Spezialuntersuchung über die Lage von Aliso.

[133] Aliso ist uns fast zum Angelpunkt der Rekonstruktion der sämtlichen römisch-germanischen Feldzüge geworden. Wir müssen deshalb noch in eine spezielle Prüfung der vielumstrittenen Frage nach der Lage dieses Kastells eintreten, die wir wiederum am besten erst jetzt am Schlusse vornehmen, da dabei naturgemäß auch die allgemeinen strategischen Gesetze und Bedingungen dieses Kriegsschauplatzes in Betracht kommen, die nach Durcharbeitung der einzelnen Feldzüge dem Leser plastischer vor Augen stehen werden, als nach der einleitenden bloß theoretischen Darlegung.

Für unsere Untersuchung sind nun von vornherein zwei Fragen zu unterscheiden: die eine ist, ob die Römer an der oberen Lippe einen Magazinplatz angelegt haben, der als Basis für ihre Operationen im eigentlichen inneren Germanien diente; die andere ist, ob dieser Platz den Namen Aliso hatte.

Die Frage, die am besten aller Untersuchung und Vergleichung der Quellenstellen vorausgeschickt wird, ist die technische: wie weit war die Lippe schiffbar.

Hierüber gebe ich die Information wieder, die mir von technischen Kennern der Stromverhältnisse, den Herren Geh. Baurat RÖDER und Geh. Baurat KELLER II im Ministerium der öffentlichen Arbeiten, wie Herrn Baurat RÖDER in Diez, früher in Hamm an der Lippe in liebenswürdiger Weise zuteil geworden ist.

Die Schwierigkeit, Waren zu Lande zu transportieren, ehe feste Straßen gebaut sind, ist so groß, daß in alten Zeiten auch sehr kleine Wasserrinnen für den Verkehr benutzt wurden. Herford suchte im 15. Jahrhundert die Werre, Braunschweig die Oker als Wasserweg auszubauen.53 Einen beladenen Kahn stromaufwärts zu bringen, ehe ein Treidelweg gebaut ist, ist ja ebenfalls nicht leicht, aber immer noch leichter als eine entsprechende Anzahl Karren auf einem weichen Sandweg. Die Kähne wurden von Leuten die meist nahe am Ufer im Wasser gingen, gezogen; kam man an eine Stromschnelle, so weit nötig, getragen und die Kähne leer hinübergezogen. So geschieht es heute noch in Afrika, und selbst ein solcher, von Hindernissen durchsetzter Wasserweg ist vorteilhafter als ein Landweg. Die Lippe hat[134] dergleichen Hindernisse nicht; sie hat heute eine natürliche Schiffbarkeit bis Lippstadt; jenseits Lippstadt ist die Schiffbarkeit aufgehoben durch Stauanlagen im Interesse der Landwirtschaft. Durch Beseitigung dieser Hindernisse könnte jedoch die Schiffbarkeit bis Neuhaus, wo die Pader und Alme sich mit der Lippe verbinden, sofort wieder hergestellt werden.54 Das Gefälle von Neuhaus bis Lippstadt beträgt im Durchschnitt 1 zu 2000. Das Querprofil ist sehr tief eingeschnitten, also sehr günstig, so daß nach Beseitigung der Hindernisse Lastkähne von 20 Meter Länge, 4 Meter Breite, 9,75 Meter Tiefgang, d.i. 45 Tonnen (900 Zentner) Tragfähigkeit, ohne weiteres fahren könnten. Solche Kähne würden durchschnittlich im Jahre 98 Tage eine gute, 101 Tage eine beschränkte, 156 Tage wegen zu wenig Wasser, 10 Tage wegen zuviel Wasser keine Fahrt haben. Daß in alten Zeiten die germanischen Flüsse gerade mehr Wasser gehabt haben müßten als heute, kann man nicht behaupten. Auch ohne diese Voraussetzung ist es aber nach dem Obigen nicht zu bezweifeln, daß in den Tagen des Arminius die Lippe bis Neuhaus eine für die militärischen Zwecke der Römer, die ja noch viel kleinere Schiffsgefäße als die oben beschriebenen gebrauchen konnten, genügende Schiffbarkeit gehabt hat. Man konnte im Frühjahr die für den Sommerfeldzug nötigen Vorräte auf ihr fast bis zu den Quellen hinaufschicken.

Hier scheint nun meiner Auffassung ein Gegner entstanden zu sein in einer Untersuchung: »War die Lippe im Mittelalter ein Schiffahrtsweg von erheblicher Bedeutung?« vom Archivdirektor ILGEN in Düsseldorf, die der Herr Verfasser die Liebenswürdigkeit hatte, auf meine Bitte schon vor der Publikation zur Verfügung zu stellen.55 Ilgen stellt in einer kulturgeschichtlich sehr interessanten Skizze fest, daß die Lippe im Mittelalter und bis ins 18. Jahrhundert nur recht wenig befahren wurde und der Schiffahrt viele natürliche Hindernisse bot. Trotzdem läßt auch er für meine Auffassung noch genug Spielraum, denn der Begriff »erheblich« ist sehr dehnbar; eine mäßige Schiffbarkeit ist für den von uns postulierten Zweck durchaus genügend, und endlich möchte ich auch, zwar nicht die Substanz der Ilgenschen Ausführung, die gewiß richtig ist, aber doch einige Einzelheiten und sozusagen die Klangfarbe, die die relative Schiffbarkeit des Flusses gar zu gering erscheinen läßt, etwas modifizieren.

Eine technische Untersuchung in den Jahren 1735 und 1738 stellte, nach Ilgen, fest, daß von Wesel bis Hamm 51 Sandbänke und drei Steinklippen im Flusse seien. Diese Hindernisse könnten jedoch nicht sehr wesentlich gewesen sein, da selbst in der trockenen Jahreszeit noch mehr als 11/2 Fuß Wasser darüber standen. Störender werden die 6 Mühlenschlachten (Wehre) zwischen Haus Dahl und Hamm gewesen sein. Diese Mühlenwehre[135] haben seit dem Ende des Mittelalters allenthalben die Schiffahrt beeinträchtigt, und bis in unsere Zeit haben die beiden Interessen miteinander gekämpft. In dem Werk »Der Oderstrom« vom Bureau des Wasser-Ausschusses liest man (I, 233): »In der Zeit des politischen Verfalls Schlesiens gaben die Kleinfürsten Erlaubnis zum Bau von Mühlenwehren, die den Schiffsverkehr in hohem Maße erschwerten.« Von der Beseitigung dieser Wehre datiere der Wiederaufschwung der Schiffahrt auf der Oder. So wird es auch auf der Lippe gewesen sein. Im Jahre 1597 sind, nach Ilgen, Ziegelsteine für den Bau der Jesuitenkirche in Münster zu Schiff nur bis Haltern und von da zu Lande fortgeschafft worden. Hieraus ist jedoch für die Schiffahrt oberhalb Haltern nichts zu schließen, da der Landweg etwa von Werne bis Münster nicht wesentlich näher gewesen wäre als von Haltern.

Ebensowenig ist etwas daraus zu schließen, daß sich die Klöster Herford, Corvey und Liesborn ihren Rheinwein von Duisburg zu Lande kommen ließen. Der September ist der Monat des niedrigsten Wasserstandes für die Lippe, und der Oktober nur sehr wenig besser; im September aber mußten die leeren Fässer an den Rhein transportiert werden und im Oktober die vollen zurück. Gerade in dieser Zeit aber war der Wasserweg nicht oder wenigstens nicht mit Sicherheit zu benutzen.

Hiernach möchte ich den Akzent weniger auf die negativen, als auf die positiven Zeugnisse über die Schiffbarkeit der Lippe legen, die Ilgen beibringt.

Wenn die Stadt Soest im Jahre 1486 unter Benutzung des Soestbaches und der Ahse sich einen Wasserweg zur Lippe verschaffen wollte und auch das für die Bauten notwendige Geld aufbrachte, so ist das doch wohl ein Beweis, daß die Lippe keine ganz unbrauchbare Wasserstraße war. Eben dafür spricht, daß bei Dorsten, Haltern und Ostendorf Zollstätten waren, und wenn im Jahre 1526 225 Flöße den Zoll bei Dorsten passierten, so ist das eine recht erhebliche Zahl.

Der Ausspruch Werner Rolevinks (etwa 1475), daß Westfalen keine schiffbaren Flüsse habe, ist also so zu verstehen, daß es zwar keine dauernde Wasserstraße, wie nicht nur der Rhein, sondern etwa auch die Spree ist, besitzt, aber doch Wasserläufe, dir für gewisse Zeiten im Jahre ganz gut brauchbar sind.

