14. Der Pseudomessias Serene.

[457] Das antitalmudische Schisma des Karäismus tritt nach den vorhandenen Quellen plötzlich und gewissermaßen unvorbereitet auf. Da eine solche Plötzlichkeit in der Geschichte ebenso unmöglich ist wie in der Natur, sondern jeder lauten Erscheinung stille, unsichtbare Vorbereitungen vorangehen, so haben sich Forscher bemüht, antitalmudische Bewegungen vor Anan aufzufinden. Es ist ihnen aber mißlungen, weil sie ohne rechte Quellenkenntnis und ohne kritischen Sinn an die Arbeit gingen. Sie haben den Katalog der jüdischen Sekten zur Lösung des Problems herangezogen, ohne zu bedenken, daß sämtliche Sekten bis auf eine einzige nachananitisch sind82. Die vorananitische jüdische Häresie haben sie so unkritisch angeschaut, daß sie deren Antezedenz nicht einmal wahrgenommen haben. Reiche, authentische Quellen bezeugen aber unzweideutig, daß zweimal vor Anan antitalmudische Bewegungen vorgegangen waren, die eine 40, die andere 10-15 Jahre vor der Entstehung des Karäismus, beide aber mit messianischem Apparate. Die erste derselben wollen wir hier nach den Quellen inhaltlich und chronologisch beleuchten.

In einem gaonäischen Responsum kommt folgendes vor. Ein Irrlehrer war aufgetreten, der sich für den Messias ausgab, und fand Anhänger. Diese waren in Ketzerei ausgeartet, beteten nicht die vorgeschriebenen Formeln, beobachteten manche Speisegesetze nicht, scheuten nicht den Genuß von Heidenwein, arbeiteten am zweiten Feiertage, schrieben nicht Ehekontrakte nach talmudischer Vorschrift. Sie wollen nun von ihrer Ketzerei lassen, dürfen sie ohne weiteres in den Gemeindeverband aufgenommen werden oder nicht? Diese Anfrage und ihre gutachtliche Antwort stehen mit noch drei anderen zusammen in der Responsensammlung (Schaare Zedek p. 24a, b, Nr. 7, 8, 9, 10) und haben die Überschrift Natronaï, an den sie gerichtet waren: העטמ ליבשב םתלאששו יאנרטנ 'ר ינב וירחא ועטו חישמ ינא רמוא היהו ומש עירשו וניתולגב דמעש הפרטה תא ןיאור ןניאו הלפת ןיללפתמ םניא תונימל ואציו םדא ינש בוט םויב הכאלמ ןישועו ךסנ ןיי םושמ םניי ןירמשמ ןניאו םריב שיש ולא ןוגכ ל"ז ונימכח ןוקיתכ תובותכ ןיבתוכ ןניאו אל וא הליבט ןיכירצ ןירזוח ןהשכ הברה תונימ. Ehe wir den Inhalt dieser Sektiererei feststellen, wollen wir den Namen des Pseudomessias und sein Zeitalter ermitteln. Dasselbe Responsum ist in Mose Tranis (1525-80) Gutachtensammlung (ט"יבמ 'ת T. I, Nr. 19) aufgenommen. Dort lautet der Name des Pseudomessias ומש ינירשו. Wir werden aus den externen Quellen sehen, daß diese Lesart richtig ist Das Zeitalter läßt sich aus diesem Responsum nicht entscheiden, da es zwei Gaonen Natronaï gegeben hat: Natronaï ben Nehemia von Pumbaditq, dessen Funktion begann 1030 Sel. = 719, und Natronaï ben Hilaï, der 10 Jahre fungierte (und zwar nach meiner Ermittelung) von 1170 bis 1180 Sel. = 859-69. Bei dieser Ungewißheit kommen uns externe Quellen, welche von einem Pseudomessias in den zwanziger Jahren des achten Jahrhunderts sprechen und zum Teil auch seinen Namen nennen, sehr zu statten.

