Erstes Kapitel.

Das römische Reich mit germanischen Soldaten.

[259] Wir haben das erste Buch dieses zweiten Teiles unseres Werkes den »Kampf der Römer mit den Germanen« genannt und nennen jetzt das zweite »Die Völkerwanderung«. Nach überlieferten und herrschenden Anschauungen würde eine solche Nebenordnung unrichtig, und vielmehr eine Unterordnung des zweiten Titels unter den ersten geboten sein: denn ist nicht die Völkerwanderung gerade der Höhepunkt und die Entscheidung des »Kampfes der Römer und Germanen«?

Nein, so war es tatsächlich nicht. Der Kampf zwischen den Römern und Germanen im Sinne des wirklichen Kampfes, im Sinne einer Kriegsgeschichte, ist bereits im dritten Jahrhundert zu Ende. Schon mit dem Ende dieses Jahrhunderts gibt es ein römisches Kriegswesen, ein römisches Heer, das imstande gewesen wäre, mit den Germanen zu kämpfen, nicht mehr. Wohl gibt es noch einen römischen Staat, das römische Weltreich, und es hat noch ein Jahrhundert in fast voller Ausdehnung, und nach Verlust seiner westlichen Provinzen in seiner östlichen Hälfte noch ein volles Jahrtausend gelebt. Aber die militärischen Kräfte, vermöge deren dieses Staatswesen sich behauptete, sind nicht mehr römisch: schon im vierten Jahrhundert sind es nicht mehr die Legionen, die den Staat schirmen, sondern er lebt, indem er die Barbaren, die ihn bedrohen und bedrängen, abwehrt durch die Barbaren, die er in seinen Dienst nimmt. Der Kampf, der gekämpft wird, ist wohl noch ein Kampf zwischen Rom und den Germanen, aber nicht mehr ein Kampf zwischen Römern und[259] Germanen; die Krieger, die kämpfen, sind Germanen und andere Barbaren, Hunnen oder Sklaven gegen ihresgleichen.

Dieses Barbarensöldnertum des römischen Reiches nach Untergang seines eigenen alten Kriegswesens, wie wir es im vorigen Buch kennen gelernt haben, führt zur Völkerwanderung.

Der Name der »Völkerwanderung« ist in unserer Zeit öfter angefochten worden; besonders deshalb, weil diese Art Wanderungen keineswegs dem fünften und sechsten Jahrhundert allein eigentümlich seien, sondern die ganze Weltgeschichte erfüllen; die Kreuzzüge und die Besiedlung Amerikas durch Europäer müßten nicht weniger unter diesem Begriff gestellt werden, wie die Bewegungen in der Zeit des Überganges vom Altertum zum Mittelalter. Das ist vollkommen richtig; dennoch wird es geraten sein, den einmal eingebürgerten Namen in seiner spezifischen Bedeutung beizubehalten. Gibt es auch eine stete, niemals ganz aussetzende Völkerwanderung, so hat jede Epoche doch ihre eigentümlichen Erscheinungen und Formen, und es ist gut, für sie alle auch möglichst gesonderte Namen zu haben. Wir behalten also den alten Ausdruck bei; neben dem Andrang der Hunnen und dem Nachrücken der Slaven bezeichnet er in der Hauptsache die Ansiedlung germanischer Stämme auf dem Boden des römischen Reichs.

Früher hatte man wohl die Vorstellung, daß diese Ansiedlung als eine große fortlaufende Aktion der Eroberung und der Unterjochung anzusehen sei: das altersschwach gewordene Römertum sei von den jugendkräftigen Germanen endlich überrannt worden. Die Untersuchung in unserem vorigen Buch hat uns gezeigt, daß es anders war: die Germanen haben die römischen Legionen nicht sowohl besiegt, als ersetzt. Statt eines dauernden Kampfes zwischen Römern und Germanen ist eine Übergangsform einzusetzen, die überleitet aus dem römischen Weltreich in eine Anzahl germanischer Reiche auf römischem Boden. Diese Übergangsform zeigt ein römisches Reich, das als Soldaten nicht mehr Römer, sondern Germanen hat.165[260]

