Taine, Hippolyte

[736] Taine, Hippolyte, geb. 21. April 1828 in Vouziers, Prof. an der Ecole des Beaux-Arts, gest. 5. März 1893 in Paris.

T. ist der bedeutendste französische Positivist nach Comte, von dem, wie von J. St. Mill (aber auch von der Stoa, von Spinoza, Herder, Hegel u.a.) er beeinflußt ist. Er ist Empirist, gibt aber die Möglichkeit einer (hypothetischen) Metaphysik zu, ja huldigt selbst im Grunde einem gewissen Pantheismus. In seiner Erkenntnislehre, die einen Teil der Psychologie bildet, betont er die strenge Gesetzlichkeit des Geschehens, die Determiniertheit aller physischen und psychischen Vorgänge. Alle Erkenntnis stammt aus der Erfahrung, durch welche auch die (einen analytischen Charakter habenden) [736] Axiome begründet sind. In der Wirklichkeit existieren nur Einzeldinge und deren Beziehungen; das Abstrakte ist nichts als ein Namen für gleichartige Vorstellungen (Bilder). Namen sind Zeichen für Bilder, diese sind Zeichen für Empfindungen. Im Sinne der »atomistischen« Psychologie faßt T. die lezteren als Komplexe, Verschmelzungen elementarer Eindrücke auf, denen kleinste Nervenbewegungen zugeordnet sind; Physisches und Psychisches sind zwei Auffassungsweisen eines Identischen. Die Wahrnehmung (Perzeption) ist eine Art der »Illusionen«, nämlich eine normale, wahre »Halluzination«. Die Objekte der Sinneswahrnehmung, die Dinge, sind Gruppen konstanter Merkmale (»un groupe de propriétés comme permanentes et stabiles«), Komplexe von Wahrnehmungsinhalten (vgl. Mill), oder, genauer, Gruppen von bewegbaren Bewegern (»mobiles moteurs«), von Bewegungstendenzen. Das Ich ist ebenfalls nur ein Zusammenhang von Erlebnissen, eine stetige Reihe von solchen, bzw. von konstanten Möglichkeiten solcher, deren Band Assoziation und Gedächtnis bilden. Der Wille ist eine von außen und innen determinierte Tendenz.

Das gesamte Geistesleben ist gesetzmäßig, so auch die Geschichte, deren konstante Faktoren (»forces primordiales«) Rasse, Milieu und Moment sind, von welchen die Individuen, auch die Genies, abhängig sind. Besonderes Gewicht legt T. (wie schon Bodin, Montesquieu, Herder u.a.) auf das Milieu, die physische, geistige und soziale Umwelt mit ihren Einflüssen. Rasse, Milieu, Moment bedingen im Schaffenden, besonders im Künstler, die »faculté maitresse«, von der seine Schöpfungen ihren Charakter haben (»L'uvre d'art est déterminée par un ensemble qui est l'état général de l'esprit et des murs environnantes«). Der Zweck des Kunstwerkes ist, einen wesentlichen Charakter, eine Idee deutlicher und vollständiger zum Ausdruck zu bringen, als es die wirklichen Dinge tun.

Schriften: De personis Platonicis, 1853. – Les philosophes français du XIXe siècle, 1856; 7. éd. 1895. – Essais de critique et d'histoire, 1857. – Histoire de la littérature anglaise, 1864; 10. éd. 1901. – Les origines de la France contemporaine, 1876-93; 24. éd. 1902; deutsch von L. Katscher. – Le positivisme anglais, 1864. – Philosophie de l'art, 1865; 10. éd. 1905; deutsch, 2. A. 1885; von E. Hardt, 1902 f. – De l'idéal dans l'art, 1867. – De l'intelligence, 1870; 7. éd. 1885; deutsch 1880. – Notes posthumes, Rev. philos. 1895. – Vie et correspondance, 1902-05. – Vgl. BARZELOTTI, H. T., 1895; französisch 1900. – V. GIRAUD, Essai sur T., 2. éd. 1903; Bibliographie crit. de T., 1904. – L. EGGER, T. u. die moderne Soziologie I, 1905. – ZEITLER, Die Kunstphilos. A. T.s, 1901. – G. MENDELSSOHN-BARTHOLDY, H. T., Sein Leben in Briefen, 1911.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 736-737.
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