Hiergegen hat SCHUCHHARDT eingewandt56, man habe die Lippe hinauf keine Kähne ziehen können, da das Flußbett schlickig sei. Ich habe mich darüber an Herrn Baurat RÖDER, früher in Hamm an der Lippe, jetzt in Diez, dem durch langjährige Praxis in den Strombauten die Verhältnisse der Lippe bekannt sind, um Auskunft gewandt und habe von ihm folgende Antwort erhalten: »Sumpfiges Terrain, d.h. moorige und torfige[136] Ländereien, kommen an der Lippe nirgends vor; es sind dort durchweg von Wesel aufwärts bis Neuhaus, Sandflächen zu beiden Seiten des Flusses. Nasse und leicht überflutete niedrige Uferstellen sind dagegen vielfach vorhanden. Solche Stellen werden zu Römerzeiten noch häufiger sich an dem Flusse er streckt haben, indessen boten sie einer so großen Menschenmenge, im Wegebau erfahren wie die römischen Legionen, kein wesentliches Hindernis für den Leinenzug der Schiffe vom Ufer aus. Schwieriger muß schon das Passieren der Nebenflüsse gewesen sein, da hier Brücken gebaut werden mußten, wenn man nicht die Zugpferde häufig auf das andere Ufer übersetzen wollte«.

»Für eine so systematisch vorgehende Truppe wie die römische, die an die Erbauung musterhafter Landstraßen und künstlicher Brücken gewöhnt war, kann auch das keine wesentliche Schwierigkeit verursacht haben.«

»Die nassen Uferstellen wurden mit Knüppeldämmen durchquert, von denen man noch heute zuweilen Spuren vorfindet.«

Schuchhardts Vorstellung von der Unüberwindlichkeit des »schlickigen« Bodens ist also unrichtig. Ich glaube sogar, daß die Schwierigkeit des weichen Bodens noch leichter überwunden werden konnte, als es in dem Röderschen Brief dargelegt ist, wenn nicht Pferde, sondern Menschen die Schiffe zogen. Diese gehen in den Ländern, wo man noch heute keine Treidelpfade hat, nahe dem Ufer im Wasser selbst. Kommen ungangbare Stellen, so ist am Ufer entlang ein für Menschen brauchbarer Knüppeldamm noch leichter hergestellt, als für Pferde, und auch das Überschreiten der Nebenflüsse ist für Menschen leichter und wohl oft nicht einmal eine Brücke nötig.

Wenn es hiernach keinem Zweifel mehr unterliegen kann, daß die Lippe in genügendem Maße bis Neuhaus schiffbar und benutzbar war, so ist damit auch die Anlage eines römischen Magazinplatzes in dieser Gegend sichergestellt. Es wird einer Erklärung bedürfen, weshalb von den zahlreichen militärischen Untersuchern der Römerfeldzüge bisher niemand diesen Satz ausgesprochen hat, aber die Erklärung ist nicht schwer zu finden. Die Wissenschaft war ja bis vor kurzem noch nicht darauf gekommen, die ungeheuren Zahlen der Germanenheere anzuzweifeln. Die Hunderttausende zogen nur so hin und her, und allein von der einen Völkerschaft der Sugambrer sollte, nach Tacitus' und Suetons Bericht, Tiberius 40000 auf das linke Rheinufer verpflanzt haben57. Der General von PEUCKER in seinem vielbenutzten Buch »Das deutsche Kriegswesen der Urzeiten« (Berlin 1860) setzt auseinander (Bd. II, 34), wie die Lage germanischer Heerführer durch die große Stärke ihrer Heere erschwert worden sei, und stellt harmlos zusammen: »Das Heer der Teutonen war nach Orosius und[137] Livius gegen 300000 Mann stark; dasjenige der Cimbern wird von Livius, Vellejus Paterculus, Eutrop und Orosius auf 200000 Mann angegeben; Ariovist befehligte nach Cäsars Angaben ein Heer von mehr als 100000 Mann; von den gothischen Heeren, welche im dritten Jahrhundert von den Ufern des Schwarzen Meeres hervorbrachen, erreichte dasjenige, welches im Jahre 269 dem Kaiser Claudius erlag, nach Trebellius Pollio die Stärke von 320000 Mann; Rhadagais führte im Anfang des fünften Jahrhunderts, nach Orosius, über 200000 Mann, da sich allein 200000 Goten darunter befunden haben sollen, nach Jornandes 200000, nach der Angabe des Zosimus 400000 Mann nach Italien, und das Heer Attilas, welches in den Catalaunischen Gefilden kämpfte und zum großen Teil aus germanischen Völkerschaften bestand, war nach Jornandes 500000, nach der Angabe des Paul Diaconus sogar 700000 Mann stark.«

Wo solche Massen gelebt haben und sich bewegen konnten, hat die Verpflegung keine Schwierigkeit; diese Frage wurde also gar nicht aufgeworfen. Erst durch das Bevölkerungsproblem sind wir vorgedrungen zur Verpflegungsfrage und die Verpflegungsfrage mußte die Entscheidung geben über das Lippekastell.

Nicht weit von Paderborn und dem Zusammenfluß der Lippe und Alme, auf dem linken Ufer dieses letzteren Flüßchens, liegt das Dorf Elsen. Der Anklang dieses Namens an Aliso in der Nähe einer Stelle, auf die ohnehin so viele Anzeichen führten, hat naturgemäß früh zur einfachen Identifizierung der beiden Namen Aliso und Elsen geführt, und auch in der ersten Auflage dieses Werkes glaubte ich immerhin aus dem Namen Elsen ein Argument für die Ansetzung von Aliso in dieser Gegend entnehmen zu können. Es ist jedoch mittlerweile festgestellt worden (vergleiche FR. CRAMER, Westdeutsche Zeitschrift, Bd. 21 [1902], S. 254), daß Ortsnamen dieser Wurzel so überaus häufig sind, daß ein Argument für die Lage von Aliso daraus nicht mehr zu entnehmen ist.

Vergleichen wir nunmehr die Quellenzeugnisse.


* * *

Auf seinem Feldzuge i. J. 11 v.Chr., erzählt uns Dio (53, 33), kam Drusus ins Cheruskerland bis an die Weser, und er wäre auch noch hinübergegangen, wenn er nicht aus Mangel an Lebensmitteln hätte umkehren müssen. Auf dem Rückmarsch griffen ihn die Germanen in einem Engpaß an, wurden jedoch endlich geschlagen, so daß Drusus sich getraute, am Zusammenfluß der Lippe und des Elison ein Kastell gegen sie zu errichten.

»Überall«, sagt Dio wörtlich, »legten sich die Feinde in den Hinderhalt und taten dem Drusus großen Schaden. Einmal schlossen sie ihn in einer von Höhen umgebenen, nur durch Engpässe zugänglichen Gegend ein und hätten ihn beinahe vernichtet. Er wäre auch mit dem ganzen Heer verloren gewesen, wenn nicht die Feinde, ihrer Sache zu gewiß, als wären die Römer schon in ihrer Gewalt und bedürfte es nur noch eines Schwertstreichs, ohne Ordnung auf sie eingedrungen wären. Hierbei wurden[138] sie besiegt und wagten sich jetzt nicht mehr so keck heran, sondern belästigten sie von ferne, ohne nahe zu kommen, so daß Drusus seinerseits ihnen zum Trotz da, wo die Lippe und der Elison sich vereinigen, ein Kastell errichtete, und ein anderes unter den Chatten am Rhein.« (»οἱ γὰρ πολέμιοι ἄλλως τε ἐνέδραις αὐτὸν ἐκάκωσαν, καί ποτε ἐς στενὸν καὶ χοῖλον χωρίον κατακλείσαντες ὀλίγου διφθειραν, κἄν πασσυδὶ ἄν ἀπώλεσαν, εἰ μὴ καταφρονήσοντές σφων ὡς καὶ ἑαλοκότων καὶ μιᾶς ἐπικοπῆς ὄντων ὁμόσε αὐτοῖς ἀσύντακτοι ἐχώρησαν, νικηθέντες γὰρ ἐκ τούτου οὐκέθ᾽ ὁμοίῳς ἐθρασύνοντο, ἀλλὰ πόρρωθεν μέν σφας παρελύπουν, ἐγγὺς δὲ οὐ προσήεσαν, ὥστε τὸν Δροῦσον ἀντικαταφρονήσαντα αὐτῶν ἐκεῖ τε ᾗ ὅ τε Λουπίας καὶ ὁ ᾽Ελίσων συμμίγνυνται φρουριόν τι σφισιν ἐπιτειχίσαι, καὶ ἓτερον ἐν Χάττοις παρ᾽ αὐτῷ ᾽Ρήνω.«)