Schon seit Cäsar, ja vom zweiten punischen Kriege an, bilden fremde Söldner, zunächst Schützen und Reiter, einen Bestandteil des römischen Heeres. Auch in die Legionen drang das barbarische Element sehr stark ein. Die Staatsklugheit des Augustus hatte Mittel und Wege gefunden, den römischen Charakter der Legionen wieder herzustellen und zu bewahren. Bis in das dritte Jahrhundert wird es so geblieben sein, wennschon die Quote der barbarischen Hilfsvölker zuweilen, vielleicht auch stetig, wuchs. Von Marc Aurel wird uns erzählt, er erkaufte die Hilfe der Germanen wider die Germanen (emit et Germanorum auxilia contra Germanos). Caracalla wird von seinem Nachfolger beschuldigt166 die Geschenke, die er den Barbaren gegeben, hätten ebenso viel wie die Unterhaltung des ganzen Heeres betragen.

In den Bürgerkriegen des dritten Jahrhunderts aber gewann das barbarische Element mehr und mehr die Oberhand. Gallienus besiegte die Goten mit Hilfe des Herulers Naulobatus, den er mit den konsularischen Insignien bekleidete.

Die römischen Legionen bestehen dem Namen nach fort, aber sie verwandeln ihren Charakter. Sie sinken herab zu einer geringwertigen Miliz. Neben solchen degenerierten Legionen (limitanei) gab es einige andere, die sich dadurch in ihrem kriegerischen Wert erhielten, daß sie sich dem Wesen der barbarischen Söldnerhaufen näherten. Die Jovianer und Herkulier Diocletians werden so aufzufassen sein. Das Wesen der alten, echten römischen Legionen beruhte auf der Disziplin. Nicht bloß Angeworbene, die ein natürlicher kriegerischer Instinkt in den Dienst des Mars führte, sondern ausgehobene Rekruten, die zunächst nur die nötigen physischen Eigenschaften mitbrachten, füllten ihre Reihen; die militärische Erziehung und die Strenge des Centurio machte sie zu brauchbaren Soldaten. Diese Kraft war zerstört, und nur das erstbezeichnete Element, das natürliche Kriegertum, blieb übrig. Auch in einem Kulturvolk gibt es immer eine Anzahl Männer, die, was Tacitus von den Germanen sagt, lieber durch Blut als durch Arbeit erwerben und, sei es von einem hohen kriegerischen Ehrbegriff, sei es bloß von physischem Mut beseelt sind. Die Zahl solcher[261] Naturen aber ist stets sehr klein; man kann aus ihnen Heere von der Größe, wie sie Augustus oder noch die Severe befehligt hatten, nicht bilden. Sie genügte, um dauernd einige Truppenteile zu erhalten, die vorwiegend römischen Charakter trugen, aber der Charakter der ausexerzierten Legionen ist verloren; Auftreten und Fechtweise gleich denen der Barbaren, deren kriegerische Kraft ja auch auf persönlicher, natürlicher Tapferkeit und Korpsgeist beruht.

Der Übergang aus dem alten römischen Heersystem in die neuen Formen bahnte sich allmählich an, hat sich aber zuletzt ziemlich schnell vollzogen. Gegen die Mitte des 3. Jahrhunderts setzt er ein, und gegen Ende, unter Diocletian, ist er bereits vollendet. Das Römische, das noch fortbesteht, ist nicht mehr römisch im alten Sinne. Schon das Heer, mit dem Konstantin zur Eroberung Italiens auszog, mit dem er den Kaiser Maxentius an der milvischen Brücke besiegte und Rom einnahm, hat wesentlich aus Barbaren bestanden. Er sammelte Truppen aus den untertänigen Barbarenvölkern, sagt Zosimus, Germanen, Kelten und die britannischen.167 Wenn diese Truppen das Kreuzeszeichen vor sich hertrugen, so dürfte es weniger die Rücksicht gewesen sein, daß Konstantin Truppen haben wollte, die die capitolinischen Götter nicht scheuten – denn davon kann bei den Germanen und Kelten nicht die Rede gewesen sein –, als die Rücksicht auf die römische Bürgerschaft selbst, wo es eine starke Christenpartei gab, die Maxentius unterdrückte und die Konstantin zu gewinnen trachtete. Wie ein germanischer Heerkönig umgab sich Konstantin mit einem Gefolge von »comites«, die als eine Art neuer Adel die alten Stände der Sonatoren und Ritter beseite schoben.

