7. Die Theorie R. Akibas und R. Ismaels.

[394] R. Akibas und R. Ismaels Theorie müssen gegeneinander gehalten werden, weil sie Korrelata sind, und eine auf die andere Licht wirft. Ihre Grunddifferenz, welche als Prinzip ihrer beiderseitigen Theorie angesehen werden kann, betrifft die Pleonasmen im biblischen Text. Nach R. Ismael sind sie nichts weiter als rhetorischer Sprachgebrauch, als syntaktischer Redeschmuck zu betrachten, wie jede Sprache deren hat; nach R. Akiba hingegen sind sie wesentliche Bestandteile der Gesetzesbestimmungen, welche Traditionen und Handhaben für neue Folgerungen sinnvoll andeuten, weil in der göttlichen Gesetzgebung gar nichts Überflüssiges stehe. Es ist dieselbe Ansicht, welche auch Philo betont: σαφῶς εἰδώς, ὅτι περιττὸν ὄνομα οὐδὲν τίϑƞσιν, ὑπὸ τῆς τοῠ πραγματολογεῖν ἀμυϑἠτου φορᾶς (de profugis M. 458). Nur was Philo auf ethische und philosophische Verhältnisse deutete, wendet R. Akiba [394] auf halachische Bestimmungen an. Jeruschalmi hat viele Belegstellen für diese Differenz zwischen R. Akiba und R. Ismael ריזהל רדג תונושל רמאד הביקע 'רכ ןודכ דע תוריזנכ תוריזנ ייונכש ןאכמ ןילופכ תונושל רמאד (ןישרוד ןיא) לאעמשי 'דכ (םרב) ןה ןייובר ףסכנ תכלה ךלה (םדא ינב ןושלכ) הכרדכ הרבד הרותהו ןה 'וכו תפסכנ (j. Nedarim I, 1 und an mehreren Stellen). So oft also, dem hebräischen Sprachgebrauch gemäß, die Konstruktion des definitum cum infinitivo vorkommt, ist nach R. Akibas Theorie der Infinitiv eine Andeutung. Da R. Akibas System im Talmud herrschend wurde, so werden solche Konstruktionen ohne weiteres תוברל gedeutet: ונטיבעה טבעד ,בישת בישה, nur noch ein dunkles Bewußtsein ist davon geblieben, daß diese Ansicht ihre Gegner hatte: רמאד ש"רלו? םדא ינב ןושלכ הרות הרבד ?יל המל ונטיבעת (vergl. Baba Mezia 31, a, b). [Vergl. die vielen Parallelstellen.] – Die nächste Konsequenz aus dieser Prämisse war, daß R. Akiba ebenso jede Partikel, wie jede dem Hebräischen eigentümliche Wort- und Silbenform (welche Hieronymus recht glücklich durch ἄρϑρα und πρόαρϑρα wiedergibt) für bedeutungsvoll hielt, während R. Ismael auch solche als reine Formsache erklärte. Ob die Partikeln תא, םג ,ךא und קר zu deuten seien, war eine alte Differenz zwischen Nachum aus Gimso und Nechunja ben Hakanah; der erstere bejahte, der letztere verneinte es. R. Akiba hielt sich an die erstere, R. Ismael an die letztere Theorie (vergl. Genesis Rabba, c. 1; Tosif. Schebuot, c. 1; Talmud Schebuot 26 a) ליבשב – הביקע 'ר תא לאש לאעמשי 'ר ןיתא ,ןיטועמ ןיקר ןיכא םינש ב"כ וזמג שיא םוחנ תא תשמשש היה אל הביקע 'רש – ?אוה המ אכה ביתכד תא ןידה ןייובר ןימגו שיא םוחנמ דמל ךכש ןיטועמו ןייובר שרוד היהו טרפו ללכ שרוד ןייובר שרוד היה אל (לאעמשי 'ר ל"צ) ןועמש 'רש – וזמג ןיטועימו. Der Unterschied zwischen טרפו ללכ und יובר טועמו ist, vom Resultate abgesehen, kein bloß formeller, sondern ein wesentlicher, indem nach jenem die Deutung auf wenige Fälle beschränkt wird, nach diesem hingegen erhält sie eine weite Ausdehnung, namentlich in betreff der Partikel תא, welche so unzähligemal vorkommt. Allein R. Akiba ging noch weiter als sein Vorbild Nachum aus Gimso, indem er diese Partikel niemals als Kasuszeichen, sondern stets als Andeutung angesehen haben wollte: ןיתא לכ שרוד היה הרותבש.13 Diese Konsequenz machte seinen Schüler14 Nehemia aus Emmaus in betreff der Anwendung auf den Vers: ארית ךיהלא 'ה תא so stutzig, daß er sich von dieser Theorie losgesagt hat. R. Akiba hatte aber dafür eine Auskunft: ותרות תאו ותוא (in Babli תוברל םימכח ידימלת). Im schärfsten Gegensatze zu R. Akiba ließ R. Ismael diesem Formworte [395] seine grammatische Bedeutung und nur in drei Fällen faßte er es in geringer Umdeutung als Reflexivum: םיתא השלשמ תחא הז םה – המשא ןוע םתיא ואישהו הרותב שרוד לאעמשי 'ר היהש ףא ומצע תא רבק אוה – איגב ותוא רובקיו .