[457] 1. Die älteste Quelle, welche darüber berichtet, ist zugleich die ausführlichste und authentische, weil sie von einem Zeitgenossen herrührt. Isidor Pacensis schrieb seine Chronik um 750, seine Zeitangabe und andere Umstände haben daher volle Glaubwürdigkeit. Er erzählt: In der Zeit des arabischen Statthalters Anbisa sind die Juden Spaniens von einem Pseudomessias, Namens Serenus, verführt worden. Sie ließen ihre Güter in Spanien in Stich, um sich zu ihm zu begeben. Der Statthalter Anbisa ließ hierauf ihre Güter für den Fiskus einziehen. Die Stelle lautet im Original: Hujus tempore (in aera Martyrum 759, anno Leonis secundo, Arabum 103) Judaei tentati sunt, sicut jam in Theodosii minoris fuerant, a quodam Judaeo sunt seducti, qui et per antiphrasin nomen Serenus accipiens, nubilio errore eos invasit, Messiamque se praedicans, illos ad terram repromissionis volari enuntiat, atque omnia quae possidebant ut amitterent imperat. Quo facto inanes et vacui remanserunt. Sed ubi hoc ad Ambizam pervenit, omnia quae amiserant, fisco adsociat. ... Serenum ad se convocat virum, si Messias esse, quae dei facere cogitaret. (Chronicon Isidori Pacensis in Florez, España sagrada. T. VIII, p. 298.) Florez bemerkt, er habe diese Stelle aus einem seltenen Kodex kopiert. (Der letzte Satz, der unverständlich ist, setzt eine Lücke voraus. Denn nicht Anbisa, sondern ein Kalife hat den Pseudomessias vor sich geladen.) Aus Isidors Nachricht erfahren wir die Zeit und den Namen dieses Pseudomessias genau. Zwar herrscht unter den dreifachen Datumsangaben einige Differenz. Das Jahr 759 der Ära entspricht dem Jahre 721, indem man davon 38 Jahre abziehen muß. Das Jahr 103 der Heǵira entspricht dem Jahre 721-22, aber das zweite Jahr Leons ist das Jahr 719, indem er 717 zu regieren anfing. Indessen kann sich Isidor in den Regierungsjahren der Kaiser geirrt haben. Jedenfalls ist dieser Pseudomessias während der Funktionszeit Natronaïs I. ausgetreten. Der Name lautet bei Isidor ganz unzweideutig Serenus, weil er einen schlechten Witz macht mit der Bedeutung des lateinischen Wortes Serenus »heiterer Himmel« und per antiphrasin nubilio errore »finsterer Irrtum«. Serenus ist aber das Hebräisch geschriebene ינירש mit lateinischer Endung.

2. Dasselbe berichtet Conde (in seiner historia de la dominacion de los Arabos en España, T. I, p. 39) aus einer arabischen Quelle. Dieser Bericht fügt neue Umstände hinzu. Die Juden Spaniens empörten sich, weil ihnen eine Nachricht zukam, daß in Syrien ein Betrüger Zonoria auftrat, welcher sich Messias nannte, und ihnen was sie wünschten versprach. Sämttiche Juden Spaniens und Galliens reisten nach Syrien ab und verließen ihre Güter. Der Emir Ambiza zog dieselben ein. En este tiempo (723) los Judios que habia en España ... se alborotaron porque les vino nueva que en Siria se habia aparecido un cierto Zonoria impostor, que se decia ser su Messiah y rey prometido que ellos esperan. Y todos los Judios en España y Galia partieron a Siria abandonando sus bienes. El amir Ambiza aplicò todos sus bienes, casas y posesiones al estado. In dem Namen Zonoria erkennt man Serenus und ינירש wieder, nur ist er entweder durch die Aussprache der Araber oder arabischer Kopisten verstümmelt. Wir erfahren aus Conde, daß der Pseudomessias in Syrien auftrat. Das Datum differiert von Isidors Angabe nur um zwei Jahre.

[458] 3. Barhebräus erwähnt ebenfalls das Auftreten dieses Pseudomessias und gibt Zeit und Namen an. Im Jahre 1031 Sel. sagte ein Syrer, der Saüra hieß, von sich aus, er sei der Messias, und als er von dem Herrscher gefangen worden war, sagte er: ich habe mich über die Juden lustig gemacht: "אלו אפלא) אנבז אוהבו אחישמ יוהד אשפנ לע רמא ארואס המשד איירוס שנא (אינויל תידטצא אידויבד רמא אטילש ןמ דחתתא דכו (Chronicon Syriacum, ed. Kirsch. ed. Bruns, p. 123). Das Jahr ist hier 720 angegeben. ארואס hat allerdings mehr Klangähnlichkeit mit Zonoria als mit Serenus, aber der Zeitgenosse Isidor ist dafür ein kompetenterer Zeuge. Keineswegs darf man aber daraus Severus machen, wie es die Übersetzer der Barhebräischen Chronik getan haben.

4. Auch die byzantinischen Annalisten erzählen von einem Pseudomessias aus dieser Zeit, geben ihn ebenfalls als Syrer aus, nur verschweigen sie seinen Namen. Hauptquelle ist Teophanes. Er berichtet in seinem Chronicon: In diesem Jahre erschien ein Syrer als falscher Messias und verführte die Hebräer, sagend, er sei Christus: τούτῳ τῷ ἔτει ἀνεφάνƞ τις Σύρος ψευδόχριστος, καὶ ἐπλάνƞσε τοὺς Ἑβραίους λέγων, ἑαυτὸν εἶναι τὸν Χριστόν κτλ. (Chronographia, ed. Bonn, I, 617). Die genaue Angabe des Jahres fehlt bekanntlich in unseren Ausgaben des Teophanes; ein Übersetzer hat sie indessen erhalten, nämlich im fünften Jahre des Kaisers Leon = 721-22: Anno imperii Leonis quinto apparuit quidam Syrius pseudochristus et seducit Hebraeos. Ebenso hat es Cedrenus (Historiarum compendium, ed. Bonn, I, 793): τῷ δὲ έ ἔτει (Λέοντος) ἐφάνƞ τις Σύρος ψευδόχριστος, καὶ ἐπλάνƞσε τοὺς Ἑβραίους κτλ.

Die externen Quellen geben also vollen Aufschluß über diesen Pseudomessias. Er hieß Serenus (Isidor Pacensis) und war aus Syrien (arabische Quelle bei Conde, Barhebräus und Byzantiner). Das Datum schwankt zwischen 720 und 723. Es ist also kein Zweifel, daß er identisch ist mit ינירש im gaonäischen Responsum, und daß der Gaon, an den die Anfrage seinetwegen gerichtet war, Natronaï I.83 war, der vom Jahr 719 an fungierte. – Die externen Quellen kannten an Serene nur die messianische oder pseudomessianische Seite, die jüdischen Zeitgenossen wußten aber mehr von ihm, daß er sich nämlich mit dem talmudischen Judentum in Widerspruch setzte und seine Anhänger zur Ketzerei verleitete.

Betrachten wir jetzt den Umfang der serenischen Ketzerei. Die Stelle, die oben mitgeteilt worden, sagt zwar nicht geradezu, daß der Pseudomessias seinen Anhängern das Abgehen von den talmudischen Vorschriften eingeschärft habe, sondern nur, daß sie es getan haben. Aber im Verlaufe erfahren wir, daß diese Ketzerei von ihm ausging. Es heißt nämlich weiter: תוירע םהל ריתח העטמ העטמ ותוא דועו. Also er selbst hat ihnen Eheverbote gestattet. Wir können daraus entnehmen, daß die übrigen Punkte ebenfalls von Serene eingeführt wurden. Diese Punkte, über welche sich Serenes Ketzerei erstreckte, sind sämtlich talmudischer Natur, wie aus einer anderen Notiz hervorgeht. Natronaï wurde [459] nämlich von einer andern Seite angefragt über Ketzer, welche sich über biblische Vorschriften hinweggesetzt hatten, und er erwiderte darauf, daß ihm vorher eine Anfrage zugegangen war in betreff solcher, die bloß talmudische Vorschriften verwarfen. Dabei rekapituliert er die oben zitierte Anfrage kurz: ונינפל תולאש ואצי ולא תולאש ינפלש ןיעדוי ווה שיש :הב שרופמו וזל המודש הלאש ןהב בותכו םשמ ואבש ירברב ורקפו תונימלו הער תוברתל ואציש םדא ינב ונמוקמב ןהמ שי וישכעו לארשיכ ןיטיגו תובותכ ןיבתוכ ןיאו םימכח 'וכו ןהב רוזחל ןישקבמש (das. Nr. 4). Demnach haben sich Serene und seine Anhänger nur über Talmudisches hinweggesetzt. Näher werden folgende Punkte angegeben:

1. הפרטה תא ןיאור ןניא.

2. הלפת ןיללפתמ םניא, bedeutet nicht, daß sie überhaupt nicht beteten, sondern daß sie die vom Talmud und dem Brauche eingeführten Gebetformeln nicht für verpflichtend hielten.

3. ךסנ ןיי םושמ םניי ןירמשמ םניא bedeutet, daß sie ihren Wein von Nichtjuden berühren ließen.

4. ינש בוט םויב הכאלמ םישוע, der zweite Feiertag ist nur talmudisch.

5. תובותכ ןיבתוכ ןיא, oder wie es in der Parallelstelle heißt: לארשיכ ןיטיגו תובותכ ןיבתוכ ןיאו, ist auch nur eine Opposition gegen die talmudische Vorschrift, nämlich schriftliche Ehepakten auszustellen und Scheidebriefe zu schreiben mit allen Formalitäten, die der Talmud einschärft.

6. תוירע םהל ריתה, kann ebenfalls nur talmudischer Natur gewesen sein, Ehen mit entfernten Verwandten auf- und absteigender Linie: םירפוס ירבדמ תוינש. Alle diese Punkte, Speise- und Ehegesetze, zweiter Feiertag und Gebetweise greifen tief ins Leben ein, darum sind sie in der Anfrage namhaft gemacht. Serene mag aber noch andere talmudische Bestimmungen verworfen haben. Mit Recht kann man daher den Pseudomessias Serene den ersten Reformator nennen.

Übrigens geht aus einer andern Anfrage an Natronaï (das. Nr. 7) hervor, daß die Serener nicht die einzigen waren, welche talmudische Vorschriften verwarfen. Diese betraf nämlich solche, welche sich über die biblischen Vorschriften hinwegsetzten, weder Sabbat, noch Verbot von Blut und Unschlitt beobachteten. Dabei wird die Bemerkung gemacht, daß diese Ketzer von anderen bekannten sonderbar abweichen. Denn die meisten Ketzer verwarfen nur Talmudisches, hielten aber an Thora und Schrift fest, diese aber sprechen der Bibel Hohn: ןינימ ןתואש וניאר ךכ םימכח ירבדב ןירקופ ןינימ לכש םלועבש םינימ לכמ ןה ןינושמ לבא םירפוס ירבדמ תוינש ןנברדמ ינש בוט םוי ןוגכו תופרט ןוגכ וללה .לארשי רקיעכ ןירמשמו ןיקיזחמ ארקמו הרות ירבדב םירזממ ודילוהו תוירע ואשנו הרות רקיעב ורקפ םתשרפש תותבש וללחו. Es war demnach R' Natronaï bekannt, daß es hier und da Juden gab, die sich praktisch über den Talmud hinweggesetzt haben. Er spricht davon wie von einer täglichen Erscheinung. Also 40 Jahre vor Anans Auftreten hatte schon eine antitalmudische Bewegung stattgefunden. An einen Zusammenhang derselben mit den Sadduzäern ist durchaus nicht zu denken. Wir kommen jetzt zu einem andern pseudomessianischen Antitalmudisten.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1909, Band 5, S. 457-461.
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