[346] Ich habe dieses Kapitel unverändert gelassen, obgleich in einem Punkt meine Auffassung erschüttert worden ist. Die allgemeine Ansicht war bisher, daß die Polybianische Darstellung in ihren Hauptzügen direkt auf eine Quelle ersten Ranges aus dem karthagischen Lager zurückgehe, und als diese Quelle galt der Grieche Silen, von dem wir wissen, daß er in Hannibals Umgebung war. Nun hat H. DESSAU »Über die Quellen unseres Wissens vom zweiten punischen Kriege« (Hermes, Bd. 51, 3. Heft 1916) dargelegt, daß diese Vorstellung auf sehr schwachen Füßen steht. In zwei Beziehungen schießt Dessau m. E. über das Ziel hinaus. Er setzt die aus dem karthagischen Lager stammende Quelle immer gleich einer tendenziös-karthagischen, was doch nicht notwendig ist, und will überhaupt nicht glauben, daß Hannibal von Anfang an griechische Literaten um sich gehabt habe; solche Verbindungen werde er erst angeknüpft haben, als er Herr einer Anzahl griechischer Städte in Unteritalien geworden war. Das ist doch wohl sicherlich unrichtig. Das Griechische ist damals die allgemeine Welt- Vermittlungs- und Bildungssprache. Selbst der römische Senator Fabius schrieb sein Geschichtswerk in griechischer Sprache. Wir müßten uns Hannibal als einen ganz ungebildeten Menschen vorstellen, wenn er nicht perfekt griechisch gesprochen und gelesen hätte, und dazu mußte er auch im Lager gebildete Griechen um sich haben. Ich kann mir nicht denken, daß er nicht die toten Alexanders studiert hat, dazu hatte er griechische Lehrer und Vorleser nötig; und er hatte die Griechen auch nötig für diplomatische Verhandlungen und Kundschaftsdienst. Er wird also auch wohl von Anfang Literaten in seinem Gefolge gehabt haben wie Alexander, die seine Taten erzählen sollten. Aber ich will nicht in Dessaus Fehler verfallen, Dinge als beweisbar anzusehen, über die wir bei dem Zustand des Materials höchstens Vermutungen aufstellen können, sehe es deshalb auch nicht als bewiesen, auf jeden Fall aber als möglich an, daß wirklich, wie Dessau meint, die überaus wertvollen Schilderungen und Angaben bei Polybius, die wir bisher als silenisch angesehen haben, aus Fabius Pictor stammen. Sie wären dann also nur mittelbar karthagisch. Fabius hätte sie von karthagischen Gefangenen oder Überläufern bezogen. Im Besonderen weist Dessau darauf hin, daß im Jahre 210 der Kommandant einer numidischen Truppe Muttines, zu den Römern übertrat, in Rom eine sehr angesehene Stellung gewann und noch im Jahre 190 unter den Scipionen an dem Feldzug gegen Antiochus teilnahm. Dieser punische General könnte jene eminente militärische Quelle aus dem karthagischen Lager gewesen sein, die wir in der polybianischen Darstellung bemerken und bewundern.
Wenn diese Vermutung zutreffend sein sollte, so sind damit gerade in bezug auf die Schlacht bei Cannä einige Schwierigkeiten auf die allereinfachste Weise gelöst. Polybius schildert uns die Hufeisen-Stellung der punischen Infanterie als »mondförmig« und faßt diesen Halbmond als Krümmung (κύρτωμα) auf. Daß das eine taktische Unmöglichkeit ist, darüber[347] ist jetzt die Forschung einig. Unmöglich kann ein so dilettantisches Mißverständnis von Polybius selber stammen; er muß es aus seiner Quelle übernommen haben. Es muß also zwischen der militärischen Urquelle und Polybius ein Mittelglied gewesen sein, dem ein solches Mißverständnis zuzutrauen ist. Das würde sehr gut darauf passen, daß wir die Erzählung eines hochbedeutenden numidischen Generals in der Wiedergabe des ganz unmilitärischen Senators Fabius vor uns haben. Bei Silen, der sich im Stabe Hannibals selbst befand, ist das Mißverständnis gewiß auch nicht ausgeschlossen, aber doch viel weniger wahrscheinlich.
Weiter ist in der polybianischen Schlacht-Schilderung auffällig, daß die Einwirkung des Rückenangriffs der Kavallerie so sehr zurücktritt gegen die Flanken-Umfassung durch die Infanterie, und damit im Zusammenhang die zu starke Akzentuierung des Zusammendrängens der römischen Infanterie nach der Mitte. Ich habe diese Verschiebung oben psychologisch aus dem Gesichtspunkt des Hauptquartiers zu erklären gesucht. Wenigstens ebenso gut und wohl noch besser wäre aber die Erklärung, daß die Erzählung aus Fabius stammt und dieser sie von einem der Führer der afrikanischen Infanterie, eben jenem Muttines gehabt hat, der militärisch intelligent genug war, um in seinem Räsonnement die Bedeutung des Kavallerie-Angriffs richtig zu charakterisieren, in seiner Erzählung aber doch die Taten seiner eigenen Truppe so sehr herausstrich, daß dadurch ein gewisser Widerspruch entstanden ist.
