4. Kapitel.

[62] Inneres Leben der Juden. Wirkungskreis des Synhedrions und des Patriarchen. Der Orden der Genossen und der sittliche Zustand des Landvolkes.


Das jamnensische Synhedrion war das Herz der jüdischen Nation geworden, von hier aus strömte Leben und Regsamkeit bis in die entferntesten Gemeinden, von ihm mußte jede Einrichtung und religiöse Bestimmung ausgehen, wenn sie auf Anklang und Heilighaltung rechnen wollte. Das Volk betrachtete den Bestand des Synhedrions als einen Rest des Staates und zollte dem Vorsitzenden desselben (Naßi), der aus dem Hillelschen Hause von dem königlichen Blute Davids war, eine fürstliche Verehrung und Huldigung. Die griechische Benennung Ethnarch weist darauf hin, daß mit dem Patriarchat eine fürstliche Würde verbunden war.1 Der Naßi war Volksfürst und seine Würde kam dem königlichen Range nahe. Selbst der gewöhnliche Titel Patriarch schließt eine oberherrliche Funktion ein. Darum war man auf das Hillelsche Haus so stolz, weil durch dessen Glieder die Fürstenwürde in dem Hause Davids erhalten wurde, und somit die Prophezeihung des Erzvaters Jakob sich noch immer bewährte, daß »das Zepter nicht weichen werde vom Stamme Juda«.2 Nächst dem Patriarchen standen dessen Stellvertreter (Ab-bet-din) und der Chacham (der Weise) oder der Sprecher bei den Synhedrialsitzungen; indessen ist deren eigentlicher Wirkungskreis noch nicht genau ermittelt.3 Der Patriarch hatte im Innern die Befugnis, Richter- und Gemeindeämter zu besetzen4 und wahrscheinlich den Gang derselben zu überwachen. So weit hatte sich die römische Herrschaft noch nicht in die innern Angelegenheiten der Juden gemischt, um die Gerichtsbarkeit durch römische Beamten ausüben zu lassen, – Die Autorität [62] des Patriarchen ließ jedoch den Vorstehern eigener Lehrhäuser die Selbständigkeit ungeschmälert, ihren Jüngern die Würdigkeit als Richter und Volkslehrer zuzusprechen, und es bedurfte hierzu nicht der Bestätigung des Patriarchen.5 Die Erteilung dieser Würde an die Jünger geschah auf eine feierliche Weise. Der Meister legte im Beisein zweier Mitglieder die Hand auf das Haupt seiner erkorenen Schüler, ohne dabei an ein Hinüberleiten und Mitteilen des Geistes zu denken, wie etwa bei den Prophetenjüngern. Es war weiter nichts als eine Anerkennung, daß der Geweihte würdig befunden worden, gewisse Ämter übernehmen zu können; die Tüchtigkeit war vorher erprobt. Jedermann durfte zwar als Schiedsrichter in gewöhnlichen Prozeßfällen über Mein und Dein von den Parteien vorgeschlagen werden, allein bei gewissen Rechtsfällen, bei denen durchaus ein ordentliches Gerichtskollegium erforderlich war, durften nur geweihte oder ordinierte Personen fungieren. Der Akt der Weihe und des Händeauflegens hieß Semicha, auch Minuj6 und bedeutete so viel wie Ernennung, Ordination oder Promotion. Der Ordinierte führte den Titel Saken (Alter), welches beinahe dem Titel Senator entspricht; denn durch die Weihe erlangten sie auch die Befugnis, Mitglieder des hohen Rates zu werden, wenn die Wahl auf sie fiel. Die Ordinierten pflegten an dem Ehrentage, an dem sie diese Rangerhöhung empfingen, ein eigenes Feierkleid zu tragen.7

