Reichsstädte

[140] Reichsstädte, oder freie Reichsstädte, heißen diejenigen Städte Deutschlands, welche unmittelbar nur vom Kaiser und Reich abhängen, ihre besondere Regierungsform besitzen, und auf dem Reichstage Sitz und Stimme haben. Landeshoheit und Regalien kommen ihnen so gut als andern Ständen des Reichs zu, allein auf dem Reichstage bilden sie das dritte und letzte Collegium der Stände: wenn daher [140] das churfürstliche und fürstliche Collegium schon votirt haben, so theilen sie den Abgeordneten der Reichsstädte ihre Beschlüsse mit; und diese stimmen dann einzeln (vergl. d. Art. Reichstag). Diese Abgeordneten sitzen auf zwei Bänken, nehmlich auf der Schwäbischen, welche deren 37 begreift, und der Rheinischen, welche vor dem jetzigen Französischen Kriege 14 zählte, jetzt aber nur 10 enthält. – Der Ursprung der Reichsstädte fällt in das 13. 14. und 15. Jahrhundert. Schon im 10. Seculum fingen die Städte an zahlreicher und blühender zu werden; sie standen aber damahls unmittelbar unter dem Kaiser, der sie durch Vögte und Schultheißen regieren ließ: viele derselben wurden im 11. und 12. Jahrhundert den Herzogen, Grafen und andern Vasallen vom Kaiser zur Lehn gegeben, und mithin zu deren erblichen Eigenthum geschlagen. Als nun, besonders seit dem 13. Jahrhundert, die Vasallen durch die unaufhörliche Anarchie und Zerrüttung, welche in Deutschland waltete, und durch die Schwäche der kaiserlichen Macht begünstigt, die landesherrliche Gewalt an sich zogen, so unterwarfen sie sich zwar viele bisher kaiserliche Städte: aber auf der andern Seite legte dieses allgemeine Streben nach Landeshoheit auch den Grund zu dem Entstehen der Reichsstädte; denn jede Stadt suchte, wenn sie nicht einer mächtigern Gewalt unterlag, den Besitz der Reichs-Unmittelbarkeit und Landeshoheit zu erringen-Einige Städte befreiten sich von den kaiserlichen Vögten und Schultheißen eigenmächtig oder durch Geldsummen, wählten sich selbst Obrigkeiten aus ihren Bürgern, und sandten diese Statt ihrer bisherigen Stellvertreter, der Vögte, auf die Reichstage; Andere entzogen sich der Botmäßigkeit ihrer Landesherren durch das Recht der Waffen, machten sich entweder selbst zu unabhängigen Städten, oder wurden vom Kaiser zu diesem Range erhoben, und nahmen nun vermöge ihrer Unabhängigkeit an den Reichstagen Antheil. Ueberhaupt trugen theils die erweiterte Handlung und der steigende Flor der Städte, theils auch die bewaffneten Verbindungen vieler derselben, vorzüglich der Hansestädte, nicht wenig zu dem Ansehen und der Macht der Reichsstädte bei. Je mehr ein Theil von Deutschland in kleinere Staaten zerstückelt wurde, desto leichter konnten die Reichsstädte aufsprossen und gedeihen, wie vorzüglich das Beispiel von Schwaben lehrt. Je größer und furchtbarer aber sich die Macht [141] der Fürsten in einem Bezirke des Deutschen Reichs erhob, desto weniger wuchsen die Reichsstädte empör; daher enthält auch das ganze östliche Deutschland sehr wenig, und namentlich der Oestreichische, Burgundische, Churrheinsche und Obersächsische Kreis gar keine Reichsstädte. Die meisten derselben sind so frei und unabhängig als andere Reichsstände; nur einige haben dem Kaiser gewisse Steuern zu entrichten: und die Beschränktheit ihres Gebiets, welches sich selten über ihre Ringmauern hinaus erstreckt, setzt die kaiserliche Macht in den Stand, mit mehr Nachdruck auf sie zu wirken, als auf die übrigen Stände. Sie wählen ihre Obrigkeiten oder Stadträthe aus sich selbst: allein so verschieden ihr Ursprung war, eben so verschieden bildeten sich auch ihre Regierungsformen und Freiheiten; daher sind einige demokratisch, noch andere ein Gemisch aristokratischer und demokratischer Formen. Auch der innere Gehalt ihrer Constitutionen ist sehr ungleich; und viele bedürfen einer großen Reform, indeß die Bürger anderer äußerst beträchtliche und festgegründete Rechte genießen. Zuweilen sind ihre Obrigkeiten aus Bürgern und Patriciern, d. h. aus gewissen sehr alten großen Theils adlichen und in der Stadt ansäßigen Familien (s. Patricier) zusammengesetzt; und diese Mischung, so wie die schlechte Finanzverwaltung hat von jeher zu den lebhaftesten Streitigkeiten Anlaß gegeben, wie dieses noch in dem letzten Jahrzehend zu Nürnberg und Ulm der Fall war. – In zweiter und letzter Instanz stehen sie unter den höchsten Reichsgerichten. – Ihre Anzahl ist 51, von denen jedoch 4 in dem letzten Reichskriege der Französischen Republik einverleibt worden sind, namentlich Aacheu und Cölln, die zu dem Westphälischen, Worms und Speier, die zu dem Oberrheinschen Kreise gehörten. Von diesen 51 liegen 31 in Schwaben, 5 in Franken, 5 im Oberrheinschen Kreise, 3 in Westphalen, 6 in Niedersachsen und 1 in Bayern. – Die ansehnlichsten derselben sind, außer den 4 genannten jetzt Französischen Städten, Hamburg, Bremen und Lubeck (die drei noch übrigen Hansestädte). Frankfurt am Mayn, Nürnberg, Regensburg, Augsburg und Ulm.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 140-142.
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