Nach dem ganzen Zusammenhang können die Germanen, mit denen sich Drusus, von der Weser zurückkehrend, in einer Enge schlug, keine andern, als die Cherusker gewesen sein. Die Schilderung des Geländes paßt nicht mehr auf das Flachland an der Lippe, sondern nur auf das bergige Gelände östlich (nordöstlich, südöstlich) von Paderborn. Die Erhebungen, die das Lippetal begleiten, sind viel zu unbedeutend, um einem römischen Heer gefährlich zu werden. Wenn Drusus den Völkern, die ihn dort in Bedrängnis gebracht hatten, zum Trotz ein Kastell anlegte, so kann er das nicht einige Tagemärsche von ihnen entfernt getan haben, sondern nur entweder auf dem feindlichen Gebiet selbst oder unmittelbar vor der Tür dieses Gebiets, d.h. in der Gegend von Paderborn, und da der Grund der Erfolglosigkeit des Feldzuges die Schwierigkeit der Verpflegung gewesen war, so war der Zweck des Kastells eine Anlage eines Magazins für die zukünftige Wiederholung des Krieges, das an keine andere als an diese Stelle gehörte, bis wohin die Wasserverbindung mit dem Rhein ging.

Die Anlage eines solchen Platzes muß sogar von Anfang an der Hauptzweck dieses Feldzuges gewesen sein. Als Drusus nämlich südlich der Lippe im Lande der Sugambrer erschien, erzählt uns Dio, lagen diese gerade gegen die Chatten im Felde. Hätte der römische Feldherr den Zweck gehabt, einen unmittelbaren großen Erfolg zu erlangen, so hätte er offenbar nichts Besseres tun können, als sich mit aller Macht auf die Sugambrer zu stürzen: zwischen die Römer und die Chatten eingepreßt, hätten sie vernichtet werden können. Es scheint auf den ersten Anblick ganz unbegreiflich, wie Drusus sich diesen Erfolg hat entgehen lassen können. Statt dessen benutzte er die Gelegenheit bloß, unangefochten die Lippe hinaufzuziehen und bis an die Weser vorzugehen. Unmöglich konnte er hier, ohne jede Basis, die Sugambrer im Rücken, etwas ausrichten. Die Vernachlässigung des Erfolges, den er mit leichter Mühe auf dem Hinmarsche über die Sugambrer hätte pflücken können, erscheint uns aber nicht mehr ein Fehler, sondern als die Tat eines denkenden Strategen, wenn wir in der Untersuchung der Straßen und dem Bau des Magazinplatzes von vornherein den Zweck dieses Feldzuges sehen. Diese Anlage war ihm wichtiger als der Sieg über eine[139] einzelne Völkerschaft, sogar über die sehr gefürchteten Sugambrer; denn sein Sinn war auf die Unterwerfung aller Germanen bis an die Elbe gerichtet. Man könnte dagegen die Frage aufwerfen, weshalb Drusus dann nicht das Kastell schon auf dem Hinmarsch errichtete; als er bis auf den Punkt gekommen war, wo die Schiffbarkeit der Lippe aufhörte, war die Stelle für die Anlage ja gegeben. Es kann sein, daß es auch wirklich so gewesen ist. Unter allen Umständen haben die Römer einen großen Teil ihrer Lebensmittel zu Wasser dem Heere folgen lassen, und es ist so gut wie ausgeschlossen, daß sie sie nun nahe den Lippequellen alle auf Säumer oder Wagen geladen, sie bis an die Weser und dann wieder zurückgeschleppt haben. Der Feldherr wußte doch von vornherein, daß er auch für den Rückmarsch noch bedeutender Mittel bedürfe. Nichts natürlicher also – für römische Begriffe so selbstverständlich, daß unsere Quellen gar nichts dergleichen erwähnen – als daß er am Ende der Wasserstraße das für den Rückmarsch Nötige magazinierte und durch eine provisorische Befestigung und eine Besatzung schützte. Während das Heer weiter marschierte, suchte der Ingenieur der Besatzung in der Umgegend den Fleck aus, der für die Anlage eines dauernden Kastells der allergeeignetste war, und als das Heer zurückkam, wurde es ausgebaut. Sei es, daß es nun ein neues, sei es, daß es nur eine Verstärkung des zuerst angelegten war, für Dio ist es nur natürlich, es in der Form zu erzählen: als Drusus zurückkam und die Feinde geschlagen hatte, fühlte er sich stark genug, ihnen zum Trotz auf diesem Gebiet ein Kastell anzulegen.

Zu demselben Zweck, wegen dessen er dieses Kastell baute, hatte Drusus bereits im Jahre vorher den großen Kanal graben lassen, der aus dem Rhein in die Yssel und so durch den Zuyder See in die Nordsee führt. Wer solche Werke ausführt, der begnügt sich nicht mit der gelegentlichen Unterwerfung einer angrenzenden kleinen Völkerschaft wie die Sugambrer, sondern hat große Feldzüge, d.h. in unserm Fall das Gebiet bis an die Eifel ins Auge gefaßt. Dazu war ein Magazinplatz, so weit vorgeschoben wie nur irgend möglich, das strategische Mittel.

SCHUCHHARDT und KOEPP, in einem Vortrag »›Aliso und Haltern‹ im Korresp.-Bl. des Gesamtver. der deutschen Gesch.- u. Alterumsv.« 1906, haben gemeint, die Anlegung des Kastells an der oberen Lippe sei ausgeschlossen, da es dann die feindlichen Sugambrer und Bructerer im Rücken gehabt hätte. Dies Argument ist umzukehren: gerade dadurch wurde Aliso zur Handschelle für die trotzigen Germanen, daß es, uneinnehmbar für ihre Kunst, mitten unter ihnen lag. Auch der Einwand, daß die Germanen die Feste doch schließlich durch Aushungern hätten nehmen können, ist natürlich verfehlt. Er wäre nur richtig, wenn man sich das Kastell denkt ohne das römische Heer. Er entfällt aber, wenn man die Kastellanlage nicht isoliert betrachtet, sondern in dem strategischen Zusammenhang, aus dem und für den sie geschaffen ist. Das Kastell ist der Stützpunkt des in diesen Gegenden operierenden Feldheeres, und das Feldheer schützt das Kastell.[140] Selbst wenn es bis an den Rhein zurückgegangen ist, ist es dazu bei der großen eigenen Widerstandskraft des Kastells noch nahe genug. Sollten die Germanen versuchen, es zu bewältigen (wie Armin es ja im Jahre 16 versucht hat), so wird es sich immer so lange halten können, bis das Entsatzheer kommt und es befreit. Erst als das Heer vernichtet war, im Jahre 9, fiel auch, und auch da erst nach langer Zeit, Aliso.


* * *

Es ist vermutet worden, daß an der Lippe entlang eine Reihe von Zwischenkastellen bis an den Rhein gebaut worden seien, weil sonst Aliso, 20 Meilen Luftlinie von Vetera, ganz isoliert gewesen wäre. Aber die Spuren dieser Kastelle, die man schon gefunden zu haben glaubte, haben sich mit Ausnahme eines, von dem wir noch sprechen werden, als trügerisch erwiesen, und ich möchte die Tatsache auch bezweifeln. Gewiß marschierten römische Truppen diese Straße nicht, ohne nachts ein befestigtes Lager zu beziehen, und benutzten dazu nach Möglichkeit die einmal gemachten Anlagen, die die Germanen sich nicht die Mühe gemacht haben wer den, immer wieder einzuebnen. Aber allenthalben ständige Garnisonen hinzulegen, hätte sehr viel Soldaten gekostet und doch nur wenig Nutzen gebracht. Marschierende Truppen schützten sich selbst; Transporte gingen unter Bedeckung; Kaufleute mußten für sich selber sorgen, und bloß um den Kurieren, die ja auch unterwegs angefallen werden konnten, ein sicheres Nachtquartier zu schaffen, baut man keine Kastelle. Griffen die Germanen das isolierte Kastell am Elison an, so mußte es sich selbst verteidigen, bis vom Rhein Entsatz kam. Die Garnisonen der Zwischenkastelle hätten nicht helfen können. Das Entscheidende war, daß eine Nachricht von der Belagerung nach Vetera gelangte. Das mußte etwas früher oder später immer geschehen; auch liegt es nahe, daß der Kommandant einige Germanen in seinen Dienst hatte, die es eintretenden Falles übernahmen, sich durch ihre Landsleute durchzuschleichen und im Hauptquartier Meldung zu tun. Auch ganz isoliert ist also eine römische Anlage bei Paderborn keineswegs undenkbar. Man muß sich nur vor Augen halten, wie unfähig die Germanen waren, eine wirkliche Belagerung durchzuführen; sie hatten ja nicht einmal genug Metall zu Waffen, geschweige zu ordentlichen Werkzeugen. Selbst nach dem Teutoburger Siege, moralisch gehoben wie sie selbst, gedrückt wie die Römer waren, haben sie Aliso nicht mit Gewalt zu nehmen vermocht. So durfte auch schon Drusus es wagen, mitten in Feindesland, jenseits der feindseligen Sugambrer, Marsen und Bructerer das Kastell zu bauen. Überdies war es ja kein Dauerzustand, den er dabei im Auge hatte, sondern binnen wenigen Jahren hofften die Römer Herren des ganzen Landes, wenigstens bis zur Weser zu sein.


