5. Allgemeines über die Lyrik. – Die äolische Lyrik

[170] Ehe wir zu den höhern Formen der Lyrik übergehen, wollen wir hier die Frage zu beantworten suchen, warum Poesie, Musik und Tanz der Griechen ein unumgänglicher Teil ihrer Kulturgeschichte sind. Für uns ergibt sich folgendes:

Von Anfang an an Vorbild und Geschenk der Götter geknüpft, sind sie ein selbstverständlicher Besitz der Nation oder allermindestens einer ganzen Polis und nicht bloß einer Schicht von Gebildeten; sie sind öffentlich. Und zwar sind sie zunächst ein Teil des Götterdienstes; daneben aber hat man die Aöden und die Vollendung ihres Könnens in Homer, und auch der Didaktiker und der erzählende Hymnensänger sind möglich und ersehnt. Nirgends mehr ist die Poesie so sehr ein Volksbedürfnis gewesen wie hier.

Vom Aöden geht ihr Betrieb auf den Rhapsoden über; aber auch jetzt dauert die äußerste Bemühung der Nation fort, ihren ganzen Mythus und besonders Homer in der Tradition festzuhalten, und auch später, als alles Hexametrische künstlich und gelehrt fortgesetzte und nachgebildete Literaturgattung geworden ist, dauert gewiß so viel als möglich noch das öffentliche Rezitieren; man wünschte noch immer, daß die Poesie öffentliche, wenn auch nicht Volkssache sei, und darum verfaßten die spätern Gelehrten populäre Darstellungen in Hexametern.

Wir haben uns ferner an den langen und ernsten Zusammenhang der Dichtung mit der Musik zu erinnern. So lange als möglich war auch hier alle Mitteilung und Tradition eine mündliche. Die Massenhaftigkeit aber des öffentlichen Consumos bei Götterfesten und andern festlichen Gelegenheiten (neben den noch immer rezitierenden Rhapsoden) ist eine enorme; und auch wo nicht die Öffentlichkeit, sondern die Geselligkeit das Medium ist, bildet sich dennoch ein populärer Ruhm: Elegiendichter werden weit und dauernd bekannt.

Auch das Epigramm entsteht zum Teil aus dem eingemeißelten, also völlig öffentlichen Spruch, und zahllose spätere Epigramme wünschen wenigstens, daß man glaube, sie seien so entstanden.

Ganz besonders bezeichnend ist dann, daß der Iambus für eine große Publizität dasein will, als worin seine Gefährlichkeit liegt; es lautet, als hätte ganz Griechenland davon Notiz genommen.

Und als nun die Lyrik ihrer höchsten Ausbildung entgegenging, muß selbst für das subjektive äolische Lied ein Wille der Öffentlichkeit angenommen werden.


Das Entstehen einer reicher bewegten, vielgestalti geren Lyrik ist als kulturgeschichtliches Faktum vom VII. Jahrhundert an zu verfolgen.[170] Schon vom alten Volksgesang wird sie wohl die strophische Form übernommen haben; dieser wird, indem er seine Melodie einige Male wiederholte, frühe auf strophenähnliche Gebilde verfallen sein. Nun aber treffen wir von Anfang an auf zwei Hauptrichtungen: die dorische Lyrik des Chorgesanges und die äolische individuelle Lyrik. Jene wird zuerst bei den Dorern im Peloponnes und in Sizilien höher ausgebildet, um sich dann über ganz Griechenland zu verbreiten. Ihre Sprache ist ein gemäßigter Dorismus oder vielmehr der epische Dialekt mit dorischer Zutat; sie wird von Chören gesungen, die sich rhythmisch bewegen, und es herrscht ein umfassender künstlicher Strophenbau, der – was der bloße Leser jetzt nicht mehr inne wird – durch die Bewegungen des Chores insofern auch dem Auge verdeutlicht wird, als dieser während der Strophe vorwärts geht, während der Antistrophe diese Bewegung zurückmacht und während der Epode stillesteht. Der rhythmische Bau ist äußerst vielartig; der Inhalt feierlich und meist öffentlich; Götterfeste, Feierung berühmter Bürger und Agonalsieger, Hochzeiten und Bestattungen verlangten Chöre, deren Inhalt nicht das Individuelle, sondern das von vielen Mitzuempfindende, Offizielle war. Die äolische Lyrik dagegen blühte in Kleinasien und besonders auf Lesbos; sie bediente sich des äolischen Dialekts, zu dessen Milderung und Veredlung der epische Dialekt herbeigezogen werden konnte; sie wurde ferner durch einzelne vorgetragen, die sich mit der Lyra oder sonst einem Saiteninstrument und mit den angemessenen Bewegungen begleiteten, und setzte sich entweder aus gleichen Versen oder aus kurzen, überaus schön lautenden Strophen, etwa von drei gleichen und einem ungleichen Verse, zusammen, die wie die alkäische, sapphische usw. gleichmäßig und ohne Epode aneinander gereiht wurden. Während hier der rhythmische Bau sehr gleichartig ist, ist der Inhalt in Vorstellungen und Gefühlen die Seelensache des einzelnen, individuell im höchsten Sinne, auch wo er den Staat betrifft353. Übrigens war wahrscheinlich auf beiden Ufern des Archipels beides vertreten, wie denn Arion, der Meister des chorischen Dithyrambus, ein Lesbier war; nur verteilte sich der Akzent in genannter Weise, und die dorische Lyrik hatte, zum Teil als Staatssache behandelt, viel stärkere Mittel, notorisch zu werden, während die äolische, den ewigen Seiten des menschlichen Gemüts entsprechend, eher die Mittel hatte, notorisch und verständlich zu bleiben.