Das vierte Jahrhundert hindurch finden wir oft Römisches und Germanisches unmittelbar nebeneinander. In der Anrede, mit welcher der Cäsar Julian vor der Schlacht bei Straßburg die Seinigen zum Kampf ermutigt, ermahnt er sie, »der römischen Majestät ihre Ehre wiederzugeben« (Romanae majestati reddere[262] proprium decus), und bezeichnet die Feinde als Barbaren (Ammian XVI, 12, 31). Dieses so angeredete Heer bestand aber nicht bloß, wie die Schlachterzählung ergibt, zu einem Teil aus Germanen, sondern diese machten offenbar schon seine eigentliche Stärke aus; Cornuti, Bracchiati und Batavi werden genannt; sie lassen beim Angriff den Barritus ertönen, und eben dieses Heer ruft bald darauf Julian zum Kaiser aus, indem es ihn nach germanischer Sitte auf einen Schild erhebt.168 Als die Westgoten über die Donau gegangen sind und der Sturm der eigentlichen Völkerwanderung einsetzt, da schildert uns der römische Historiker, wie in dem ersten großen Gefecht die »Barbaren« die Heldenlieder zum Preise der Vorfahren anstimmen, die »Römer« aber den »Barritus« anschwellen lassen.169

Einen eigentümlichen Beleg, wie sehr das römische Heer bereits im vierten Jahrhundert germanisiert war, hat jüngst die archäologische Spatenarbeit zutage gefördert. Der Donauwinkel der Dobrudscha wird durch drei in verschiedenen Zeiten angelegte Befestigungslinien abgeschlossen. Man hat nunmehr festgestellt, daß die älteste dieser Linien ein niedriger Erdwall, mit der Front nach Süden gerichtet, war; er ist wahrscheinlich von Barbaren gegen die Römer angelegt worden. Die zweite Linie, ein höherer Erdwall, hat durchaus den Charakter unseres germanischen Limes und wird auch in derselben Zeit von den Römern gebaut worden sein. Die dritte Linie ist eine Steinmauer und läßt sich mit Sicherheit in das vierte Jahrhundert datieren. Die Befestigungen aber, die zu ihr gehören und mit ihr verbunden sind, tragen ganz denselben Charakter wie die frühen mittelalterlichen auf germanischem Boden. Die Germanen selber werden sie schwerlich gebaut haben; ihre Neigung für die Frönerarbeit war damals noch sehr gering. Aber die Führer, die die Anlage anordneten und sie im einzelnen bestimmten, waren bereits Germanen; sie lebten nicht mehr in den militärischen Traditionen Roms, sondern verfuhren, wie in allem Kriegswesen, so auch in den[263] Befestigungsformen, nach den Ideen, die sie aus der Heimat mitbrachten und nunmehr mit den großen Mitteln und nach den Bildern, die sie auf dem römischen Boden vor sich sahen, weiter formten.170

Barbarus war in dieser Zeit technische Bezeichnung eines Soldaten; der Militärfiskus wird wohl rundweg »fiscus barbaricus« genannt.171

Daß dabei noch immer von Römertum, römischem Ruhm und römischer Tapferkeit in den Quellen die Rede ist, darf uns nicht beirren, denn sogar noch Procop im sechsten Jahrhundert, obgleich er selbst bei allen Gelegenheiten erzählt, daß Barbaren bei den römischen Siegen das Beste tun, spricht doch immer von den Siegen »römischer Tapferkeit« über die Barbaren, weil die Siege unter der kaiserlichen Fahne erfochten werden.172