Die Hauptwirksamkeit hatte der Patriarch in den feierlichen öffentlichen Sitzungen des Synhedrions. Er nahm den höchsten Sitz ein, umgeben von den angesehensten Mitgliedern, welche vor ihm in einem Halbkreise saßen. Hinter den Mitgliedern saßen in mehrern Reihen die Ordinierten, hinter diesen wieder standen die Jünger, und ganz zuletzt lagerte das Volk als Zuhörer auf der Erde. Der Patriarch eröffnete die Sitzung entweder in der Art, daß er selbst einen Gegenstand aus dem Gesetzeskreise zur Verhandlung brachte oder daß er die Mitglieder durch die Formel »fraget« zum Sprechen aufforderte. Trug er selbst vor, so teilte er dem neben ihm stehenden Sprecher (Meturgeman) einzelne Sätze leise mit, welcher dieselben in rednerischer Weise zu entwickeln und zu erläutern hatte. Bei den Fragen von den Teilnehmern bestand eine Art Geschäftsordnung, welche die Weise und den Umfang derselben, wie sie gestellt und zur Verhandlung gebracht werden sollten, [63] regelte. Jedermann stand das Recht zu, Fragen aufzuwerfen, selbst den Zuhörern aus der Volksklasse. War eine Verhandlung eingeleitet, so teilte sich die Versammlung in einzelne Gruppen, welche den Gegenstand durch die Debatte erörterten. Dem Vorsitzenden stand aber zu jeder Zeit das Recht zu, die Debatte zu schließen; er pflegte dann den Schluß mit den Worten zu fordern: »Der Gegenstand ist hinlänglich erörtert.« Nach dem Schlusse durfte niemand auf die theoretische Erörterung zurückkommen. Hierauf ging die Versammlung an die Abstimmung über die verhandelte Frage. Es scheint, daß auch den ordinierten Beisitzern das Stimmrecht eingeräumt war. Die Abstimmung geschah nach der Reihenfolge und zwar in den meisten Fällen von dem Vorsitzenden angefangen bis zum jüngsten Mitgliede; nur bei Verhandlungen, die peinliche Fälle betrafen, war die Ordnung üblich, vom Jüngsten anzufangen, damit die Unselbständigen sich von dem abgegebenen Urteile der angesehenen Mitglieder nicht bestechen lassen sollten.8 Solchergestalt war das Verfahren in den Synhedrialsitzungen, wenn von außen eingelaufene Anfragen zu beantworten, streitige Gesetzesbestimmungen zu ermitteln, neue Verordnungen einzuführen oder bereits bestehende aufzuheben waren.