םמצע תא םיאישמ ומצע תא איבי אוה ותוא רמוא התא ןאכ (Sifri zu Numeri 6, 13). – Außer den vier genannten Partikeln deutete R. Akiba auch das so häufig vorkommende Einleitungswort רומאל und öffnete dadurch der Deutung ein weites Feld: ךירצ רומאל הב רמאנש םוקמ לכ רמוא הביקע 'ר שרדיל (Sifri zu N. 5, 6). Er deutete endlich die Laute ה und ו, so oft sie im Kontexte pleonastisch scheinen: יכו לאעמשי 'ר ל"א .שרוד ינא תבו תב יחא לאעמשי ע"ר רמא ?הפירשל וז תא איצונ תבו תב שרוד התאש ינפמ (Synhedrin 51 b) ןיזו שירדד אביקע 'רכ (Jebamot 58 b ff.). Eine weitere Differenz zwischen ihrer entgegengesetzten Theorie war, daß R. Ismael die nicht in der Schrift ausdrücklich angegebenen, sondern lediglich aus Schlußfolgerungen und Deutungen gewonnenen Halachas nicht wiederum als Prämissen zu neuen Folgerungen gebrauchen mochte, während R. Akiba auch aus Derivaten weiter folgerte: ןמ דמל היל תיאד אביקע 'רכ ןודכ דע דמלה ןמ דמל היל תילד לאעמשי 'רכ (םרב) דמלה (j Kidduschin I, 2). Vergl. Nasir 57 a, wo R. Akiba aus einer Halacha eine Schlußfolgerung formuliert: ןמ ו"ק ןינד הכלה. Es scheint, daß R. Akiba seine Theorie so weit auf die Spitze getrieben hat, gefolgerten Halachas auch soviel Gewißheit einzuräumen, daß sogar Leibesstrafe dadurch verhängt werden dürfe. Denn jener Grundsatz: ןידה ןמ ןישנוע ןיא, hat nur R. Ismael zum Urheber (j. Abodah Sara Ende): ןידמל רמא לאעמשי 'רד ו"קמ ןישנוע ןיאו ו"קמ, woraus eben hervorgeht, daß R. Akiba ein Gegner desselben war. Wir dürfen demnach ohne Bedenken annehmen, daß auch jene Herleitungsformeln, welche unter dem Namen: שרדנ ארקמ ,ןיכומס 'וכו ןאכל ןינע וניא םא ,ןישרודו ןיפיסומו ןיערוג ,וירחאלו וינפל von dem einen oder dem anderen der Jünger R. Akibas geltend gemacht werden, ebenfalls Konsequenzen aus dem von R. Akiba aufgestellten Prinzipe sind, daß im Schrifttexte gar nichts Überflüssiges sei, und jeder Wink beachtet werden müsse. Gegen diese exorbitante Interpretation R. Akibas scheint R. Ismael, dessen nüchterne Ansichten wir bereits kennen gelernt, seine Theorie aufgestellt zu haben, daß es nur dreizehn Interpretationsregeln gebe. Diese dreizehn Midot sind bis auf הוש הריזג so ziemlich logischer Natur, und man könnte daher R. Ismaels System das logische, R. Akibas gewissermaßen das allegorische15 nennen. R. Ismael scheint übrigens seine Theorie mit vieler Vorsicht begründet zu haben, indem er selbst für die am meisten einleuchtende Formel des ו"ק einen biblischen Anhaltepunkt sucht: ןה םיבותכה םירומחו םילק הרשעמ דחא הז לאעמשי 'ר רמא ףסכ הרותב (Genesis Rabba, c. 92). Jalkut hat dafür die gewiß unrichtige Lesart ןועמש 'ר). – Daß R. Ismaels dreizehn Regeln eine Entwicklung aus den Hillelschen 7 Midot sind, wird gegenwärtig nur von Stockorthodoxen geleugnet, die einen Sturm gegen diese scheinbar heterodoxe Ansicht erhoben haben; vergl. Frankel, Hodegetik zur Mischna, p. 19. Diese dreizehn Midot sind: 1. ו"ק, 2. ש"ג, 3. דחא בותכמ בא ןינב, 4. םיבותכ 'במ א"ב, 5. טרפו ללכ, 6. רחא םוקממ וב אצויכ, 7. ונינעמ דמלה רבד (Eingang zu Torat Kohanim Tosifta Synhedrin, c. 7. Abot di R. Nathan, c. 37). Sie hat R. Ismael teils zusammengezogen, teils erweitert, teils neue zu denselben hinzugefügt, 3., 4. und 6. machen in R. Ismaels System eine einzige Regel aus, indem 'א בותכמ בא ןינב = וניצמ המ = וב אצויכ gesetzt wird. Hingegen hat derselbe die Midah 5 in acht Unterabteilungen gebracht, d.h. sie spezifiziert [396] a) טרפ וירחאש ללכ, b) ללכ וירחאש טרפ, c) ללכו טרפו ללכ, d) טרפל ךירצה ללכ ללכל ךירצה טרפו, e) ללכה ןמ אציש רבד f) ןועטל אציש טרפ ונינעב רחא ןעוט, g) ונינעב אלש אציש טרפ ..., h) אציש טרפו שדחה רבדב ןודיל. Zu 7. hat er hinzugefügt דמלה רבד ופוסמ, und die dreizehnte Midah R. Ismaels 'יבותכ 'ב םישיחכמה kommt in Hillels Schema gar nicht vor. So sind aus Hillels Midot, als dem Keime, durch die Midot der Schulen Nachums aus Gimso und Nechunjas ben Hakanah, R. Akibas und R. Ismaels zwei Interpretationssysteme hervorgewachsen, welche, obwohl differierend, nebeneinander herliefen, ohne einander zu verdrängen. Vergl. darüber noch Frankel, a.a.O., p. 108.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 394-397.
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