Vom Ende des 3. Jahrhunderts an bestanden also die römischen Heere aus Söldnerbanden verschiedener Art, zum großen, vielleicht schon größten Teil reinen Barbaren, Germanen, die im Gefecht brav, außerhalb des Gefechts und namentlich auch im Frieden sehr schwer zu regieren waren. Hatten schon die disziplinierten Legionen oft genug gemeutert, so waren jetzt Kaiser und Reich ganz und gar dem guten Willen dieser Banden preisgegeben. Die Germanen im Dienst der Kaiser der ersten beiden Jahrhunderte hatten immer das Gefühl gehabt, bloße Hilfstruppen zu sein; der Gedanke der Auflehnung schoß nicht in die Halme, da die strafenden und rächenden Legionen daneben standen. Die national-römischen Banden, die jetzt noch Legionen hießen, an Zahl sehr schwach, waren, selber mit Barbaren durchsetzt, von einer den Fremd-Söldnern nur gar zu ähnlichen Gesinnung. Nichts hinderte die germanischen Krieger, die heute den Sold des Kaisers genommen hatten, morgen, wenn sie fanden, daß in irgend einem Punkte ihr Vertrag nicht erfüllt oder ihre Forderungen nicht befriedigt seien, die Waffen gegen ihre bisherigen Kriegsherren zu kehren.[264]

Es liegt auf der Hand, daß eine Kriegsmacht dieses Charakters nicht entfernt an Kraft, Tüchtigkeit und Verwendbarkeit an das alte Legionenheer heranreichte. Auch wenn es einem Kaiser wie Constantin gelang, die Einheit und Autorität des Kaisertums, wie es schien, vollständig wiederherzustellen, so war es eben doch nur Schein, denn das feste Fundament der alten Zeit fehlte, die Disziplin in der Armee.

Bemerken wir beiläufig die unendliche Wichtigkeit dieser Abschwächung des römischen Imperiums für unser Geistesleben: um Ersatz zu finden für das, was jetzt in der Waffenmacht fehlte, schloß Constantin das Bündnis mit der großen Föderation der Bischöfe, der christlichen Kirche. Schwerlich oder besser gesagt, niemals hätte der römische Kaiser diese souveräne Macht neben sich zugelassen, wenn er noch in den Legionen die alte Stütze gehabt hätte, und die Legionen hätten ihm auch die starke Hand geliehen, diese so selbstbewußte wie selbständige neue Macht der Kirche zu unterdrücken. Daß die Kirche die Verfolgungen von Decius bis Diocletian siegreich überstand, verdankt sie ihren Märtyrern, nicht weniger aber der Schwäche des Staates, der über seine alte Waffenmacht nicht mehr verfügte.