Eine wichtige Funktion hatte der Patriarch ferner bei der Bestimmung der Festzeiten. Das jüdische Kalenderwesen war weder fest, noch fortlaufend, sondern mußte von Zeit zu Zeit reguliert werden. Das Jahr war nämlich ein zusammengesetztes, weil die Festzeit im Gesetze einmal von der Umlaufszeit des Mondes und ein andermal von dem Einfluß der Sonne auf die Ernte abhängig gemacht wird; die beiden verschiedenen Zeitläufe des Sonnen- und Mondjahres mußten demnach ausgeglichen werden. So oft der Überschuß des Sonnenjahres ungefähr einen Monat betrug in Zwischenräumen von zwei oder drei Jahren, schaltete man diesen Monat ein, und das Schaltjahr zählte dreizehn Mondmonate. Die Einschaltung (Ibbur) scheint auf annähernden Berechnungen der Umlaufszeiten der Sonne und des Mondes beruht zu haben, wie sie sich im Patriarchenhause durch Überlieferung erhalten hatten.9 Außerdem nahm man auf gewisse Anzeichen bei dem Eintritt des Frühlings in die Natur, oder dem Stande der Ähren Rücksicht. – Die Dauer der Monate war eben so wenig bestimmt, oder nach [64] einem willkürlichen Übereinkommen fixiert. Der Anfang eines Monats sollte nach der Tradition womöglich mit dem ersten Sichtbarwerden des neuen Mondes zusammentreffen, das bis dahin aus der unmittelbaren Wahrnehmung ermittelt wurde. Sobald nämlich Zeugen vor dem Synhedrion aussagten, den ersten Streifen des jungen Mondes wahrgenommen zu haben, so wurde dieser Tag als der erste des Monats eingesetzt, wenn nämlich dieses Zeugnis mit der Berechnung stimmte. Fanden sich keine Zeugen ein, so gehörte der in Zweifel schwebende Tag noch zum laufenden Monate; die Monate zählten demnach bald 29, bald 30 Tage. R. Gamaliel zog aber die astronomische Berechnung von der Dauer des Mondumlaufes hinzu, ja scheint darauf mehr Gewicht als auf Zeugenaussagen gelegt zu haben. Bei den meisten Monaten des Jahres hatte nach der Zerstörung des Tempels die Festsetzung des Neumondes keine Wichtigkeit und erforderte keineswegs die Mitwirkung des Patriarchen. Anders verhielt es sich aber mit dem Herbstmonate Tischri und dem Frühlingsmonate Nissan, von denen der Beginn der wichtigsten Feiertage abhing. Die Bestimmung derselben, sowie die noch wichtigere Einschaltung eines Monats gehörten durchaus zu den Funktionen des Patriarchen und durften ohne dessen Anordnung oder nachträgliche Bestätigung nicht eingeführt werden. Damit die Festzeiten in der jüdischen Gesamtheit an demselben Tage gefeiert würden und in dieser Beziehung keine Spaltung herrsche, hatte sich R. Gamaliel II. als Patriarch die Vollmacht beigelegt, ganz allein darüber verfügen zu dürfen. Sein Kollegium erkannte halb überzeugt und halb notgedrungen seine Festanordnungen selbst in dem Falle als gesetzeskräftig an, wenn er sich irgendwie geirrt, oder sie im Widerspruche mit der Wahrnehmung getroffen hätte.10 – Der Neumond wurde in feierlicher Weise eingesetzt und davon dem ganzen Lande und auch den babylonischen Gemeinden, auf welche man ganz besondere Rücksicht nahm, Kunde gegeben. Die Kundmachung geschah durch Feuerzeichen von Station zu Station, was in dem gebirgigen Lande leicht auszuführen war. Auf dem Ölberge schwang man lodernde Fackeln; sowie dieses auf der nächsten, sechs geographische Meilen entfernten Station, der Bergspitze Sartaba11 bemerkt wurde, wiederholte man von da aus dasselbe Zeichen für die andern Stationen, auf Grupina (Agrippina, Gilboa?), den auranitischen Gebirgen, der Hügelreihe jenseits des Jordans von Machärus bis Gadara und so fort bis Bet-Beltin an [65] der babylonischen Grenze.12 An dem zweifelhaften Tage zwischen dem alten und neuen Monate sahen die zunächst wohnenden babylonischen Gemeinden den Feuerzeichen entgegen und wiederholten sie, so wie sie die Feuerscheine erblickten, für die entfernter Wohnenden. So erfuhren die Gemeinden in der Euphratgegend (die Golah) zu gleicher Zeit den Neumondstag und konnten mit dem Mutterlande gleich die Feste feiern. Anders verhielt es sich mit den Gemeinden in Ägypten, Kleinasien und Griechenland (die Diaspora), wo die Feuerzeichen nicht anwendbar waren; diese blieben stets über die Neumondstage im Zweifel und hatten deswegen von jeher den Brauch, zweifelshalber anstatt eines zwei Festtage zu feiern. – Die Einsetzung eines Schaltmonats zeigte der Patriarch den Gemeinden durch Sendbriefe an. Er pflegte auch dabei die Gründe anzugeben, welche die Einschaltung notwendig gemacht haben, um dem Verdachte des willkürlichen Verfahrens von vornherein zu begegnen.13