* * *

Als die Nachricht nach Rom kam, daß Drusus im Sterben liege, erzählt uns Valerius Maximus (V, 5, 3), eilte sein Bruder Tiberius zu ihm und mußte zu diesem Zweck bis weit in das innere Germaniens. Diese Nachricht darf kombiniert werden mit der Erzählung bei Tacitus (ann. II, 7),[141] daß die Germanen, als sie i. J. 15 das Kastell an der Lippe belagerten, einen alten Altar des Drusus zerstörten, den Germanicus, nachdem er mit seinen sechs Legionen das Kastell entsetzt, wieder herstellte. Es ist nicht gut denkbar, daß die Römer dem Drusus, wenn sie ihm im innern Germanien einen Altar errichteten, diesen anderswo, als an der Stelle seines Todes aufgebaut haben. Hätte man irgend einen beliebigen Platz gewählt, so hätte man den Altar wenigstens in der Nähe eines der großen Standlager am Rhein erbaut. Wenn wir also aus der einen Stelle entnehmen, daß der Drususaltar in der Nähe des Lippekastells gelegen hat, und wir wieder aus der anderen wissen, daß Drusus tief im Innern Germaniens gestorben ist, so ergibt sich daraus, daß das Kastell nicht an der unteren, sondern an der oberen Lippe zu suchen ist.


* * *

Im Jahre 5 n.Chr. nahmen die Römer, nach Vellejus (II, 105), zum erstenmal das Winterlager in Germanien »ad caput Juliae«, wie die Überlieferung lautet. Da ein Fluß »Julia« sonst nicht bekannt ist, so hat schon Lipsius dafür »Lupiae« eingesetzt, zweifellos mit Recht. In jüngster Zeit ist auf einen Ort »Jöllenbeck« hingewiesen; er liegt an einem Bach, der oberhalb Rehme in die Werre fließt. Der Anklang des Namens ist da, aber der Name kommt öfter vor, und sachlich ist die Kombination nicht zulässig. Es ist weder anzunehmen, daß schon Tiberius ein Winterlager jenseits des Gebirges genommen, was ja noch nicht einmal in all' seiner Vertrauensseligkeit Varus wagte, noch, wenn Tiberius es einmal getan haben sollte, daß er es dann nicht an der Weser aufgeschlagen. Die Konjektur von Lipsius »ad caput Lupiae« darf also beibehalten werden. Wäre nur die untere Lippe schiffbar gewesen, so würden wir aus dieser Nachricht nichts weiter schließen können; wir würden dann annehmen, daß Tiberius den Landtransport des Proviants bis an die Lippequelle nicht gescheut hat. Da wir aber auf jeden Fall voraussetzen dürfen, daß die Lippe hoch hinauf schiffbar gewesen ist, so dürfen wir nicht annehmen, daß Tiberius, bloß um noch ein oder zwei Tagemärsche weiter im Lande zu stehen, seiner Administration die Last auferlegt habe, von der Ausschiffungsstelle bis zum Lager noch einen großen Landtransport einzurichten. Das einzig Rationelle war, das Lager eben an diesen natürlichen Umschlagspunkt zu legen.

Wenn nicht die unsichere Lesart wäre, so würden wir hier einen absolut entscheidenden Beweis für unser Behauptung haben, daß nahe den Lippequellen für die Römer ein strategischer Punkt lag. Paderborn ist nicht mehr als knapp zwei Meilen von den Lippequellen entfernt.

Ein Lager an dieser Stelle konnte sehr gut als ad caput lupiae gelegen bezeichnet werden, und wenn so hoch oben an der Lippe ein günstiger Platz für ein Standlager war, so war das auch der gegebene Platz für eine möglichst vorgeschobene Magazinanlage. Es war ein wesentlicher Fortschritt[142] in der Befestigung der römischen Herrschaft, den Vellejus mit Recht hervorhebt, daß Tiberius hier, wo bisher bloß eine Station gewesen war, das Winterlager aufzuschlagen wagte.


* * *

Als i. J. 16 Germanicus das von den Germanen belagerte Lippekastell entsetzte, stellte er den zerstörten Drususaltar wieder her. Den von den Germanen ebenfalls zerstörten, im vorigen Jahr den gebliebenen Varianern errichteten Grabhügel, fährt Tacitus fort, stellte man nicht wieder her, »tumulum iterare haud visum«. Wäre der Grabhügel in einer ganz anderen Gegens gelegen gewesen, so wäre diese Bemerkung unverständlich. Wir wissen jetzt zur Genüge, daß die Römer Feldzüge in beliebige Fernen in Germanien nicht improvisieren konnten. Das »tumulum iterare haud visum« hat nur dann einen Sinn, wenn es wirklich in Frage kam, der Hügel also von dem Kastell nicht gar zu weit entfernt war. So lange man daher die Teutoburger Schlacht auch nur ungefähr in der Gegend sucht, wo wir sie fixiert haben, so muß man annehmen, daß das Kastell nicht an der unteren oder mittleren, sondern an der oberen Lippe lag.

An allen den bisher angeführten Stellen wird von den antiken Autoren der Name Aliso nicht genannt; wir hören nur von dem Kastell an dem Zusammenfluß der Lippe und des Elison und von einem Kastell an der Lippe, des i. J. 16 die Germanen belagerten und Germanicus entsetzt. Von diesem Kastell haben wir gesehen, daß es an der oberen Lippe gelegen haben muß. Der Name Aliso ist an drei anderen Stellen überliefert und es fragt sich, ob damit eben jenes oder ein anderes Kastell gemeint ist.

Der Geograph Ptolemäus setzt (II, 11) Άλεισον 1/2 Grad östlich und 1/4 Grad südlich von Vetera an. Das paßt nicht auf unser Kastell, beweist aber nichts, da die Ansetzung so viel südlich von Vetera auf jeden Fall falsch und vor allem die Angaben des Geographen gerade über Germanien anerkannt sehr unzuverlässig sind. Man läßt diese seine Notiz ebenso, wie die über die Τρόπαια Δρούσου am besten ganz aus dem Spiele.

Es folgt das Kapitel in Tacitus' Annalen (II, 7), in dem zuerst von der Belagerung und dem nicht restaurierten Totenhügel erzählt und schließlich gesagt wird: »cuncta inter castellum Alisonem ac Rhenum novis limitibus aggeribusque permunita.«

Es fragt sich, ob das im Anfang des Kapitels erwähnte Kastell an der Lippe, das auf jeden Fall an der oberen Lippe lag, und das am Schluß genannte Aliso identisch sind. Kein Zweifel, daß nach natürlicher Redeweise Tacitus in diesem Falle den Namen gleich bei der ersten Erwähnung hätte nennen müssen. Aber wir kennen seine Gleichgültigkeit gegen Geographie. Gerade bei ihm ist es keineswegs ausgeschlossen, daß[143] die beiden Kastelle identisch sind, obgleich er es wahrscheinlich selber nicht der Mühe wert gehalten, sich das klarzumachen. Indem er die ihm vorliegenden Quellen kombinierte und sprachlich umformte, kann ihm mehr oder weniger zufällig an der ersten Stelle der Name entglitten, an der zweiten für den Satzbau brauchbar erschienen sein. Diese Annahme wird zur höchsten Wahrscheinlichkeit erhoben, wenn wir uns klar machen, daß die Erzählung auf keine Fall etwa auf ein Kastell an der unteren Lippe paßt. Denn »cuncta inter castellum Alisonem et Rhenum novis limitibus aggeribusque permunita« heißt »zwischen Aliso und dem Rhein wurde eine durchgehende feste Straße angelegt«. Das kann kein Werk von wenigen Meilen gewesen sein. Die ganze Lippe entlang aber sind gute 20 Meilen, und eine feste Straße mit Dammschüttungen von solcher Länge ist ein Werk, das der römische Berichterstatter schon mit einiger Akzentuierung zu erwähnen berechtigt war.