Der Kirche wurde Raum, die alte Kultur ging zugrunde. Von der wirksamen Grenzmacht, die so lange den Limes gehütet, war nicht mehr die Rede. Die Germanen stürmten auch über den Rhein und über die Donau, fuhren auf ihren Schiffen vom Schwarzen Meer durch das ganze Mittelmeer bis in den Ozean, und nirgends vermochte man sich ihrer Raubeinfälle zu erwehren. Erbarmungslos schlachteten sie die Bevölkerung ab, die sie nicht mitschleppten in die Sklaverei. Noch heute kann man an mehr als 60 französischen Städten erkennen, wie sie damals niedergebrannt – unter Hohnlachen, wie die Römer von dem Alemannenkönig Chnodomar erzählten173 – und zerstört und eng zusammengepreßt wieder aufgebaut und mit Mauern umgeben worden sind. In den voraufgehenden friedlichen Jahrhunderten waren die Städte weiträumig und offen hinausgebaut, jetzt machte man die Straßen eng und den Umfang so klein wie möglich, um sich besser verteidigen[265] zu können. In den dicken Türmen und Mauern, die nun gebaut wurden und den Jahrtausenden widerstanden haben, bis die Spitzhacke des modernen Verkehrs oder der Altertumsforschung sie wieder gebrochen, haben sich die Trümmer der Säulen, Statuen, Friese, Gebälke gefunden, oft mit Inschriften, aus denen sich die Zeit der Errichtung feststellen ließ, noch mit erkennbaren Spuren des Brandes, den einst die Barbaren über ihnen entzündet. Weit draußen vor den Toren dieser Festungsstädte aber finden sich die Spuren der zerstörten Tempel und Amphitheater, aus deren Lage man den Umfang der ehemaligen offenen Städte noch erraten kann.174 Reicher an Menschen und an allen Mitteln der Kultur, als zu den Zeiten des Augustus, war das römische Reich zu schwach geworden, seine Zivilisation zu verteidigen, seit es seine wohldisziplinierten Legionen, das eigene stehende Heer verloren hatte, und vergeblich jammerte etwa ein patriotischer Rhetor wie Synesius zur Zeit Arkadius175: »Ehe man duldet, daß die Skythen (Goten) hier im Land in Waffen einhergehen, sollte man alles Volk zu Schwert und Lanze rufen – eine Schmach ist es, daß dieser menschenreiche Staat die Ehre des Krieges Fremden überläßt, deren Siege uns beschämen, selbst wo sie uns nützen – diese Bewaffneten werden unsere Herren spielen wollen, und alsdann werden wir Kampfunkundige mit Kampfgeübten zu kämpfen haben. Wieder erwecken müssen wir den alten Römersinn, unsere Schlachten selbst schlagen, mit Barbaren keine Gemeinschaft pflegen, sie aus allen Ämtern vertreiben, so zumal aus dem Senat: denn innerlich schämen sie sich doch nur dieser Würden, die uns Römern von je als die höchsten galten. Themis und Ares müssen sich verhüllen, sehen sie diese pelzstarrenden Barbaren über Männer im römischen Kriegskleid befehlen oder, ihr Schaffell ablegend, rasch die Toga umwerfen und so mit römischen Magistraten zusammen beraten und entscheiden die Dinge des römischen Reiches! Wenn sie den Ehrensitz einnehmen dicht neben dem Konsul, vor edlen[266] Römern, wenn sie, sobald sie die Kurie verlassen, wieder in ihre Wildschur schlüpfen, unter ihren Genossen die Toga verlachend, in der man, spotten sie, das Schwert nicht ziehen kann. Diese Barbaren, bisher brauchbare Diener unseres Hauses, wollen nun unsern Staat Beherrschen! Wehe, wenn ihre Heere und Führer sich empören und ihre zahlreichen Landsleute, die als Sklaven im ganzen Reich verbreitet sind, zu ihnen strömen.«

In eben dieser Stimmung machte sich jener weltfremde Literat und Antiquar, Flavius Vegetius Renatus, an die Arbeit, suchte und komponierte aus den alten Schriftstellern, was denn eigentlich früher die Römer für ein Heerwesen gehabt, worauf ihre Größe beruht, was für Kriegsregeln sie gefolgt, was man also wiederherstellen und sich zum Muster nehmen müsse, um das Reich zu retten und die alte Macht zu erneuern. Er schuf damit ein Buch, das durch die Jahrhunderte und Jahrtausende in den Händen der Kriegsmänner geblieben ist, aber untergehende Reiche können weder durch Reden noch durch Bücher mehr gerettet werden.

Die germanischen Söldnerscharen im römischen Dienst sind noch nicht diejenige Macht, die dem römischen Reich im Okzident ein Ende bereitet hat. Solche von der Heimat losgelöste Söldner assimilieren sich dem Staatswesen und dem Volkstum, dem sie dienen, oder wo sie fremd bleiben, sind sie doch ein zu unstetes, wurzelloses Element, um selber eine dauernde Herrschaft zu begründen. So gefährlich die empörten Söldner nach dem ersten punischen Kriege ihrer Herrenstadt Karthago geworden waren, endlich wurden sie doch überwunden, und Hannibal führte den zweiten punischen Krieg mit ganz ebensolchen Scharen. Was wir die Völkerwanderung nennen, mit allen ihren unermeßlichen Folgen, entspringt daraus, daß endlich nicht mehr bloß große Scharen von einzelnen Kriegern, sondern ganze Völkerschaften in den römischen Kriegsdienst traten, mit Weib und Kind und allem Besitztum auf römischem Boden erschienen und als germanisches Volk römisches Heer waren.