Die äolische Lyrik hebt für uns mit Alkäos von Mitylene (um 600 v. Chr.) an, von dem wir gerne wüßten, ob er der eigentliche Schöpfer der Odenform sei. Das Altertum kannte von ihm Lieder des Parteikampfes und Ermunterungen zu Krieg, Wein und Liebe354, auch Hymnen,[171] welche, soweit unsere hypothetische Rekonstruktion uns lehrt, stark episch gewesen zu sein scheinen. Seine Fragmente zeigen Verse und Strophen verschiedenen metrischen Charakters; er erscheint hier als ein Dichter von seltener Kraft und gewaltigem Feuer; denken wir an nur das schöne Fragment (15), wo er sein Haus als Arsenal schildert, oder an dasjenige (20), das zum Freudentrunk nach dem Tode des Tyrannen auffordert und dem Horaz das nunc est bibendum nachgedichtet hat. Seine Rechtfertigung wird dieser Dichter immer in seinem leidenschaftlich bewegten Gemüt haben; er besitzt daran das Echte, das der lyrische Dichter haben muß.

Seine Zeitgenossin ist Sappho, die er mit dem Worte anredet: »Dunkellockige, reine, süßlächelnde Sappho, ich möchte ein Wort sprechen und darf es nicht.« Daß die spätern Athener sie für eine Buhlerin hielten, kommt daher, daß ihre Naivität und die freiere äolische Frauenlebensweise (wie auch die der Dorerinnen) nicht mehr verstanden wurden355. Den Jüngling, den sie liebte und besang, hat sie nie genannt; Phaon ist eine lesbische Märchenfigur, und ebenso ist der Sprung vom leukadischen Fels eine späte Fiktion; dagegen gibt Suidas die Notiz, daß sie mit einem reichen Andrier vermählt gewesen sei und eine Tochter gehabt habe. Sie war eine gelehrte Künstlerin so gut als ihre Rivalinnen Gorgo und Andromeda, wohl auch Lehrerin ihrer jüngern Freundinnen, an die sie einige von ihren Liedern gerichtet hat; denn »musische Bildung und Grazie des Benehmens galten in diesen Verhältnissen als das Höchste«356. Wenn auf einem schönen Relief zwei Frauen dargestellt sind, welche ein Musikinstrument halten, ohne darauf zu spielen, und einander dabei gegenseitig umschlingen, so mögen wir darin ein Bild für derartige Beziehungen zwischen musisch begabten Frauen sehen. Von dem wenigen, das in einiger Vollständigkeit von ihr vorhanden ist, ist das herrliche Lied an Aphrodite das Besterhaltene; das Altertum aber hatte von ihr neun Bücher lyrischer Lieder und außerdem noch Epigramme und Elegien; eine Nachbildung ihrer teilweise in Hexametern gehaltenen Hymenäen ist Catulls Vesper adest. Als Schülerin von ihr galt eine berühmte, jung verstorbene Freundin, Erinna, deren Gedicht, die »Spindel«, dreihundert Hexameter umfaßte357.