Die dritte Stelle, bei Vellejus (II, 120), besagt im Anschluß an die Erzählung der Varianischen Niederlage: »L. Caedici, praefecti castrorum, eorumque qui una circumdati Alisone immensis Germanorum copiis obsidebantur, laudanda virtus est«, weil sie sich aus aller Not und Gefahr durch Umsicht und Entschlossenheit retteten. Diese Stelle ist zu kombinieren mit einer bei Dio-Zonaras (zu Dio 56, 22), wonach nur ein römisches Kastell sich gehalten habe, und einer anderen bei Frontin (III, 15, 4), wo »reliqui ex Variana clade cum obsiderentur« erwähnt werden. Eine vierte Stelle bei Frontin (IV, 7, 8) spricht ebenfalls von einer Belagerung nach der Varianischen Niederlage, wo Cädicius kommandierte. Da nach Dio sich nur ein Kastell behauptete, so beziehen sich alle vier Erzählungen auf dasselbe Ereignis. Es handelt sich um eine Belagerung nicht nur im Anschluß an die Varianische Niederlage, sondern die Belagerten waren auch »reliqui ex Variana clade« (nach der dritten Stelle) und der Platz hieß Aliso (nach der ersten). Das ist der direkte quellenmäßige Beweis, daß es das Kastell an der oberen Lippe war, welches den Namen Aliso führte. Denn die aus dem Gemetzel an der Dörenschlucht Entronnenen eilten natürlich in das nächste ihnen Schutz bietende Kastell, und das war das Kastell an der oberen Lippe. Wären sie etwa in der Furcht, hier eingeschlossen zu werden, gleich weiter geeilt, so hätten sie sich überhaupt nicht in irgend ein Kastell, das noch auf dem Boden Germaniens lag, geflüchtet, sondern wären gleich weiter gelaufen bis an den Rhein. An der oberen Lippe müßten wir unter allen Umständen zur Zeit des Varus ein römisches Kastell voraussetzen, selbst wenn wir gar keine Nachricht darüber hätten oder alle die Nachrichten, die wir haben, auf irgend ein anderes Kastell bezogen werden müßten. Bei den wirtschaftlichen Zuständen Germaniens ist es schlechthin ausgeschlossen, daß die Römer ihre unausgesetzten Heereszüge zur Weser und zurück gemacht haben ohne einen großen Magazinplatz an der Stelle, wo die Lippe auch für die kleinsten Schiffsgefäße nicht mehr brauchbar blieb. Dieser Magazinplatz[144] war selbstverständlich befestigt, also ein Kastell, also für die Flüchtlinge aus der Teutoburger Schlacht das nächste, das rettende Kastell, und dieses Kastell hieß nach Vellejus II, 120 Aliso.


* * *

Die Germanen waren nicht imstande, das Kastell mit Gewalt zu nehmen. Sie suchten es auszuhungern und die Einschließung zog sich, da ja das Kastell reichlich mit Lebensmitteln versehen war, sehr lange hin. Man erkennt die Länge der Einschließung daran, daß die Belagerten schließlich hörten, Tiberius nahe mit einem großen Heer. Tiberius aber war zur Zeit der Schlacht im Teutoburger Walde in Plannonien und ging erst nach Rom, ehe er an den Rhein aufbrach. In dieser langen Zeit wurden die einschließenden Germanen lässig mit der Bewachung, so daß es den Belagerten gelang, sich durch sie durchzuschleichen und unangefochten den 20 Meilen langen Weg an den Rhein zurückzulegen. Es könnte vielleicht auffallen, daß die Germanen die Flüchtlinge auf einer so weiten Reise nicht sollen eingeholt haben. Aber gerade zu diesem Vorgang kennt die Kriegsgeschichte sehr schöne Analogien, die die Möglichkeit dartun. Auch die Burgen der deutschen Ritter in Preußen wurden bei dem großen Aufstand sehr lange belagert und konnten nicht entsetzt werden; eine davon, Bartenstein, vier Jahre lang. Endlich machten es die Besatzungen ganz wie die Römer in Aliso, sie schlichen sich durch und die Bartensteiner entrannen, während die von Kreuzberg entdeckt wurden und umkamen. Der Weg der Bartensteiner nach Elbing war 15 Meilen lang.


* * *

Eine wesentliche Stütze wird der Erkenntnis der Römerfeldzüge in Germanien noch einmal erwachsen aus den jetzt mit aller Energie in Angriff genommenen Ausgrabungen. Überaus wertvolle Reste und Erkenntnisse sind bereits durch die Spatenarbeit ans Licht gebracht worden. Aber freilich für die unmittelbare Erkenntnis dieser Kriege ist dadurch bisher mehr Verwirrung geschaffen als Nutzen. Anfänglich verstand man römische Anlagen überhaupt noch nicht sicher von prähistorischen, karolingischen oder bloßen Naturspielen zu unterscheiden. Hauptmann Hölzermann und General von Veith glaubten schon ganze Systeme von römischen Befestigungen am Niederrhein und die Lippe hinauf festgestellt zu haben, die sich nachher als bloße Sanddünen erwiesen. Jetzt sind wirkliche römische Anlagen im größten Stil durch die sachkundigsten Forscher festgestellt, aber bei der Einordnung in den historischen Zusammenhang irrig gedeutet worden. In den zwanzig Jahren ihrer Herrschaft zwischen Rhein und Elbe haben die Römer Hunderte von Marschlagern, Dutzende von Standlagern und Kastellen anlegen müssen, von denen allen Spuren erhalten sein können, von vielen erhalten sein müssen. Gefunden sind erst einige ganz wenige Standlager und Kastelle. Bei jeder einzelnen Entdeckung aber riefen die glücklichen Finder: Aliso – und nicht nur die Finder und mit ihnen die öffentliche Meinung unter den Altertumsfreunden, sondern auch die kompetentesten[145] Fachgelehrten ließen sich durch den Enthusiasmus der Entdeckerfreude hinreißen und stimmten mit mehr oder weniger Vorbehalt zu. Dadurch ist das Verständnis für den strategischen Zusammenhang der römischen Kriegszüge natürlich nicht nur gestört und aufgehalten worden, sondern es ist auch heute noch nötig, die Ansprüche der verschiedenen Fundplätze auf den Namen Aliso bis ins einzelne zu verfolgen, sie an den Quellen zu prüfen und die vorstehende Beweisführung sozusagen negativ noch einmal zu wiederholen.

Von der Idee Dünzelmanns, Aliso an der Hunte aufgefunden zu haben, glaube ich absehen zu dürfen, ebenso von der Ansetzung bei Wesel. Zu untersuchen sind die beiden großen, erfolgreichen Ausgrabungen bei Haltern und Oberaden.58

Bei dem Städtchen Haltern an der Lippe, etwa sechs Meilen von der Mündung in den Rhein, ist seit langem auf dem St. Annaberg auf dem nördlichen Ufer ein römisches Kastell bekannt und neuerdings in seinem ganzen Umriß mit Sicherheit festgestellt. 11/2 Kilometer aufwärts von diesem Kastell, etwas von der Lippe entfernt, auf einem Plateau, wo die Oberfläche keinerlei Reste mehr zeigte, ist durch Nachgrabungen in den Jahren 1900, 1901 u.s.f. ein großes römisches Lager aufgedeckt worden. Unmittelbar an dem Ufer des alten Lippebettes sind drittens eine Reihe von Hafen- und Stapelanlagen, sowie Befestigungen, aufgedeckt worden.

