe Gottes und seine Gnade nicht im Herzen: wozu hülfe dir all jenes, ohne dieses Einzige?

O Eitelkeit der Eitelkeiten! – alles ist Eitelkeit, außer Gott lieben und ihm allein dienen. Darin besteht die höchste Weisheit, daß durch Verachtung der Welt um das himmlische Reich gerungen wird.

4. Also ist es Eitelkeit, vergängliche Reichtümer zu sammeln und darauf seine Hoffnungen zu bauen. Also ist es Eitelkeit, nach hohen Ehrenstellen zu trachten und sich gerne obenan zu setzen. Also ist es Eitelkeit, sich den Lüsten des Fleisches zu überlassen und nach Freuden zu jagen, die uns einst schwere Strafen zuziehen werden. Also ist es Eitelkeit, nur immer wünschen, daß man lange lebt, und sich wenig darum bekümmern, daß man fromm lebt. Also ist es Eitelkeit, das Auge stets heften auf das gegenwärtige und nie hinausblicken auf das kommende Leben. Also ist es Eitelkeit, sein Herz an das hängen, was so schnell und unaufhaltsam vorübergeht, und nicht dorthin eilen, wo ewige Freude wohnt.

5. Gedenke doch immer wieder jenes Wortes: Das Auge kann sich nicht satt sehen, nicht satt hören das Ohr (Pred. 1, 8). Reiß also dein Herz von den sichtbaren Gütern los und erhebe es zu den unsichtbaren! Denn, die ihrer Sinnlichkeit blind folgen, beflecken ihr Gewissen und verlieren die Gnade Gottes.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 9-10.
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