Vom Patriarchen R. Gamaliel ging endlich die Einführung festgesetzter Gebetformeln aus. Einige Gebetstücke waren uralt schon im Tempel neben dem Opfer im Gebrauche und wurden von der Tradition mit Recht auf die Männer der großen Versammlung zurückgeführt. So das Rezitieren des Einheitsbekenntnisses aus dem Pentateuch (Schema mit vorangegangener Lobpreisung Gottes für das täglich gespendete Sonnenlicht und für die Liebe zu seinem Volke) ferner sechs Benedeiungen an Werkeltagen und sieben an den Sabbaten und Feiertagen. Diese Teile waren fest formuliert; sonst blieb es dem Gemüte überlassen, welche Gebete es an den Himmel richten, und in welchen Worten es seine Gefühle äußern wollte. R. Gamaliel ließ zuerst für das tägliche Gebet die sogenannten achtzehn Benedeiungen (Berachot, Eulogien) ein für allemal abschließen, welche bis auf den heutigen Tag in den Synagogen eingeführt sind; die Fassung derselben arbeitete Simon im Auftrage des Patriarchen aus.14 Damit scheinen jedoch nicht alle Gesetzeslehrer einverstanden gewesen zu sein; wenigstens von R. Elieser wird berichtet, er habe gegen die Anordnung fester Gebete die Bemerkung gemacht, wer nach einem vorgeschriebenen Muster bete, dessen Gebet ströme nicht aus dem Herzen.15 Von einer Gebetformel gegen die Judenchristen, ebenfalls von R. Gamaliel angeordnet, wird später die Rede sein. – Im allgemeinen galt das [66] Gebet als Ersatz des Opfers und man nannte es geradezu »den Opferdienst des Herzens.« Man bezog die Stelle des letzten Propheten Maleachi: »Überall werde Gott Opfer und Weihrauch als reines Geschenk dargebracht,« auf die in der Zerstreuung zu Gott aufsteigenden Gebete.16 Der öffentliche Gottesdienst hatte eine ganz einfache Form; bestimmte Vorbeter gab es nicht. Jeder, der nur das erforderliche Alter und die Unbescholtenheit des Rufes hatte, durfte vorbeten; die Gemeinde forderte dazu auf, und der Vorbeter hieß aus diesem Umstande »der Bote der Gemeinde« (Scheliach Zibbur). Derselbe stand vor der heiligen Lade, in welcher die Gesetzesrolle lag, und der Ausdruck für vorbeten war »vor die Lade treten« oder »vor die Lade hinuntergehen« denn sie stand in einer Vertiefung.17

Das religiöse Leben wurde in dieser Weise vom Synhedrion und dem Patriarchat allseitig geregelt; die Zerstörung des Tempels hatte innerhalb des jüdischen Volkskörpers keine solche Lücke gelassen, wie sich diejenigen vorstellten, welche außerhalb desselben standen. Gebet, Beschäftigung mit der Lehre und Mildtätigkeit ersetzten das Opferwesen. Bis auf den Opferkultus wurde das ganze Gesetz aufs Strengste beobachtet. Man gab den Aroniden den Zehnten und die übrigen Priestergaben, man ließ nach wie vor die Ecken des Feldes für die Armen stehen und händigte ihnen jedes dritte Jahr den Armenzehnten ein. Sämtliche Gesetzesbestimmungen, welche sich auf die Heiligkeit des Bodens von Judäa und teilweise auch von Syrien bezogen, blieben in Kraft. Man beobachtete das Erlaßjahr, insoweit es sich auf den Anbau der Felder und halb und halb auf den Verfall der schwebenden Schulden erstreckte. Kurz, man betrachtete das jüdische Staatswesen, wenn auch für den Augenblick gebrochen, noch als fortbestehend. Aus diesem Grunde wurden Vorkehrungen getroffen, daß die Ländereien Judäas nicht auf heidnische Eigentümer dauernd übergehen, und wenn veräußert, nicht in ihrem Besitze bleiben sollten.18 – In Erinnerung an den Tempel, dessen Wiederherstellung in nächster Zukunft die süßesten Hoffnungen erweckte, behielt man manche Bräuche bei, welche nur in jener Stätte Sinn und Bedeutung hatten.19 Am ersten Abend des Festes, an welchem früher das Passahlamm genossen wurde, feierte man in Ermangelung desselben das Andenken an die Befreiung aus Ägypten mit entsprechenden Symbolen. Vorherrschend war eine trauernde düstere Stimmung um den Untergang des Staates [67] und die Einäscherung des Tempels. Die Volkslehrer legten aus Herz: »Wer um Jerusalem Trauer anlegt, wird die Wiederherstellung des Glanzes erleben.« Es wurden daher verschiedene Trauerzeichen eingeführt. Beim Übertünchen eines Hauses mit Kalk wurde eine Stelle unangestrichen gelassen; das weibliche Geschlecht sollte nicht allen Schmuck anlegen, sondern manches vermissen lassen »zur Erinnerung an Jerusalem.« Der Bräutigam durfte am Hochzeitstage nicht den üblichen Kranz tragen, und auch die Musik auf einem eigenen Instrumente (Irus, Iris?) blieb weg. Am meisten äußerte sich die Trauer um Jerusalem in Fasten. Die vier Fasttage, welche die nach Babylonien verbannten Judäer nach dem Fall des ersten Tempels sich freiwillig auferlegt hatten, wurden nach dem Falle des zweiten wieder eingeführt; am neunten Ab, am siebzehnten Tammus (statt des neunten), dann im siebenten und zehnten Monat (Tischri und Tebet). Außerdem fasteten die Frommen in jeder Woche zwei Tage, am Montag und Donnerstag;20 die Überfrommen scheinen gar täglich gefastet zu haben.21 Nur an den aus der glücklichen Zeit stammenden Gedenk- und Siegestagen (Jeme Megillat Taanit) durfte nicht gefastet werden. Diese Erinnerungen an die Errettung aus großen Nöten sollten dem Gedächtnis des Volkes nicht verwischt werden.

