Niederwerfungs- und Ermattungs-Strategie im zweiten punischen Kriege.

[384] KROMAYER in seiner Schrift »Roms Kampf um die Weltherrschaft« hat die interessante Frage aufgeworfen, inwieweit die Kriegführung des zweiten punischen Krieges in Niederwerfungs- und in die Ermattungsstrategie einzuordnen sei. Wie so viele Historiker hat er aber diese Begriffsbildung, die im vierten Bande dieses Werkes zu studieren ist, mißverstanden. Er meint, Hannibal sei bis zur Schlacht bei Cannä Niederwerfungs-Stratege gewesen und dann zur Ermattungs-Strategie übergegangen. Da Hannibal fortwährend die Feldschlacht herausfordert, so liegt diese Auffassung nahe; sie ist aber unrichtig. Wenn das Streben nach der Feldschlacht den Niederwerfungsstrategen[384] machte, so wäre auch Friedrich der Große ein Niederwerfungsstratege gewesen und Hannibal wäre es nicht nur bis zum Jahre 216 gewesen, sondern weit darüber hinaus. Denn auch nach Cannä hat er sicherlich nicht aufgehört, nach der Feldschlacht zu streben, und daß es ihm nicht gelang, lag nicht an ihm, sondern an den Römern. Hannibal hat also nicht einen Wechsel in seiner Strategie vollzogen, sondern ist von Anfang an Ermattungsstratege gewesen und geblieben. Wäre er anfänglich Niederwerfungsstratege gewesen, so hätte er nach dem Niederwerfen des römischen Feldheeres suchen müssen, d.h. er hätte sich die Kräfte zutrauen müssen, die Stadt Rom selbst anzugreifen und zu nehmen. Das hat er offensichtlich niemals ins Auge gefaßt und nicht ins Auge fassen können. Treffend weist Kromayer selber darauf hin – auch ich selber bin erst durch ihn auf die Bedeutsamkeit dieser Stellen aufmerksam geworden und erkenne das dankbar an –, daß Hannibal nach dem Siege bei Cannä einen Verständigungsfrieden mit den Römern suchte und daß auch sein Vertrag mit Philipp von Macedonien (Polybius VII, 9) das Fortbestehen einer römischen Macht, wir dürfen sagen Großmacht, voraussetzt. Hannibals Strategie war demgemäß darauf gerichtet, Rom durch möglichst schwere Schläge, Ablösung seiner Verbündeten und Verwüstung seiner Landschaften dahin zu bringen, daß es Karthago gewisse Abtretungen machte und sich selber einschränkte. Seine Strategie war also doppelpolig, ganz wie diejenige Friedrichs, setzte sich aber niemals die völlige militärische Niederwerfung des Gegners zum Ziel wie Alexander und Napoleon.

Es ist also auch unrichtig, so nahe es liegt, Hannibal und Fabius Cunctator als Repräsentanten der beiden Arten der Strategie hinzustellen. Hätte Hannibal Niederwerfungsstratege sein können, so hätte dem Cunctator all sein Manövrieren nichts genützt; Hannibal hätte Rom eben belagert und genommen, und der Krieg wäre zu Ende gewesen. Der Gegensatz zwischen Hannibal und Fabius ist kein prinzipieller, sondern ein rein praktischer, zurückgehend auf die Ungleichartigkeit der Waffen. Hannibal ging darauf aus, seine Stärke, das ist seine Kavallerie und seine taktische Manövrierfähigkeit zur Geltung zu bringen, und das führt ihn zur Feldschlacht. Fabius erkennt die Inferiorität der Römer in diesem Punkt und sucht den Gegner durch die sekundären Mittel der Kriegführung niederzuringen. Beide aber suchen den Gegner nicht kampfunfähig, sondern durch Zermürben friedenswillig zu machen oder aus dem Lande zu schaffen.[385]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 1, S. 384-386.
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