Naturdichter

[371] Naturdichter. Im Grunde ist jeder wahrhafte Dichter Naturdichter, denn das Talent ist ihm angeboren, die Natur hat ihm die Weihe ertheilt, die Theorie regelt und veredelt es erst. Alle Urpoesie war deßhalb auch Naturpoesie; aus dem Vorhandenen abstrahirte man erst später Gesetze für das Zukünftige; was das anfängliche Genie hingestellt, galt als Norm und Regel für das posteriorische. Dichter werden nur geboren, sagt ein alter Spruch; was Fleiß, Ausdauer, Speculation auf dem poetischen Grunde erzeugen, ist mehr oder weniger Treibhauspflanze; man kann die Form gewältigen durch festen Willen; aber nicht den Genius dahin beschwören, wo er nicht heimisch ist. Wir nennen jetzt Naturdichter diejenigen, welche eine natürliche Anlage zur Poesie besitzen, aber der künstlerischen Ausbildung derselben, der Kenntniß[371] der Regeln der Poetik ermangeln. Von einem Kunstwerthe dieser Art Produkte kann folglich nach dem Gesagten nicht die Rede sein. Sie besitzen Phantasie, einen natürlichen Instinkt für den Rythmus, musikalischen Takt; aber es fehlt der Geist, der die wahrhaft poetischen Gestaltungen durchweht, der Geschmack, die höhere Bedeutung und die künstlerische Beziehung. Die Karschin (s. d.) war ursprünglich Naturdichterin; der Strohflechter Hiller machte eine Zeit lang als solcher Aufsehen, wurde selbst von bedeutenden Leuten überschätzt und erhielt durch Acclamation den Rang als Naturdichter. Jetzt ist er sammt seinen Poesien vergessen.

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Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 7. [o.O.] 1836, S. 371-372.
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