[172] Ungefähr von 540 bis 520 v. Chr. blühte Anakreon, ein Ionier aus Teos. O. Müller urteilt358, »der Geist des ionischen Stammes sei in ihm alles tiefern Ernstes entblößt und betrachte das Leben nur als wertvoll, insofern es durch Geselligkeit, Liebe, Musik und Wein verschönert werde, der Dichter zeige nicht die tiefe äolische Glut, sondern es komme ihm auf den Genuß des Momentes an.« Moralisch braucht man ihn auch nicht zu billigen, sondern kann zugeben, daß er bisweilen frivol und frevelhaft ist; was er aber für sich hat, das ist der starke individuelle und momentane Ton. Er und Ibykos lebten am Hofe des Polykrates, nach dessen Sturze ihn Hipparch nach Athen holen ließ; auch bei andern Herren mag er noch weiter gelebt haben. Seine (echte) Dichtung ist stark mit Bezügen auf Polykrates und dessen geliebte Knaben angefüllt, mit denen er jung zu sein wünscht. Ferner hat er Gedichte auf Hetären; auch ein Hohngedicht findet sich bei ihm, auf den von der Eurypyle ihm vorgezogenen Artemon. Die Sprache ist der des täglichen Lebens näher, der Rhythmus loser und freier, die Strophen willkürlicher; von ihm ist der kurze anakreonteische Vers, der dann in den nachgemachten Liedern vorherrscht359.

Daß nach Anakreon das individuelle griechische Lied verstummt sei, kommt uns nicht recht glaublich vor, da die Seele solches jederzeit hervorzubringen pflegt. Vielleicht wurde dergleichen viel, lange und überall geschaffen, gelangte aber neben den anerkannten Namen zu keinem Ruhm mehr oder ging auch wohl, wie zu befürchten, unter, weil sich keine Scholiastengelehrsamkeit daran knüpfen ließ. Unser größter Verlust ist, daß wir schon von den berühmtesten individuellen Lyrikern so wenig mehr besitzen; aber hätten wir nur wenigstens die spätern und sekundären noch, von welchen jeder Name und jede Erwähnung fehlt!

Zur individuellen Lyrik gehört endlich diejenige bestimmte Gattung von Trinkliedern, die von einer musikalischen Freiheit, welche man sich dabei erlaubte, Skolion, d.h. das Krumme, Verbogene hieß361. Man war beim Symposion mit Toasten noch nicht heimgesucht; dafür gab man die Lyra oder einen Myrtenzweig an der Tafel herum und reichte sie denjenigen einzelnen, von welchen ein gutes Lied oder ein Spruch zu erwarten war; wir haben es also mit dem Rundgesang als eigener poetischer Gattung zu tun. Es sind meistens kurze Strophen, deren Rhythmen sehr verschieden, wesentlich aber die äolischen sind. Oft mochten sie von den Teilnehmern des Symposions gedichtet sein, aber auch die größten, zumal[173] äolischen Dichter waren gerade für bekannte Skolien namhaft, von Terpander an, der (laut Pindar) diese Gattung sogar erfand362. Den Inhalt bildeten meist heiter ausgedrückte Lebensregeln, wie in den von Diogenes Laertius überlieferten, angeblich von den sieben Weisen herrührenden Skolien, ferner kurze Anrufungen der Götter und das Lob der Heroen, aber auch sonst, was noch irgend zum Symposion paßte: patriotische Wünsche, verliebte Anrufe, Witze und sichtliche Hiebe, Aufforderung zum Trinken usw. Beim athenischen Symposion war konstanter Brauch irgendein Lied auf die Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton (wenn auch, wie das erhaltene des Kallistratos, auf irriger historischer Grundlage)363; das Skolion aller Skolien aber ist das schöne »Trinke mit mir und sei jung mit mir und liebe mit mir und trage mit mir den Kranz! Sei töricht mit mir und sei wieder weise, wenn ich weise bin«364! Wir sehen hier in eine Fülle von Anmut hinein und können froh sein, daß uns eine Andeutung davon erhalten ist, wie ja auch die paar allerliebsten Reste von griechischer Volkspoesie, die sich erhalten haben365, uns ahnen lassen, welcher Reichtum an Allerschönstem auf alle Zeiten verhallt sein mag.[174]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. CLXX170-CLXXV175.
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