Evidenz

[318] Evidenz (evidentia): Augenscheinlichkeit, Einsicht, intuitiv fundierte Gewißheit, unmittelbare Gewißheit des anschaulich Eingesehenen oder des notwendig zu Denkenden.

EPIKUR setzt alle Evidenz enargeia in die Sinneswahrnehmung (Diog. L. X, 52), die als solche immer wahr sei (l. e. 32; Sext. Empir. adv. Math. VII, 203, VIII, 63 squ.). DESCARTES verlegt die Evidenz in die »Klarheit und Deutlichkeit« (6. d.) des Denkens. Auch MALEBRANCHE erklärt: »Evidence ne consiste que dans la rue claire et distincte de toutes les parties et de tous les rapports de l'objet, qui sont nécessaires pour porter un jugement assuré« (Rech. I, 2). LEIBNIZ erklärt die Evidenz als lichtvolle Gewißheit, die aus der Verbindung von Vorstellungen resultiert (Nouv. Ess. IV, ch. 11, § 10). Nach LOCKE beruht alle Evidenz auf der Anschauung: »It is in this intuition that depends all the certainly and evidence of all our knowledge« (Ess. IV, ch. 2, § 1). COLLIER (Clav. univ. p. 12) und die schottische Schule sprechen von apriorischen (6. d.) »self-evident truths«, von in sich evidenten Wahrheiten. Nach REID ist Evidenz alles, was einen Grund des Glaubens bildet (Ess. on the int. pow. of man I, p. 323). D'ALEMBERT bemerkt: »L'évidence appartient proprement aux idées dont l'esprit aperçoit la liaison tout d'un coup« (Disc. prél. p. 51). J. EBERT: »Man pflegt diejenige Deutlichkeit eines Satzes, die hinlänglich ist, die Wahrheit desselben einzusehen, Evidenz zu nennen« (Vernunftl. S. 127J. Bei KANT führt die Evidenz auf ein Apriori (s. d.) des Erkennens zurück. Vgl. MENDELSSOHN, Üb. d. Evidenz in metaph. Wiss., Ges. Schrift. II.

Von einem »Evidenz.- oder Überzeugungsgefühl« spricht SCHLEIERMACHER (Dial., zu § 88). A. LANGE beschränkt die unmittelbare Evidenz auf die Raumanschauung (Log. Stud. S. 9 f.). ULRICI versteht unter Evidenz »die objective Denknotwendigkeit« (Log. S. 32). Nach SIGWART bekundet sich im Bewußtsein der Evidenz »die Fähigkeit, objectiv notwendiges Denken von nicht notwendigem zu unterscheiden« (Log. I2, 94). WUNDT betont, daß »nie den einzelnen Bestandteilen[318] des Denkens, den Begriffen, für sich Evidenz zukommt, sondern daß die letztere immer erst aus der Verknüpfung der Begriffe hervorgehen kann« (Log. I, 74). »Die unmittelbare Evidenz unseres Denkens hat... ihre Quelle stets in der unmittelbaren Anschauung« (l.c. S. 75). Doch ruht die Evidenz, d.h. die logische Gewißheit, auf der Sicherheit der Denkergebnisse. Das Denken muß »zwischen den Gliedern der Vorstellung hin und her gehen und sie messend miteinander vergleichen, damit aus der Anschauung die Evidenz hervorgehe«. »So ist überhaupt die Anschauung nur die Gelegenheitsursache der unmittelbaren Evidenz, der eigentliche Grund derselben liegt aber in dem verknüpfenden und vergleichenden Denken« (l.c. S. 77). Während sich die unmittelbare Evidenz auf das ursprüngliche Denkmaterial bezieht, geht die mittelbare auf den bereits verarbeiteten Stoff (ib.). SCHUPPE setzt Evidenz und. Anschaulichkeit einander gleich (Log. S. 89). BRENTANO nimmt (wie schon HERBART, ALLIHN, Gr. d. allg. Eth. S. 38, U. a.) eine Evidenz der sittlichen (s. d.) Urteile an (Intuitionismus, (s. d.)). Nach HUSSERL ist überall da von Evidenzen im laxen Sinne die Rede, »wo immer eine setzende Intention (zumal eine behauptende) ihre Bestätigung durch eine correspondierende und voll angepaßte Wahrnehmung, sei es auch eine passende Synthesis zusammenhängender Einzelwahrnehmungen, findet« (Log. Unt. II, 593). Im engeren Sinne ist Evidenz der Act der vollkommensten »Erfüllungssynthesis« zur Intention (s. d.) (ib.). Ihr objectives Correlat ißt das Sein im Sinne der Wahrheit (ib.). Vgl. Gewißheit.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 318-319.
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