Eine starke Stütze empfänge Dessaus Untersuchung dadurch, daß schon vor ihm Beloch in einer Untersuchung über die Schlacht an der Trebia nachgewiesen hat (Hist. Zeitsch. Bd. 114,1915), daß der polybianische Bericht nicht aus Silen, sondern aus Fabius stammt. Alle die vielen Unklarheiten beim Alpen-Übergang, der Schlacht an der Trebia, dem Übergang über den Apennin, der Schlacht am Trasimenus, die den modernen Forschern so viel Kopfzerbrechen kosten, würde also dadurch zu erklären sein, daß Polybius nicht den Bericht eines Mannes aus dem Hannibalischen Stabe, sondern nur die durch das Medium des Fabius gegangene Erzählung eines punischen Generals zur Verfügung gehabt hat.
Daß Polybius in viel höherem Grade als man gemeiniglich annimmt, von seinen Quellen abhängig war, stellt auch Dessau von Neuem fest. KROMAYER schwankt in seiner Einschätzung der Autorität des Polybius von einem Extrem zum anderen. Während er anfänglich als sein Verteidiger auftrat, dann im zweiten Bande der »Schlachtfelder« weder seine militärischen Räsonnements noch seine tatsächlichen Angaben gelten lassen wollte (vgl. unten »Kriegerisches zur Schlacht bei Magnesia«), hat er seine Darstellung der Schlacht bei Cannä wieder in das Gewand des Festhaltens an Polybius gegenüber meiner Kritik gehüllt, und KAHRSTEDT (S. 434) erklärt, daß jemand es übernehme, »die klaren Worte des größten antiken Militärschriftstellers bis auf Cäsar zu verwerfen und zu korrigieren, geht über meine Fassungskraft«. Das mag man gelten lassen. Was aber die[348] Kontroverse zwischen KROMAYER und mir in bezug auf Cannä betrifft, so handelt es sich zunächst nicht um die Annahme oder Verwerfung des Polybius, sondern darum, wie die von ihm berichtete und von uns allen, Kromayer ebenso wie mir, verworfene gekrümmte Front der Punier rationell zu korrigieren ist. Ich habe den »Halbmond« umgedeutet in das, was wir heute »Hufeisenform« nennen; Kromayer faßt ihn als eine treppenförmige Aufstellung, die taktisch ganz ebenso unmöglich ist wie eine gekrümmte Linie. Die zweite Differenz betrifft das Zusammendrängen der Römer, in dem ich zwar einen wirklichen Vorgang, aber eine starke, oben erklärte, Übertreibung sehe. Die Römer haben nach meiner Auffassung die Schlacht von vornherein auf einen tiefen Massendruck angelegt, wie sie das bei ihrer numerisch sehr überlegenen, aber taktisch wenig geschulten Infanterie gar nicht anders konnten. Kromayer gibt ihnen eine ganz lockere Front, die erst beim Vorrücken (man muß annehmen, von einer Art Massen-Wahnsinn ergriffen) die überlieferte römische Fechtweise aufgebend sich nach der Mitte zusammenballte; wohl gemerkt, sie soll nicht etwa von den punischen Umfassungs- Kolonnen zusammengepreßt worden sein, sondern sie sollen freiwillig im Vormarsch die Front so sehr verkürzt haben, daß die Punier ihnen in die Flanken kommen konnten. So widersinnig das Bild in sich schon ist, so wird es vollends dadurch aufgelöst, daß bei den gemachten Voraussetzungen die römischen Flügelrotten nicht weniger als 700 Meter hätten seitwärts chassieren müssen; da die gleichzeitige Vorwärtsbewegung nur ganz kurz sein kann, so handelt es sich wirklich im wesentlichen um ein Seitwärtstreten, und man stelle sich vor, was 700 Meter Seitwärtstreten größerer Massen innerhalb einiger Minuten bedeutet.
Ich habe der Widerlegung dieser Tanz-Taktik, da sie sich scheinbar auf gute Quellen-Zeugnisse stützte, sich jedenfalls auf sie berief, eine eigene Untersuchung »Die Schacht bei Cannä« in der Hist. Zeitsch., Bd. 109, S. 481, gewidmet. In dem 1912 erschienenen Büchlein »Roms Kampf um die Weltherrschaft« hat sich übrigens Kromayer meiner Rekonstruktion der Schlacht sehr genähert, insofern auch er jetzt sehr betont, daß die Römer von Anfang an »möglichst eng« zusammengehalten hätten. Das spätere noch weitere Verkürzen der Front wird daher bei ihm, ganz wie bei mir, etwas Nebensächliches. Recht überlegt, ist überhaupt keine Differenz mehr da, da eine »möglichst enge« Aufstellung das Fechten mit Quincunx-Intervallen offenbar ausschließt und auch die treppenförmige Aufstellung der Karthager überflüssig geworden ist.
Buchempfehlung
Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.
270 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro