Richard von St. Victor

[597] Richard von St. Victor, ein Schotte, Schüler und Nachfolger des Hugo von St. Victor (s. d.), Prior und Lehrer im Kloster St. Victor in Paris, gest. 1173.

R. ist wie Hugo von St. Victor ein Vertreter der orthodoxen Mystik. Drei Arten der Erkenntnis unterscheidet er: Denken bzw. Vorstellen (cogitatio), Nachdenken (meditatio) bzw. begriffliches Verstandesdenken, Kontemplation (contemplatio), d.h. geistige Schauung durch den Intellekt, der das Übersinnliche unmittelbar und einheitlich erfaßt (»Contemplationem dicimus, quando veritatem sine aliquo involucro umbrarum vel animi in sua puritate videmus«). Es gibt sechs Stufen der Kontemplation: Die erste beruht auf der bildlichen Einbildungskraft (imaginatio), vermöge der wir die göttliche Kraft und Güte bewundern; die zweite wendet sich dem Grunde und Zweck der Welt zu; die dritte erhebt sich schon zum Himmlischen, aber noch vermittelst der Einbildungskraft; auf der vierten Stufe erfaßt die Vernunft rein durch sich selbst das Übersinnliche und Göttliche; die fünfte Stufe übersteigt schon die Vernunft, und auf der sechsten, welche außer der Vernunft (»supra rationem et praeter rationem«) liegt, erfaßt der Geist die göttlichen Mysterien. Es tritt dann der Zustand der mystischen Ekstase und Erleuchtung ein, in welchem der Geist, sich selbst entfremdend (»alienatio mentis«), eins mit dem Gegenstand des Schauens wird.

SCHRIFTEN: De trinitate. De exterminatione et promotione boni. De statu interioris hominis. De quatuor gradibus violentae charitatis. De eruditione hominis interioris. De praeparatione animi ad contemplationem (= De arca mystica). De gratia contemplationis. Opera, 1506, 1518, Migne, Patrolog. Bd. 194. – Vgl. ENGELHARDT, R. von St. V. u. J. Ruysbroek, 1838. – KAULICH, Die Lehren des Hugo und Richard von St. V., 1864.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 597.
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