Der Kriegsdienst Einzelner wenn auch noch so vieler, und der Dienst eines ganzen Volkes, welches dabei seine soziale Struktur und seinen politischen Organismus beibehält, ist etwas sehr Verschiedenes.[267] Die Möglichkeit, daß dennoch das Eine in das Andere übergehen konnte, ergab sich aus dem Charakter des germanischen Volkes. Dieses Volk war so durchaus kriegerisch, so ausschließlich von kriegerischen Instinkten, Trieben und Leidenschaften beherrscht, daß es nicht bloß einen unerschöpflichen Werbeplatz darbot, sondern daß auch das ganze Volk, wie es bisher zu Nachbarkriegen ausgezogen war, in irgend einer fremden Form für irgend einen Zweck sich zu schlagen bereit war. Nicht, wie man wohl gemeint, weil die alten Gebiete die wachsende Menge nicht mehr zu fassen vermochten, sondern als Kriegsscharen, begierig nach Sold, Beute, Abenteuern und Würden, sind die Germanen in die Völkerwanderung eingetreten. Wohl mag in einezelnen Fällen Landnot zum Auszuge getrieben haben; im anderen war Bedrängnis durch anderweite Feinde der Anlaß. Das hätte jedoch beides nur zu einzelnen Stößen oder Grenzkriegen die Veranlassung gegeben. Das weltgeschichtlich entscheidende Moment ist, daß die germanischen Völkerschaften große Kriegergenossenschaften waren, die als solche auf Krieg, Sold, Beute, Herrschaft ausgingen. Nicht um Land zu suchen, Bauern zu werden und als Bauern zu leben, kamen sie ins römische Reich – oft ließen sie ihre Heimat leer hinter sich zurück –, sondern um der Kriegstaten willen, die sie tun wollten.

In dem Wechsel von Dienst und Feindschaft, Feindschaft und Dienst, der das Verhältnis zwischen Rom und den Germanen im dritten, vierten und fünften Jahrhundert charakterisiert, sind einige Grenzgebiete am Rhein und an der Donau, ebenso Britannien, im eigentlichen Sinne des Wortes von den Germanen erobert worden; die ansässige Bevölkerung wurde zwar nicht vollständig ausgetrieben, aber doch so weit reduziert und unterdrückt, daß die Reste von dem neuen Herrenvolk allmählich aufgesogen werden konnten. In Italien aber, dem Hauptteil von Gallien, Spanien, Afrika ist der Vorgang der, daß die germanischen Heerkönige als die tatsächlichen Inhaber der Gewalt sie auch rechtlich in die Hand nehmen, ohne ihre Provinzen gleich vollständig vom Reichskörper loszureißen. Selbst Odoaker regiert, nachdem er den weströmischen Kaiser in Rom beseitigt hat, Italien nicht als souveräner König, sondern als ein germanischer Fürst, den der oströmische[268] Kaiser für diesen Teil seines Reiches zu seinem Verweser bestellt hat, und in all seiner Machtfülle hat auch Theoderich der Große, der Ostgote, seine Stellung nicht anders aufgefaßt.176

Erst allmählich zerfiel und löste sich auch diese Form, diese Fiktion, und es entstanden die unabhängigen germanischen Königreiche auf römischem Boden in Gallien, Spanien, Afrika und Italien, die Reiche der West- und Ostgoten, der Burgunder, Franken, Vandalen.

Unter den zahlreichen Schlachten und Gefechten dieser Epoche sind im vierten Jahrhundert nur zwei, über die wir kriegsgeschichtlich verwertbare Informationen haben, Straßburg und Adrianopel. Von den Feldzügen Constantins des Großen, der Schlacht an der Milvischen Brücke177, und im fünften Jahrhundert von der Schlacht auf den Catalaunischen Gefilden habe ich mangels an Quellen nichts zu erzählen; erst im sechsten Jahrhundert von Belisar und Narses wissen wir wieder etwas Eingehenderes und Zuverlässiges.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 259-269.
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