Die Natur und der Zweck aller dieser Anlagen bedürfen, so viel auch im einzelnen zweifelhaft ist, generell kaum einer Erklärung. Bis Aliso war, wie wir gesehen haben, die Lippe für größere Schiffsgefäße noch nicht sieben Monate schiffbar. Wenn auch für die Alten sehr kleine Schiffsgefäße immer noch vorteilhafter waren als Landtransport, und wir deshalb annehmen dürfen, daß sie die Wasserstraße bis Aliso vielleicht acht Monate oder noch etwas länger benutzen, schließlich versagte sie doch. Bis Haltern aber war, wie wir annehmen dürfen, die Lippe das ganze Jahr hindurch benutzbar. Hier also legten sie schon früh einen Magazin- und Stapelplatz an, umwallten einen Schiffsanlegeplatz und bauten zu dessen weiteren Schutz das Kastell auf dem St. Annaberg.

In der Nähe dieses Hafenplatzes schlugen auch die Legionen mehrfach ihr Marsch- sowohl wie Standlager auf, und das Standlager erforderte die großen Hafenanlagen an der Lippe, die, wie es scheint, mit dem Lager durch Querwälle in sichere Verbindung gebracht wurden. Man hat nicht weniger als drei Lageranlagen feststellen können, die hier nacheinander aufgebaut worden sind, und die zahllosen Reste, die allmählich zutage gefördert[146] worden sind, Waffen, Münzen, Scherben, Schmucksachen, Geräte beweisen, daß die Lager lange belegt gewesen sind. Hier mag Domitius Ahenobarbus sein Quartier gehabt haben, als er die pontes longes bauen ließ; hier mögen die Legionen in den Jahren 5-8 ein oder das andere Mal überwintert haben. Ob auch Germanicus, als er den Krieg wieder aufnahm, die Befestigung erneuert hat, muß dahingestellt bleiben; vielleicht hat er sie als Marschlager benutzt.

Etwa vier Meilen weiter oberhalb, 11/2 Kilometer von der Lippe entfernt, auf dem Südufer liegt bei Oberaden ein ähnliches Legionsstandlager, noch größer als das größte derer bei Haltern.

Von allen diesen Anlagen kann von vornherein als Aliso nur das Kastell auf dem Sankt Annaberg bei Haltern in Betracht kommen. Die Lager sind als Kastelle viel zu groß. Castellum ist das Diminutiv von castrum, und nicht nur seines Namens halber kann es eine gewisse Größe nicht überschreiten, sondern um der unverbrüchlichen Gesetze der Strategie willen. Die Strategie verlangt, daß unter den Kriegsverhältnissen, wie wir sie in Germanien vor uns haben, vor allem die Feldarmee stark sei. Man hält seine Truppen zusammen, indem man möglichst wenig Garnisonen absplittert und die schlechthin unvermeidlichen nicht stärker, das heißt die Kastelle nicht größer macht, als die Natur der Sache es unbedingt erfordert. Ist die Befestigung zu umfangreich für die Größe der Garnison, so ist der Platz aufs höchste gefährdet, eine gute Verteidigung nicht durchführbar. Das Aliso, das wir suchen, kann also nur einen mäßigen Umfang gehabt haben, so groß, daß es außer der Besatzung für einige große Speicher und vielleicht noch ein Lazarett und einige Werkstätten Raum bot. Nun nimmt aber das Lager bei Oberaden einen Platz von mehr als 35 Hektar ein. Das große Lager bei Haltern umfaßt ungefähr 35, das mittlere etwa 20, das kleinste 18 Hektar.

Vergleichen wir damit einige andere, uns bekannte römische Anlagen.


Spezialuntersuchung über die Lage von Aliso


[147]

Die meisten Limeskastelle, abgesehen von den ganz kleinen, haben einen Flächenraum von 11/2 bis 31/2 Hektar; die gewöhnliche Besatzung war eine Kohorte oder eine Ala von 500 Mann, die bei den gefährdeteren und größeren in Kriegszeiten auf 1000 Mann verstärkt wurde.59

Vergleichen wir diese Zahlen, so ergibt sich eine erhebliche Verschiedenheit. In den Cäsarlagern entfallen auf eine Legion etwa 6 Hektar, also auf 1000 Mann ein Hektar; in den Kastellen das Drei-, Vier-, ja Achtfache. Das ist ganz natürlich. In einem Lager des Feldkrieges drängt man sich nach Möglichkeit zusammen; in einem dauernden Kastell breitet man sich mehr aus, aber immer nur so weit, daß die Mannschaft für die Verteidigung noch ausreicht, wofür dann nicht nur die Größe, sondern mannifache Umstände in Betracht kommen mögen.60

Halten wir uns hiernach an die Beispiele von Bonn, Neuß und Lambäsis, so können wir daraus entnehmen, daß zur Verteidigung eines festen Lagers von 20 bis 25 Hektar etwa eine Legion gehörte. Unter den Verhältnissen von Aliso aber, einem Erdwerk in der exponiertesten Lage, wäre das zu wenig gewesen. Wir würden selbst für das kleinste der Lager von 18 Hektar unter 11/2 Legionen ständige Besatzung kaum heruntergehen dürfen.

Indem wir von der kleinsten der Anlagen sprachen, haben wir aber bereits zuviel zugegeben, denn es ist vollkommen deutlich, wie auch Schuchhardt selbst annimmt, daß wir es mit der etwas veränderten Wiederholung derselben Anlage zu tun haben. Eben diese Wiederholung, da sie uns ja von Aliso bekannt ist, ist für Schuchhardt ein Argument, den Platz Aliso zu nennen. Nehmen wir nun noch weiter dazu, daß auch die Hafenanlagen und das Kastell auf dem St. Annaberg gehalten werden sollten, so hätte das ganze Varianische Heer mit seinen drei Legionen dazu gehört, die Werke zu verteidigen, und eine Feldarmee wäre überhaupt nicht übrig geblieben.

Indem Schuchardt es verabäumte, sich diese Konsequenz seiner Hypothese klar zu machen, ist er selbst schuld daran, daß nun in dem Lager von Oberaden von fast 21/2 Kilometer Umfang seinem Haltern ein Konkurrent entstehen konnte.

Nach den oben angegebenen Maßen der Cäsar- Lager würde selbst in dem kleinsten der Lager für drei Legionen Platz gewesen sein. Da wir uns dies Lager als ein Standlager, vermutlich ein Winterlager, vorzustellen[148] haben, wo man den Truppen mehr Raum und Bequemlichkeit gönnt, so mag dies kleinere Lager nur mit zwei, vielleicht nur mit einer Legion belegt gewesen sein. Das große Lager bei Haltern aber und das Lager bei Oberaden werden drei Legionen beherbergt haben – und diese Lager hat der Eifer der Entdecker für ein Kastell mit dauernder Besatzung gehalten! Es ist kaum nötig hinzuzufügen, daß, ganz abgesehen von den Besatzungstruppen, die es verschlang, der ungeheure Raum auch ganz zwecklos gewesen wäre. Wozu sollte er dienen? Kam die Feldarmee, so baute sie sich selbst ihr Lager, und für das Kastell galt das Gesetz: so eng wie möglich um die Etablissements herum, um sie um so leichter zu verteidigen. Zwischen einem Kastell und einem Lager ist nicht bloß ein gradueller, sondern ein prinzipieller Unterschied: in einem Kastell richtet sich die Besatzung nach dem Umfang der Befestigung; in einem Lager richtet sich der Umfang der Befestigung nach der Größe des Heers.

Was man bei Haltern und Oberaden wieder aufgedeckt hat, sind nicht Kastelle, sondern Lager, Winterlager.

Wenn man ein solches Winterlager verließ, brauchte man es weder zu besetzen noch zu zerstören. Für die Germanen war es unverwendbar: hätte sie sich darin festsetzen wollen, so wären sie vermöge der römischen Belagerungskunst noch schneller in der Hand der Römer gewesen als Vercingetorix in Alesia. Wollten die Römer selber denselben Platz von Neuem beziehen und die Germanen hatten sich ihrerseits die Mühe gemacht, ihn zu zerstören, so war das Erdwerk bald genug wie der aufgebaut.

Es bleibt die Frage, ob etwa das 71/2 Hektar große Kastell auf dem Sankt Annaberg Aliso sein könnte. Es ist eigentlich unnötig, daß wir diese Frage einer Prüfung unterziehen, da die Behauptung, streng genommen, von niemand mehr aufgestellt wird. Die Verteidiger von Haltern gründen ihre Behauptung immer gerade auf die großen Lager, die durch das lebendige Bild römischen Kriegertums, das sie dem Forscher in so farbenprächtiger Fülle bieten, die Phantasie anregt und befangen gemacht haben. Aber man muß in solchen Kontroversen auch vorbeugen, und wir wollen uns deshalb nicht verdrießen lassen, noch einmal alle die Quellenstellen, von denen wir oben schon gehört haben, daß sie von dem Kastell an der Lippe berichten, darauf zu prüfen, ob sie sich auch auf diesen Platz beziehen lassen.

Als Drusus gegen die Sugambrer auszog, sagt Dio Cassius, fand er sie nicht zu Hause, sondern wie waren gerade auf dem Zuge gegen die Chatten. Darauf zog Drusus bis an die Weser.

SCHUCHHARDT legte das aus: »Durch ihren Zug gegen die Chatten entzogen sie sich zugleich dem ersten Stoß der noch frischen römischen Truppen.« Also wenn man von einem übermächtigen Feind im eigenen Lande angegriffen wird, so »entzieht« man sich ihm, indem man schleunigst gegen einen andern Krieg anfängt, und der Angreifer ist so freundlich, dies Strategem zu respektieren und seinerseits, statt nun erst recht zuzuschlagen,[149] auch zunächst wo anders hinzugehen? Dabei ist das ganze Land der Sugambrer sicherlich nicht viel mehr als zehn Meilen breit.

Von zwei Dingen eins: entweder Drusus hat nur die germanischen Grenzvölker bekriegen wollen, – dann wäre es unverständlich, weshalb er die Gelegenheit gegen die Sugambrer nicht benutzt hat; oder er hat einen großen Krieg gegen die Germanen in ihrer Gesamtheit geplant –, dann hat er sich nicht begnügt, als Ergebnis eines ganzen Feldzuges ein Kastell sechs Meilen von seiner Grenze anzulegen, und so ruhmredig die römischen Schriftsteller auch oft sind, die Quelle, aus der Dio geschöpft hat, hätte uns die Anlage eines solchen Kastells auch nicht als eine große Tat den feindlichen Völkerschaften »zum Trotze« geschildert.

Nicht weniger verfehlt ist auch die Vorstellung, daß die Römer sich hier einen gesicherten Lippeübergang hätten schaffen wollen. Wozu gebrauchen sie denn den? Konnten die Germanen sie etwa verhindern, über ein Flüßchen wie die Lippe zu gehen, wo sie wollten? Und konnten die Römer nicht von vornherein auf dem rechten oder linken Ufer anmarschiert kommen, wie sie es für gut fanden? Es ist eine völlig dilattantische Vorstellung, daß eine Armee, die dem Feinde im freien Felde weit überlegen ist, um über einen Fluß wie die Lippe zu gehen, den Übergang durch ein Kastell zu schützen nötig habe.

Ein Drusus, der in einem Jahr einen großen Kanal baut, um die germanischen Völker von der See aus angreifen zu können und im nächsten Jahr als Sieger nichts weiter fertig bringt, als daß er sechs Meilen von seiner Grenze ein Kastell baut, müßte uns geradezu als ein militärischer Trottel erscheinen.

Eine ganz eigenartige Begründung der Festung Haltern hat Oberstleutnant DAHM versucht (Archäol. Anz. 1900, S. 101). Er legt die Worte Tac. Ann. II, 7; »novis limitibus aggeribusque permunita« in dem alten Sinne aus, daß limites Befestigungen bedeuten, und meint, daß Drusus und Germanicus sich gegenüber den Standlagern in Vetera und Mainz auf dem rechten Rheinufer ein Aufmarschterrain hätten sichern wollen, um den Rheinübergang auf alle Fälle zu sichern. Die Kastelle Aliso, Haltern und Hofheim (in monte Tauno) seien nicht isoliert gewesen, sondern nur die »Hauptstützpunkte der von limites, Wachtstationen und anderen fortifikatorischen Anlagen eingeschlossenen Positionen«. Wenn Haltern zwei und Hofheim nur einen Tagemarsch von dem großen Standlager angelegt sei, so sei das dadurch zu erklären, daß an der Lippe das Terrain stark koupiert und dem Feinde besonders günstig sei; überdies seien die Hauptoperationen alle von hier ausgegangen und deshalb ein größeres Gelände zum Aufmarsch der Armee erforderlich als bei Mainz.

Ich muß diesen Erwägungen durchaus widersprechen. Ein Aufmarschterrain von ein oder zwei Tagemärschen Tiefe vor einem großen befestigten Waffenplatz ist ein Begriff, der in der Kriegsgeschichte nicht existiert. Den Römern, die das linke Rheinufer beherrschten und an jeder Stelle, wo sie[150] wollten, Übergangsmittel zusammenbringen und bereitstellen konnten, konnten die Germanen – nach einem anerkannten Gesetz der Strategie – den Übergang über den Rhein niemals verwehren. Wollten die Römer es bequem haben, so waren feste Brücken mit Brückenköpfen das Mittel – unter keinen Umständen aber eine Kordonstellung mit Befestigungen ein oder zwei Tagemärsche vom Rhein. Eine solche Position zu verteidigen, dazu hätte eine Armee gehört, zehnfach so groß, als die Römer sie am Rhein überhaupt hatten. Die sachlich ganz unmögliche, ja widersinnige Vorstellung von einer solchen befestigten Aufmarschstellung ist offenbar nur erzeugt durch die überlieferte falsche Auffassung von dem limes als einer zur Verteidigung bestimmten Grenzbefestigung, verbunden mit der anscheinenden Notwendigkeit, für die Festung Haltern eine strategische Bestimmung ausfindig zu machen.

Von den Stellen Valerius Maximus V, 5, 3 verbunden mit Tacitus, Annalen II, 7 bezüglich der Gegend, wo Drusus starb und ihm der Altar errichtet wurde, ist bereits oben nachgewiesen, daß sie nicht auf einen dem Rhein so nahe liegenden Platz wie Haltern bezogen werden können.

Ebensowenig geht die Nachricht (Ann. II, 7), daß die Germanen ein Kastell an der Lippe belagerten und Germanicus mit sechs Legionen heranzog, es zu entsetzen, Haltern. Es ist in aller Weltkriegsgeschichte unmöglich, einen Ort zu belagern, wenn sechs Meilen davon ein weit überlegenes feindliches Heer steht; auch bei etwa gleich starken Heeren ist es nur möglich, wenn der Belagerer über die Kunst verfügt, sich in aller Schnelligkeit selbst stark zu befestigen. Dazu waren die Germanen nicht imstande; ein einziger strammer Marsch hätte das römische Heer plötzlich heranführen können, und jede Nacht hätten die Germanen, deren Stärke sorgsame Beobachtung und Wachsamkeit keineswegs waren, auf einen Überfall gefaßt sein müssen, der das Belagerungsheer vernichtet hätte.

Der letzte germanische Gemeinfreie, der dazu aufgeboten wurde, hätte die Nutzlosigkeit und Gefährlichkeit eines solchen Unternehmens erkannt und den Glauben an die Führungsbefähigung des Herzogs, der seien Kraft so unsinnig einsetzte und verschwendete, verloren.

Nicht minder haben wir schon gesehen, paßt auch die daran schließende Notiz, die Römer hätten zwischen Aliso und dem Rhein eine feste Straße gebaut, nicht auf die Römer, die von einer Straße von sechs Meilen nicht ein solches Aufhebens gemacht hätten. Überdies hatte gerade hier Tiberius bereits die Straße gebaut.

Die Flüchtlinge aus der Teutoburger Schlacht retteten sich nach Aliso. Daraus ergibt sich der Schluß, daß das Kastell nicht so sehr weit vom Schlachtfeld gelegen haben kann. Schuchhardt meint umgekehrt: »Erst wenn man die Entfernung ziemlich weit annimmt, erklärt sich, wie die Katastrophe eine so furchtbare geworden ist, warum so wenige entkommen sind.« Deshalb passe die Erzählung auf Haltern. Dagegen ist zu sagen, daß den Römern durch die Stellungnahme Armins in dem Gebirgspaß der Rückzug abgeschnitten war, die nähere oder weitere Entfernung eines[151] Rettungsplatzes also gar nicht in Betracht kommt. Außerdem ist es hier klar, daß die Germanen nicht erst volle fünf bis sechs Tagemärsche verfolgt haben und dann ebenso viele Tage zur Feier des Siegesheftes zurückmarschiert, sondern bei ihrer Beute geblieben sind. Hätten sie aber nicht verfolgt, sondern die Flüchtlinge laufen lassen, wo wären diese gewiß nicht in Haltern geblieben, sondern auch gleich weiter bis an den Rhein geeilt. In Aliso aber wurden sie eingeschlossen. Es sei einmal einen Moment angenommen, daß Aliso bei Haltern gesucht werden könne, indem man die Teutoburger Schlacht an eine andere Stelle versetzt. So viel ist aber gewiß: wenn man einmal mit Schuchhardt annimmt, daß die Schlacht an der Dörenschlucht oder sonst in der Nähe der Grotenburg (Teutoburg) gewesen ist, so kann Aliso nicht bei Haltern gelegen haben, 20 Meilen von der Deutoburg und nur einen starken Tagemarsch vom Rhein entfernt.

