Frömmigkeit

[269] Frömmigkeit. Tief in dem Herzen eines jeden Menschen regt sich eine heilige Sehnsucht, Gott, dem erhabenen unerschöpflichen Urquell alles Seins und alles Lebens, zu danken für die zahllosen Beweise der Liebe und Huld, welche er uns täglich zuströmen läßt. Aber wie mag, wie kann der schwache, nur an das Sichtbare gefesselte Mensch dem unsichtbaren Gotte, wie das ohnmächtige Geschöpf dem allmächtigen Schöpfer danken, der über Alles erhaben, unendlich vollkommen ist, und kein Bedürfniß hat? Den Menschen, welche uns Wohlthaten erwiesen haben, vermögen wir unsere Dankbarkeit an den Tag zu legen, indem wir sie lieben und ihnen das Leben erheitern. Aber wie können wir dem allerhöchsten Wohlthäter die freudige Dankbegier offenbaren, von welcher unser Herz erfüllt ist? – Doch auch dazu gibt's Gelegenheit. Geschrieben hat er in unser Herz seinen heiligen Willen Er hat uns eröffnet die Quellen der Erkenntniß des Wahren und Guten. Er hat uns anerschaffen das Bestreben: stets wohlgefällig zu wandeln vor ihm. Und eben nur dadurch können wir dem Höchstvollkommenen danken, daß wir uns bestreben, bei allen unsern Gedanken, Unternehmungen und Handlungen stets seinen heiligen Willen vor Augen zu haben und ihm nachzukommen Die Sprache bezeichnet dieses Bestreben mit dem Ausdrucke Frömmigkeit. Sucht man aber die Frömmigkeit in der pünktlichen Beobachtung äußerer Formen, so artet dieselbe leicht in Frömmelei aus, welche betet ohne Gefühl, bloß weil es die Tagesordnung so fordert, welche Gutes wirket, um zu glänzen, oder wohl gar: um dem Himmel auf Zinsen zu leihen Nicht also ist's mit der Frömmigkeit. Sie ist rein, sie ist kräftig, sie ist wahr Wie die Rose ihr[269] duftiges Haus eröffnet und still ihr Opfer nach der Höhe sendet, während die Wurzel des Stammes in der Erde ruht und die Zweige desselben nach dem Himmel streben: so auch die Frömmigkeit. Das Herz ist ihr Boden, das gute Werk ihr Opfer, der Himmel ihre Vorrathskammer. Da hinauf legt sie Alles, wodurch sie zuvor die Erde erfreuete. Da hinauf erhebt sie sich selbst. Sie glaubt, sie liebt, sie hofft sich hinauf, sie betet, sie weint, sie tröstet sich hinaus. Wer sie hat, der hat Viel, – Viel für das Leben, Viel für den Tod, Viel für die Zukunft über dem Grabe.

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Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 4. [o.O.] 1835, S. 269-270.
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