Mit der Tempelzerstörung hörten die levitischen Reinheitsgesetze nicht ganz auf, sie hatten in der religiösen Entwicklung einen zu breiten Boden gewonnen. Die Frommen schickten sich zum täglichen Genusse mit derselben Sorgfalt an, wie für den Genuß des Zehnten, der Priesterhebe oder des Opferfleisches. Man hütete sich vor jeder Berührung mit Personen und Sachen, welche gesetzlich eine verunreinigende Wirkung hervorzubringen geeignet waren, und bediente sich nur solcher Gewänder und Gerätschaften, die unter der Beobachtung [68] der Reinheitsgesetze angefertigt waren. Alle diejenigen, welche in dieser Strenge lebten und von den Früchten, die sie besaßen oder gekauft hatten, den Zehnten regelmäßig abschieden, bildeten eine Art von Orden (Chaburah)22, dessen Ursprung bis hinauf in die Zeit der Parteiungen zwischen Pharisäern und Sadduzäern reichte.23 Dieser Orden scheint auch einen politischen Hintergrund gehabt zu haben; die Mitglieder desselben hießen Genossen (Chaberim). Wer als Mitglied aufgenommen werden wollte, mußte öffentlich vor drei Mitgliedern versprechen, sich den Regeln des Ordens zu unterwerfen. Verging sich ein Mitglied gegen die Regeln, so wurde es ausgewiesen; ausgestoßen wurden ferner diejenigen, welche den römischen Behörden als Zöllner oder Steuereintreiber Vorschub leisteten; die Zöllner, als Werkzeuge der römischen Tyrannei, waren noch immer der verachtetste Stand.

Im Gegensatz zu dem Orden der Genossen stand das Landvolk, der Sklave der Scholle; jene bildeten gewissermaßen die jüdischen Patrizier, dieses machte die Klasse der Plebejer aus. Von der geistigen und sittlichen Verwahrlosung des Landvolkes in dieser Zeit entwerfen die Quellen eine grelle Schilderung; wahrscheinlich haben die häufigen Aufstände in den letzten Jahren des jüdischen Staates und der lange Revolutionskrieg zu dessen Verwilderung und Entsittlichung beigetragen. Die Landbewohner sollen im Handel und Wandel ohne Redlichkeit, in dem Eheleben ohne Zartsinn, in dem Umgange mit andern ohne Ehrgefühl und Achtung des Menschenlebens gewesen sein. Von den jüdischen Gesetzen beobachteten sie nur dasjenige, was ihrem rohen Sinne zusagte, und von dem geistigen Leben waren sie kaum angehaucht. Zwischen dieser ungeschlachten Masse und dem gebildeteren Stande entstand daher eine tiefe Kluft und erzeugte sich ein gegenseitiger Haß. Die Ordensmitglieder durften mit Landbewohnern weder zusammen speisen, noch zusammen leben, sie scheuten sich vor deren Berührung, um nicht von ihren Gewändern verunreinigt zu werden. Heiraten zwischen beiden Ständen waren eine Seltenheit; man betrachtete von Seiten der Genossen eine solche Mischehe als eine Entwürdigung. Zeitgenossen berichten, daß der Haß zwischen diesen Patriziern und Plebejern noch größer gewesen sei, als zwischen Juden und Heiden. »Wenn sie uns nicht zum Geschäftsverkehr brauchten,« sagte R. Elieser, »so würden sie uns meuchlings überfallen.« R. Akiba, welcher aus der niedern Klasse hervorgegangen war, gestand selbst, daß er sich früher wünschte, einen aus dem höhern Stande allein zu treffen, um ihm den Garaus zu [69] machen. Die Genossen trugen ihrerseits dazu bei, den Haß anzuschüren, anstatt ihn durch Erhebung des Landvolkes zu sich zu dämpfen. Sie mieden nicht nur jeden Umgang mit den Personen der niedrigen Klasse, sondern ließen sie zu keiner Zeugenaussage, keiner Vormundschaft, keinem Gemeindeamte zu; man warnte einander mit jenen auf Reisen zu gehen, weil man sie für Meuchelmörder hielt.24

So von dem Umgange mit der edlen Klasse zurückgewiesen, von der Beteiligung am Gemeindeleben ausgeschlossen, jedes Mittels zum Aufschwunge beraubt, und sich selbst ohne Führer und Ratgeber überlassen, unterlag das Landvolk dem Einflusse des minder strengen jungen Christentums. Jesus und seine Jünger hatten sich ganz vorzüglich an diese verwahrloste Volksschicht gewendet und hier die meisten Anhänger gefunden. Wie wenig man auch von dem allmählichen Wachstum des Christentums kennt, so ist die Tatsache über alle Zweifel gewiß, daß es sich aus dem verachteten Stande der Sünder (Gesetzesübertreter) und Zöllner ergänzte, aus »den verlorenen Schafen oder dem verlorenen Sohne des Hauses Israel«25 (in der bildlichen Sprache jener Zeit), aus den Fischern und Bauern Galiläas, die von den damaligen Leitern des Judentums außer acht gelassen wurden. Wie sehr mußte es den vom Gesetze Vergessenen und Verstoßenen schmeicheln, wenn die christlichen Sendboten sie geradezu in ihrem niedrigen Kreise aufsuchten, mit ihnen aßen und tranken und ihnen versicherten, nur ihretwegen sei der Messias gekommen und hingerichtet worden, damit auch sie der Güter, deren sie bisher beraubt waren, und ganz besonders der Glückseligkeit in einer besseren Welt teilhaftig werden! Das Gesetz hatte ihnen die nächsten Rechte versagt und das Christentum öffnete ihnen das Himmelreich; sie konnten daher in der Wahl nicht schwanken, wohin sie sich neigen sollten. Die Gesetzeslehrer, vertieft in den Eifer, die Lehre und das jüdische Leben zu erhalten, übersahen in ihrer Höhe ein Element, aus dem für eben diese Lehre ein mächtiger Gegner erwachsen könnte. Ehe sie es sich versahen, stand auf ihrem eigenen Grund und Boden ein Feind da, welcher Miene machte, sich in den Besitz des geistigen Eigentums zu setzen, das sie mit so viel hingebender Treue zu überwachen sich berufen fühlten. Die Entwickelung des Christentums, als eines Sprosses des Judentums, an dessen Wurzeln es sich genährt hatte, bildet namentlich solange seine Anhänger noch zum jüdischen Verbande gehörten, einen Teil der jüdischen Geschichte.


Fußnoten

1 Origenes, epist. ad Africanum, edit. de la Rue 28.


2 Das., de principiis IV, s. Synhedrin, 5 a.


3 [Wie ich von Herrn Seminarrabbiner Dr. Levy hörte, bedeutet םכח überhaupt jeden Leiter eines Lehrhauses].


4 Horajot 10 a. Sifri debarim 16.


5 [Es war nicht immer gleich, Jer. Synh. 19 a].


6 Synhedrin 13 b f., Jerus., das. I, 3.


7 Pesikta Parascha 10, p. 17 b. Leviticus Rabba, c. 2, p. 167 b. vergl. M. Sachs, Beiträge zur Sprach- und Altertumsforschung I, S. 87.


8 Die interessante Geschäftsordnung über die Debatten und Abstimmungen im Synhedrin befindet sich in Tosifta Synhedrin, c. VII u. Babli Synhedrin, 32 a u. 36 b. [Vergl. Schürer, Geschichte des jüd. Volkes, 3. Aufl., Bd. II, S. 188. Zu der dort angegebenen Literatur ist neu hinzugekommen, Büchler, das Synhedrion in Jerusalem, Wien, 1902].


9 Rosch ha-Schanah 24 a. Vergl. Bikkure Haitim, 12. Jahrg., 44 ff.

10 Das.


11 Jetzt Kurn Saturbeh, nicht weit vom Jordanufer; siehe den betreffenden Artikel in Robinsons Palästina.


12 Rosch ha-Schanah, 22 b und Tosifta zur Stelle, an der ersten Stelle muß רדגו דייכו םירח emendiert werden in רדגו רווכמ ירה d.h. die Berge von Machärus bis Gadara.


13 Synhedrin 11, a, f. S. Traktat Soferim, c 19; Exodus Rabba, c. 15.


14 Megilla 17, b, f. Berachot 28, b.


15 Das.


16 Justin. Dialog. cum Tryph., c. 117.


17 Kommt sehr oft in der talmudischen Literatur vor.


18 Gittin 47 a, 8 b.


19 Pesachim Mischnah, Ende.


20 Über die Trauerzeichen und Fasttage Sota Ende, besonders Tosifta Sota Ende, Baba Batra, p. 60 b, Taanit Ende und Parallelstellen. Für das pflichtmäßige Fasten am Montag und Donnerstag weiß ich nur zwei spätere Quellen anzuführen, die aber jedenfalls aus älteren geschöpft haben. Die eine Halachot Gedolot von Simon Kahira (Abschnitt תוינעתו באב 'ט), nach dem daselbst besondere Fasttage aufgezählt sind, heißt es weiter: ינשב ןינעתמ והיש וניתובר ורזג רועו םשה תפרח לעו הפרשנש הרותה לעו תיבה ןברח לע ישימחבו. Die andere Quelle ist das sogen. Josephi Hypomnesticon (c. 145, bei Fabricius, Codex pseudepigraphus, alt. Test., II): Es ist ein Frag- und Antwortspiel: Διὰ τί οἱ Ἰουδαῖοι τὴν δευτέραν τῶν Σαββάτων καὶ τὴν πέμπτƞν νƞστεύουσιν; die Antwort lautet eigentümlich: Am Montag fasten sie, weil der Tempel von Nebuchadnezar verbrannt, und am Donnerstag, weil er zum zweiten Male von Titus zerstört worden. Πενϑοῠσι γὰρ ἐπὶ τῇ ἐμπρἠσει τοῠ ναοῠ κατὰ ταύτας τὰς δ$ο κατὰ πᾶν Σάββατον ἡμέρας, καὶ διὰ τοῠτο νƞοτεύουσι.


21 Folgt aus dem Buche Judith 8, 6, vergl. darüber Note 14.


22 Tosifta Demai, c. 3 und 4. Bechorot 30 b., f.


23 Siehe Frankels Zeitschrift, Jahrgang 1846, S. 451 ff.


24 Pesachim 49 b.


25 Lucas XV, 1, ff. Matthaeus IX, 10. Marcus II, 15.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 71.
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