Dasselbe zeigt auch der Gang und die Dauer der Belagerung. Hier so nahe am Rhein hätte der römische Legat Asprenas, der mit zwei Legionen herbeikam und dessen Energie gerühmt wird, auch sicher einen Versuch gemacht, die Eingeschlossenen zu befreien.

Besonderen Wert legt Schuchhardt auf die Erzählung des Tacitus, daß Germanicus im Jahre 16 sein Heer auf die Flotte gesetzt habe, in die Ems eingefahren und an die Weser marschiert sei, obgleich er schon mit sechs Legionen bei Aliso stand. Das sei nur verständlich, wenn Aliso an der unteren Lippe, also bei Haltern lag. Meine Korrektur, daß Germanicus nicht in die Ems, sondern in die Weser eingefahren sei, erscheint ihm nur als Auskunftsmittel, um Aliso bei Paderborn zu retten – woraus dann zu schließen ist, daß Schuchhardt meint, des Tacitus' Feldzugsbericht würde rationell, wenn man Aliso bei Haltern annehme. Die Verbesserung ist aber nicht mehr wert, als wenn jemand gegen den Satz, drei mal drei sei elf, einwenden wollte, es sei besser, zu sagen, drei mal drei ist zehn. Die Einfahrt eines Heeres, das an der Weser fechten soll, in die Ems ist etwas weniger unsinnig, wenn das Heer vorher bei Haltern gestanden hat, als wenn es bei Paderborn gestanden hätte, aber immer noch unsinnig. Das hat Koepp auch eingesehen61, und da ihm meine Korrektur (Verwechslung der Ems mit der Weser und Teilung des Heeres) zu gewaltsam erscheint, so verzichtet er überhaupt darauf, den Feldzug zu verstehen. Wenn Koepp nichtsdestoweniger in dieser Erzählung das wichtigste Zeugnis für die Lage Alisos bei Haltern sieht, so ist das offenbar nicht ganz logisch gedacht. Denn wenn der Feldzug überhaupt nicht so überliefert ist, daß man einen vernünftigen Sinn hineinbringen kann, so kann man auch nicht ein einzelnes Glied aus der Kette, in dem ja gerade der Fehler stecken kann, als Beweisstück verwenden.[152]

Der einzige Grund, weshalb man Aliso sei es bei Haltern, sei es bei Oberaden gesucht hat, ist, daß an diesen Stellen zufällig Reste von römischen Anlagen entdeckt worden sind, und wie dieser Zufall, psychologisch nicht unerklärlich, diese Verwirrung hervorgerufen, so steht ungekehrt der Mangel an Spuren in der Gegend von Paderborn der Annahme der richtigen Ansetzung bei weiten Kreisen im Wege. In Wirklichkeit hat das Manko hier für die Entscheidung der Frage so wenig zu bedeuten, wie die Fülle der Funde dort. Es unterliegt ja nicht dem geringsten Zweifel, daß die Römer noch zahlreiche Standlager und Kastelle, ganz abgesehen von den Marschlagern, hier und da in Germanien gehabt haben, von denen uns der Zufall nur dieses und jenes hat finden lassen. Die Entscheidung, wo Aliso lag, kann nicht durch Funde – es sei denn, daß eine Inschrift entdeckt würde –, sondern nur durch die von strategischen Erwägungen geleitete Auslegung der Quellen gegeben werden, und die Ausgrabungen bei Haltern und Oberaden verlieren nicht das geringste von ihrem Interesse, auch wenn man aufhört, sie Aliso zu nennen. Auch wenn bei Paderborn noch etwas von einer Befestigung gefunden werden sollte, so würde das der Kette der Beweise, daß hier Aliso gelegen hat, nichts hinzufügen. Ziemlich alle heutigen Forscher sind darüber einig (Mommsen, Knoke, Dahm, Bartels, Schuchhardt, Koepp), daß das Varuslager in der Nähe der Porta Westphalica gewesen sein muß, irgend eine Spur eines Römerlagers ist aber auch hier noch nicht aufgefunden worden. So wenig wie sich die Forschung durch den Mangel an dieser Stelle beirren läßt, so wenig braucht sie sich auch durch denselben Mangel bei Paderborn beirren zu lassen. Auch das Lager des Tiberius an den Quellen der Lippe ist ja noch nicht aufgefunden worden. Daß dies oder jenes noch einmal gefunden werden wird, ist nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Das Legionslager bei Neuß, das ein Steinbau war und nicht bloßes Erdwerk, wie die Lager und Kastelle in Germanien, ist doch erst vor zwanzig Jahren gefunden worden. Dabei war dieses Lager nicht bloß wenige Jahre, sondern generationen- oder gar jahrhundertelang mit Truppen belegt. Die großen Lager bei Haltern sind erst durch einen Zufall vor neun Jahren entdeckt worden; auch nicht die geringste Spur war über der Erde davon zu sehen. Vor vier Jahren fand der Pfarrer Prein das Lager bei Oberaden; ein anderes 20 Kilometer südöstlich von Lippstadt bei Kneblinghausen bei Rüthen, entdeckte kurz vorher der Oberlehrer Hartmann. Aber was uns von solchen Entdeckungen die Zukunft auch noch bescheren möge, die Entscheidung, wie die Entdeckung historisch einzuordnen ist, kann immer nicht die Rekonstruktion des einzelnen Lagers oder Kastells, sondern nur die Rekonstruktion des strategischen Zusammenhangs der Feldzüge ergeben. Wer sich aber auf dieses Gebiet begibt, darf nicht solche Fehler machen, daß er glaubt, man dürfe das Kastell im Rücken des Feindes anlegen, oder Kastelle und Lagerfestungen verwechseln, das Verhältnis der Stärke der Besatzungstruppen zur Stärke der Feldarmee nicht in Betracht ziehen, eine Feste belagert werde lassen,[153] während die ungeschlagene Feldarmee zwei kleine Tagemärsche davon entfernt steht, und was wir alles dergleichen dilettantische Vorstellungen bei den Verteidigern der Haltern-Aliso-Hypothese gefunden haben.

Zur dritten Auflage. Die Ausgrabung des Lagers bei Oberaden hat ergeben, daß es älter ist als das Lager bei Haltern. Es war also vermutlich das Standlager des Tiberius, als er sich hier festsetzte, um einen Teil der Sugambrer aufzuheben und auf das andere Ufer des Rheins zu verpflanzen. Für den Zusammenhang der Feldzüge, die wir behandelt haben, kommen alle diese Lager nicht in Betracht. Die Archäologen, die solche Zusammenhänge zu konstruieren versucht haben, sind daran gescheitert, daß sie sich den Unterschied von Lager und Kastell nicht klargemacht haben. Ich habe das in einer längeren Auseinandersetzung mit G. KROPATSCHECK in den Preup. Jahrb. Bd. 143 S. 135 (1911) des Näheren dargelegt. Ob Lager oder Kastell, ist natürlich ganz entscheidend. Es ist ein Unterschied wie zwischen einer Pistole und einer Kanone: zunächst nur ein Größenunterschied, der praktisch zum Artunterschied wird. Ein Kastell hat den Zweck in sich (der aufgesucht und bestimmt werden muß) und die Besatzung ist in erster Linie bestimmt, das Kastell zu halten und zu beschützen; außerhalb des Kastells sind ihre Zwecke meist mehr polizeilicher als militärischer Natur. Ein befestigtes Lager aber ist nicht um seiner selbst willen, sondern um des Heeres willen da, das sich in ihm eine Deckung schafft. Wer diese beiden Funktionen verwechselt, kann natürlich nicht zu richtigen strategischen Schlüssen kommen.

LUDWIG SCHMIDT im Röm.-german. Korresp.-Bl. 1911 S. 94 hat noch einmal die Gründe, weshalb Aliso notwendig an der oberen Lippe gesucht werden muß, zusammengestellt.[154]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 133-155.
Lizenz:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.

230 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon