Wild

[1542] Wild, -er, -este, adj. & adv. ein Wort, welches überhaupt der durch Cultur und Kunst veredelten und erhöheten Beschaffenheit entgegen gesetzet ist.

1. Der physischen Cultur entgegen gesetzt und ihrer beraubt, wo es in den meisten Fällen dem zahm entgegen gesetzt ist, und von Gegenständen aus allen drey Reichen der Natur gebraucht wird. Wilde[1542] Gewächse, Kräuter, Pflanzen und Bäume, welche im Freyen ohne vorzügliche Wartung wachsen, im Gegensatze der Garten- und Feldgewächse. Eine Pflanze wächset wild, wenn sie im Freyen ungebauet wächset. In einer engern Einschränkung sind wilde Baumstämme, Stämme von Gartenbäumen, welche noch nicht gepfropfet sind. S. Wildling. So auch von Thieren, im Gegensatze der zahmen und häuslichen Thiere. Wilde Thiere. Wildes Geflügel. Wilde Schweine, Pferde, Ochsen, Änten, Gänse, Tauben u.s.f. Selbst von Fischen gebraucht man dieses Wort, im Gegensatze der im Teichen gehegten Fische. Wilde Fische, Fische in Strömen, Bächen, Seen und Meeren. Die wilde Fischerey, die Fischerey auf solchen Wassern. Ingleichen von Gegenständen des leblosen Körperreiches. Ein wilder Ort, ein wilder Boden, ein ungebaueter. Ein wilder Wald, welcher der menschlichen Aufsicht, des menschlichen Besitzes beraubt ist. Wildes Wasser, welches nicht durch Kunst an einen Ort geleitet und geheget wird. Ein wildes Bad, gewöhnlicher, Wildbad, ein mineralisches, von der Natur selbst bereitetes Bad. Wilde Erde, die Erde unter der Dammerde, welche noch nicht gebauet worden, folglich auch noch keine Gewächse getragen hat. Ein wildes Gestein, ist im Bergbaue in engerer Bedeutung, ein Gestein, welches wegen seiner Härte nicht zu gewinnen ist; oft aber auch taubes Gestein, welches keine brauchbaren Mineralien enthält.

2. Der gesellschaftlichen Cultur beraubt und ihr entgegen gesetzt, im Gegensatz des gesittet. In diesem Verstande sind wilde Menschen, und substantive Wilde, Menschen, welche außer der engern gesellschaftlichen Verbindung leben, und daher der Kenntnisse, Fertigkeiten, Sitten des gesellschaftlichern Menschen ermangeln. Da diese engere gesellschaftliche Verbindung sehr vieler Grade fähig ist, so gibt es auch mancherley Arten von Wilden, und da es keine Menschen gibt und geben kann, welche aller gesellschaftlichen Verbindung beraubt seyn sollten, so gebraucht man das Wort nur von solchen Menschen, welche keinen stätigen Aufenthalt haben, und denen die Cultur des Bodens und der Thiere nicht das erste und vornehmste Erhaltungsmittel ist, daher ihre gesellschaftliche Verbindung auch nur schwach seyn kann. Die Menschen bestehen in Ansehung der Cultur aus drey großen Classen, aus Wilden, Barbaren und gesitteten Menschen. Der alte Deutsche war ursprünglich ein Wilder, in den spätern Zeiten ein roher Barbar. Der Wilde lebt, als der sorglose Pflegsohn der Natur, nicht von dem Eigenthume oder dem Werke seiner Hände, und unterscheidet sich dadurch von dem Barbaren.

3. Der moralischen Cultur beraubt und ihr entgegen gesetzt, auch unter gesitteten Menschen. Ein wilder Mensch, ein ungestümer und ungesitteter. Ein wildes und wüstes Leben führen. Wilde Blicke, ungesittete, bey der Winsbeckinn. Ein wildes Vergnügen, ein ungesittetes.


Ein Vater war, wie viele Väter,

Mit einem wilden Sohn geplagt,

Gell.


Eine wilde Unordnung. Ein wildes Geschrey.

Der wilden Peitsche Knall betäubt die Straße ganz,

Zach.


4. In einigen engern und besondern Bedeutungen. Wildes Fleisch in den Wunden, gefühlloses unächtes Fleisch, welches die Heilung hindert, und daher weggeschaft werden muß. Wildes Feuer, S. Hitzblatter.

Anm. Das Wort ist sehr alt, und die Wurzel selbst, ohne alle Ableitungssylbe, daher lautet es selbst im Schwed. und Engl. ungeändert wild. Aus eben dieser Ursache ist auch der eigentliche Wurzelbegriff schwer mehr aufzufinden. Alle mit bekannten Etymologen halten es mit Wald für ein und eben dasselbe Wort, indem sich zwischen wild und wald einige Verwandtschaft der Bedeutung[1543] findet. Es kann seyn, daß beyde von einer höhern dritten Bedeutung abstammen, aber unmittelbar ist wohl keines von dem andern abgeleitet, weil alsdann eines von beyden mit einer Ableitungssylbe versehen seyn müßte. Mir scheint der Begriff des Ungestümes in dem Worte wild der herrschende zu seyn. Bey den Schwäbischen Dichtern kommt es häufig für fremd vor. Swer fi siht dem ist truren wilde, dem ist das Trauern fremd, Burkhard von Hohenfels.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1542-1544.
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